Krise und Zukunft des Sozialstaates

Rezension zu Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates.VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 2005, 318 S. (24,90 EUR)

Kaum ein Tag vergeht, an dem die meinungsbildenden Medien des Landes nicht mit Erklärungsmustern für die Krise des Sozialstaates und die Notwendigkeit seines Umbaus aufwarten. Der von einer wirkungsmächtigen Koalition neoliberaler Wissenschaftler und Kommentatoren formulierten Kritik am Wohlfahrtsstaat setzt Christoph Butterwegge, Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln, in seinem neuen Buch bedenkenswerte Alternativen entgegen. Die Forderung, dass soziale Gerechtigkeit als "Topos des politischen Denkens" (S. 249) erhalten bleiben muss, bildet den roten Faden bei seiner Darstellung konkreter Lösungsvorschläge.

Fakten- und facettenreich schlägt der Autor den Bogen von der im Kaiserreich unter Otto von Bismarck entwickelten Architektur der sozialen Sicherungssysteme zum als "Reform" deklarierten Abbau des Sozialstaates unter der Ägide von Rot-Grün. Seiner Auffassung nach kommt die partielle Refeudalisierung der Arbeits-, Lebens- und Sozialbeziehungen" einem "Rückfall in die Prämoderne" (S. 21) gleich. Eine zentrale These des Buches lautet denn auch, "dass der Sozialstaat seit Mitte der 1970er Jahre restrukturiert und demontiert wird, obwohl er weder Verursacher der damaligen Weltwirtschafts- und der im Grunde bis heute andauernden Beschäftigungskrise war, noch aus seinem Um- bzw. Abbau irgendein Nutzen für die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklung des Landes erwächst" (S. 9).

Unter Rückgriff auf Überlegungen zur Konzeption des Sozialstaates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden schwerpunktmäßig die in der politischen Linken diskutierten Reformalternativen benannt. Gleichwohl weiß der Autor um die Tatsache, dass jene, die sich gegen die Preisgabe sozial- und ordnungspolitischer Errungenschaften stellen, fortwährend mit dem Vorwurf konfrontiert werden, einer antiquierten politischen Agenda nachzuhängen. In diesem Zusammenhang gelingt ihm die lebendig formulierte Reartikulation eines Gedankens, den schon Pierre Bourdieu mit Nachdruck verfolgte. Dieser legte in seinem 1998 erschienenen Beitrag "Der Mythos ›Globalisierung‹ und der europäische Sozialstaat" eindrucksvoll dar, wie die Zurückdrängung der "sichtbaren Hand" des Staates im Gewand der Modernität erscheinen und schließlich eine gewachsene Akzeptanz neo-liberaler Dogmatik begründen konnte: "Diese konservative Revolution neuen Typs nimmt den Fortschritt, die Vernunft, die Wissenschaft für sich in Anspruch, um eine Restauration zu rechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken als archaisch erscheinen lässt."

Ausführlich widmet sich Butterwegge den Politikfeldern, die im Zuge der liberal-konservativen Transformation seit 1974 eine prinzipielle Abkehr von althergebrachten, bewährten Prinzipien erfuhren und nach wie vor erfahren. Dazu zählt neben der Familien- und Arbeitsmarktpolitik insbesondere das Gesundheitswesen. Letzterem schenkt er mit einer Diskussion der beiden gängigsten Reformalternativen (Kopfprämie gegenüber Bürgerversicherung) besondere Aufmerksamkeit. Auf knapp 30 Seiten macht er deutlich, dass es sich bei der Antwort auf die Frage nach der Finanzierung der Krankenversicherung um eine "gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung von historischer Tragweite" (S. 267) handelt, funktionieren gesetzliche und private Kassen doch nach grundsätzlich verschiedenen Logiken: Solidarität der Versichertengemeinschaft versus Gewinnstreben der Assekuranz.

Die mit der Einführung des "generativen Beitrags" verknüpfte Abkehr von der paritätischen Finanzierung der Pflegeversicherung - seit 1. Januar 2005 müssen kinderlose Versicherte im Alter zwischen 24 und 65 Jahren 1,1 Prozent ihres Bruttolohns in die Pflegekasse einzahlen, während der vom Arbeitgeber entrichtete Beitragssatz bei 0,85 Prozent stagniert - kennzeichnet der Armutsforscher ebenso als "(Teil-)Privatisierung der sozialen Sicherung" (S. 176) wie die Verschärfung des Sozialabbaus durch die sog. Riester-Rente. Die Abkehr vom Umlageverfahren wird nicht nur unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten als verfehlt kritisiert; unter Hinweis auf die Volatilität der internationalen Aktienmärkte betont Butterwegge zugleich die prinzipielle Krisenanfälligkeit des Kapitaldeckungsprinzips.

Die von Helmut Kohl eingeleitete "geistigmoralische Wende" und die nach dem Regierungswechsel im September 1998 ausgebliebene Kehrtwende historisch einordnend, greift Butterwegge den tagespolitischen Diskurs auf. Dabei charakterisiert er nicht nur die Sozial-, sondern auch die Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung als "modifizierte Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben" (S. 170) - unter Einbeziehung einschlägiger aktueller Literatur. Seine Lektüre ist ganz besonders denjenigen Lesern zu empfehlen, die Sozialpolitik nicht als "teuren Kostgänger der Ökonomie" (S. 25) begreifen und den von neoliberalen Eliten fortlaufend torpedierten "Versorgungsstaat" als unabdingbares Korrektiv der Marktprozesse erhalten sehen wollen.

in: UTOPIE kreativ, H. 181 (November 2005)