Polen: Die Wahl der Verweigerung

Der Sieg der Rechten bei den Parlamentswahlen in Polen beendet vier Jahre Regierung der SLD, die zunehmend unter den Druck eines neoliberalen Fundamentalismus geraten ist.

Der Sieg der Rechten bei den Parlamentswahlen in Polen beendet vier Jahre Regierung der "Allianz der demokratischen Linken" (SLD), die zunehmend unter den Druck eines neoliberalen Fundamentalismus geraten ist: Sie hinterlässt die Liberalisierung des Arbeitsrechts, den "Hausner-Plan" [durchgreifende Privatisierung und radikale Sparpolitik], Steuersenkungen für Unternehmen, Pläne zur Einführung eines Rechts auf Aussperrung, die Unterstützung für die US-Invasion im Irak und eine Reihe von Korruptionsskandalen.

Diese Wahlen sind jedoch mehr als nur eine Veränderung an der Machtspitze des Landes. Sie zeigen das ganze Ausmaß der sozialen und politischen Krise 15 Jahre nach der Restauration des Kapitalismus. Sie zeigen das wachsende Potenzial des sozialen Protests, der in keiner Partei des etablierten Parteiensystems einen Ausdruck findet. Da sich nur 40% der Wahlberechtigten an der Wahl beteiligt haben, ließe sich behaupten, dass die wahren Wahlsieger nicht die Konservativen der PiS (Recht und Gerechtigkeit) noch die liberalen Fundamentalisten der PO (Bürgerplattform) sind, sondern jene, die nicht zur Wahl gegangen sind und die damit ihren Willen ausgedrückt haben, die falschen Alternativen abzulehnen, die ihnen die polnische politische Klasse bietet.

Der Sieg der Rechten spiegelt keineswegs das in Polen tatsächlich vorhandene Bewusstsein wider. Zweifellos sind die poststalinistischen Linken in Polen mit Pauken und Trompeten durchgefallen, und die Führung der SLD hat beträchtliche Mühe aufwenden müssen, um einen solchen Niedergang in der Unterstützung für die Partei zu erreichen. Man muss jedoch auch sehen, dass die PiS nicht gesiegt hat, weil sie ihr autoritäres rechtes Programm in den Vordergrund rückte, sondern weil sie sich im letzten Moment entschlossen hat, linke Töne anzuschlagen.

Die Brüder Kaczynski konnten den glatten und wenig konkreten Donald Tusk überbieten, weil sie sich deutlich für die Verteidigung der sozialen Rechte, gegen Steuersenkungen für die Reichsten und gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Nahrungsmittel, Medikamente und andere Artikel des Grundbedarfs aussprachen. Dabei beriefen sie sich auf christlich- demokratische Vorstellungen von sozialer Solidarität.

Die Wirksamkeit der sozialen Phrasen der PiS deutete ebenso auf die reale Stimmung in der Bevölkerung hin wie das gute Wahlergebnis der eindeutig antiliberalen Bauernpartei Samoobrona.

Die SLD hat weniger als ein Viertel ihrer Stimmen von 2001 erhalten. Das hätte die Stimmung in der Partei niederschlagen müssen. Man hätte damit rechnen können, dass die Sozialdemokraten davon und von der Perspektive, dass das Land künftig von einer konservativ-liberalen Koalition aus PiS und PO regiert wird, wenigstens beunruhigt sind. Stattdessen sah man im Fernsehen entzückte Gesichter, als die Chefs der SLD erfuhren, dass ihre Partei statt der vorhergesagten 7% fast 11% der Stimmen erhalten hatte.

Das wichtigste Faktum der Wahlen ist die Tatsache, dass sie praktisch boykottiert wurden. Der Grad der Beteiligung ist eine wichtige Quelle der Information über die vorherrschende Stimmung 25 Jahre nach der Gründung von Solidarnosc und 15 Jahre nach der Restauration des Kapitalismus. 60% der Wahlberechtigten haben nicht gewählt. Das heißt, die beiden siegreichen Parteien haben zusammen in Wirklichkeit nur eine Unterstützung von 20% (von 30 Millionen Wahlberechtigten haben 6 Millionen für sie gestimmt). Sie haben nur eine formelle, nicht eine wirkliche Legitimität erhalten.

Trugbild der Demokratie

Entgegen der Auffassung vieler Experten, die Tränen über die angebliche politische Unreife der Wähler vergießen und sich lang und breit über das verborgene Streben nach einem starken Staat auslassen, kann eine hohe Wahlenthaltung auch ein Anzeichen der Stärkung eines emanzipatorischen Potenzials sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass den 20 Millionen, die nicht zur Wahl gegangen sind, keineswegs das Interesse an Politik und Demokratie fehlt. Sie haben sehr wohl eine politische Entscheidung getroffen. Nur passt sie nicht in den engen Rahmen der politischen Szene des Landes.

Man kann sogar behaupten, die Mehrheit der Wahlberechtigten hat auf ihre eigene Weise gewählt, indem sie sich geweigert hat einem Schauspiel beizuwohnen, bei dem die Hauptakteure, die Dekoration und das Szenario langweilig, faul und kompromittiert sind. Es ist ein Protest gegen den Mangel an Demokratie, gegen die Entfremdung der politischen Klasse und gegen den neoliberalen Konsens, der in der ökonomischen Strategie alle wichtigen parlamentarischen Kräfte eint.

Wir erleben eine massive Zurückweisung des Trugbilds der formellen Freiheit, das uns die bürgerliche Demokratie bietet. Diese Freiheit ermächtigt uns nur zu Wahlen innerhalb eines Rahmens, der vom Kräfteverhältnis innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft geprägt ist. Die Wahl, die man uns lässt, ist die zwischen liberalen Verfechtern des Kapitalismus, konservativen Verfechtern des Kapitalismus und sozialistischen Verfechtern des Kapitalismus. In diesem Rahmen ist die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit das Fundament des Pluralismus, das stillschweigend akzeptiert wird. Letztlich führt dies dazu, dass die Parteien sich ähneln und das politische Spektrum immer enger wird.

Diese Tendenz ist vielleicht einfacher zu ertragen, wenn es den gesellschaftlichen Kräften gelingt, die Macht des Kapitals ernsthaft einzuschränken, wie es vor noch gar nicht so langer Zeit in Westeuropa geschehen ist. In Polen haben die neoliberale Offensive der letzten 15 Jahre und die Befriedung der Gewerkschaften und des Arbeiterwiderstands zu einer so starken gegenseitigen Durchdringung der politischen und wirtschaftlichen Eliten geführt, dass die demokratischen Institutionen den Bürgern zunehmend als eine Fassade erscheinen, hinter der sich die Diktatur des Finanzkapitals verbirgt.

Unter diesen Bedingungen haben sich die Wähler entschieden, die Fassade abzulehnen. Sie haben zum Ritual einer nur formellen, ihres sozialen Inhalts beraubten Demokratie Nein gesagt und sich für die wirkliche Freiheit entschieden. Sie haben eine Änderung der Spielregeln gefordert. Sie haben daran erinnert, was alle - außer vielleicht Donald Tusk - in Polen genau wissen: Wegen der Entfremdung der politischen Klasse, ihrer Distanz zum gesellschaftlichen Leben hängt die Entscheidung darüber, wer im nächsten Parlament sitzen wird, nicht von der sozialen Verankerung der Kandidaten ab, sondern von ihrem Zugang zu den Mitteln zur Finanzierung ihrer Wahlkampagnen, d.h. von ihren Abmachungen mit dem Kapital.

Seit Jahren klagen unabhängige Ökonomen, dass man in Polen dabei ist, das Peripherienmodell des Kapitalismus zu restaurieren; dies gehe einher mit der Wiederaufstellung ungleicher Beziehungen zwischen der polnischen Ökonomie und den Zentren des Weltkapitalismus in der EU und den USA. Die jüngsten Wahlen sind ein Anzeichen dafür, dass dieser Prozess der "Peripherisierung" auch die politische Szene kennzeichnet.

Die Wahlen haben gezeigt, dass die gesamte politische Klasse des Landes kompromittiert ist - ganz wie in den klassischen Ländern des peripheren Kapitalismus Brasilien oder Venezuela. Das Charakteristische an den politischen Systemen Lateinamerikas ist, dass die Unterschiede zwischen Konservativen und Sozialliberalen keinesfalls den korrupten Charakter des Systems in Frage stellen.

Vielleicht müssen wir auf der anderen Seite des Ozeans auch nach Anregungen für einen Ausweg aus der aktuellen Situation suchen. Ganz wie in Lateinamerika wird eine wirkliche Alternative zum herrschenden Kräfteverhältnis in Polen nur von außerhalb des aktuellen parlamentarischen Systems kommen - aus der Sphäre der sozialen Bewegungen und insbesondere der Mobilisierung und des Widerstands der Lohnabhängigen.

Der Autor ist Redakteur der linken polnischen Zeitschrift Lewa Noga (http://www.iwkip.org/lewanoga/).