Nische Grundeinkommen oder Aufhebung der Entfremdung?

Forderungen nach bedingungslosem Grundeinkommen oder Existenzgeld haben in den vergangenen 20 Jahren immer wieder die bundesdeutsche Diskussion um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft beeinflusst. Die AnhängerInnen dieser Position gehen von der Kernthese aus: Eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung ist nicht realistisch. Die unterschiedlichen Modelle von rechts bis links, von negativer Einkommensteuer bis zum sozialen Grundeinkommen, werden als Reaktion auf die aktuelle Krisensituation verstärkt gegen erwerbsarbeitszentrierte Modelle sozialer Sicherung in Position gebracht.

Die Debattenbeiträge von Kipping/Blaschke (in diesem Heft, S. 13ff.) sowie Kipping/Opielka/Ramelow[1] spitzen diese Argumentation zu. Sie wenden sich gegen "neoliberale Vollbeschäftigungskonzepte", die einer "Arbeits-Kultur-Ideologie" entsprungen seien und somit per definitionem Kipping/Blaschke keinen Beitrag zur Emanzipation aus der kapitalistischen Erwerbsarbeit leisten können. Vollbeschäftigung also gleich Neoliberalismus? Und: Kampf um den Arbeitstag gleich Kapitulation vor dem Kapitalismus?

Die aktuelle politische Situation bietet eine Chance für die Linke, ihre Konzepte in eine breitere gesellschaftliche Öffentlichkeit zu kommunizieren. Um so wichtiger ist die Verständigung über zentrale politische Modelle, die in einer Phase brüchiger Hegemonie gangbare Alternativen zum Neoliberalismus bieten.

Teile der Führung der Linkspartei.PDS - die stellvertretende Vorsitzende Kipping und Wahlkampfleiter Ramelow - wollen aus den Fängen neoliberaler wie altlinker Ideologie ausbrechen: "Die neoliberale Ideologie des Marktes verkürzt Gesellschaft auf Wirtschaft und auf den Nutzen der Wohlhabenden. Die altlinke Ideologie des Staates verkürzte Gesellschaft auf Bürokratie und auf den Nutzen der Parteieliten. Beide Ideologien waren und bleiben falsch. Sie waren und bleiben unrealistisch, weil sie die Bedürfnisse der Menschen und die komplexe Funktionsweise moderner Gesellschaften unterschätzen."

Ihre Folgerung besteht in der zentralen Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen und radikaler Arbeitszeitverkürzung. Diese Denkweise hat gegenwärtig viele Anhänger und Protagonisten. Die Liste reicht von Ulrich Beck über Daniela Dahn bis Georg Vobruba.

Wir greifen dieses aktualisierte Diskussionsangebot über Grundeinkommen auf und wollen die unterlegten Vorstellungen über die Zukunft der Arbeit kritisch hinterfragen. Unsere Gegenthesen:
Die vorliegende isolierte Forderung nach einem Grundeinkommen zielt bestenfalls darauf, eine Nische im sozialen Sicherungssystem zu schaffen.
Schlechtestenfalls lenkt sie die Linke ab von ihrer Kernaufgabe, dem Kampf um die gesellschaftliche Organisation von Arbeit, und leistet somit wider Willen einen bescheidenen Beitrag zur weiteren Hegemoniefähigkeit des Neoliberalismus.

Analyse: Ende der Lohnarbeit im Kapitalismus?

Kipping/Blaschke berufen sich auf Überlegungen, die bereits Anfang der 1980er Jahre eine Hinwendung zur kulturellen Diversität als Leitthema vollzogen - unter Preisgabe unchic gewordener Themen wie soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Verteilung. Die empirisch ausgemachte "Auflösung subjektiver Orientierungen auf Arbeit" steht jedoch im Widerspruch zur mit Dahrendorf beklagten "kulturellen Projektion von Arbeit", die die "Herren der Arbeitsgesellschaft stützt" und "seit Jahrhunderten millionenfach verinnerlicht wurde". Es kann hier nicht darum gehen, die Lohnarbeit wahlweise als marginalisiert oder Massenpsychose zu beschreiben, vielmehr muss ihre subjektive wie gesellschaftliche Bedeutung in einem sich rapide wandelnden Kapitalismus ernst genommen werden. Statt Tabuisierung also Anerkennung ihres Stellenwerts zur eigenständigen Sicherung der Existenz und des sozialen Status, zur individuellen Selbstbeschreibung und Persönlichkeitsentwicklung, zur Partizipation und sozialen Interaktion mit anderen. Auch in der angeblich "nachindustriellen wissensbasierten Gesellschaft" ist die Bedeutung der Erwerbsarbeit und der an sie geknüpften Ambivalenzen zwischen Ausbeutung, Disziplinierung und erstrebenswerter Teilhabe an der gesellschaftlich notwendigen Arbeit nicht geschwunden. Die Erwerbsarbeit ist mit Robert Castel vielmehr das Zentrum, von dem aus die Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft wie eine Druckwelle die ganze Gesellschaft erfasst.

Diese realen Herausforderungen des entfesselten Kapitalismus sowie dessen ideologische Verarbeitung als Neoliberalismus ignorieren alle VerfechterInnen des Grundeinkommens, also auch das Team Blaschke, Kipping, Opielka, Ramelow. Ihre Feststellung, die "Marxsche Bestimmung der attraktiven materiellen Arbeit" werde durch "kapitalistische Lohn-/Erwerbsarbeit in der Regel nicht erreicht", fasst nicht die Ambivalenzen einer den Marktdruck verinnerlichenden Erwerbsarbeit. Durch Forderung und Anerkennung kreativer Leistung hat die moderne betriebliche Arbeitsorganisation längst damit begonnen, das Subjekt zurück in die Produktion zu holen, wo Teile der Linken noch gegen toyotistische Windmühlen anrennen. Auch Kipping/Blaschke bieten die Sicherung der bloßen Existenz an, wo das kapitalistische Gesellschaftsmodell längst die ganze Person der Beschäftigten - ihre Emotionen und ihren Willen zu Leistung und Teilhabe - anspricht.

Demgegenüber stellen die AutorInnen die "Rückwirkung" eines Grundeinkommens auf die materielle Produktion in Aussicht, wodurch eine "Aufhebung der Entfremdung" bewirkt werden könne. Wie dies funktionieren soll, bleibt unklar.

Formulieren die Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut noch deutlich: "Wir sind uns bewusst, dass ein Existenzgeld für sich genommen weder die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung abschafft, noch Lohnarbeit in der gegenwärtigen Form angreift",[2] scheinen Kipping/Blaschke die Forderung nach einer emanzipatorischen Arbeitspolitik im Kampf zwischen Kapital und Arbeit und um Geschlechterdemokratie ganz aus dem Blick verloren zu haben. Niedriglohn, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, geschlechtsspezifische Diskriminierung in der Arbeit etc. werden durch die Ausfinanzierung der Erwerbslosigkeit, so wichtig diese als Übergangsforderung zur Existenzsicherung ist, nicht behoben.

Gleichzeitig geraten die AutorInnen durch die undifferenzierte Aufzählung der in der Bundesrepublik diskutierten Modelle bedingungslosen Grundeinkommens in gefährliche Nähe zu neoliberalen Ansätzen. Konzepte wie das Bürgergeld-Modell sind unter Wirtschaftsliberalen nicht erst seit der Zukunftskommission der Länder Bayern und Sachsen populär. Sie werden seit den 1950er Jahren immer wieder als Instrument zur effektiven neoliberalen Umgestaltung des Arbeitsmarktes ins Spiel gebracht: zur Durchsetzung von Lohnsenkungen, zur Abdrängung von Frauen in die familiare Reproduktion ("Mutterschaftslohn"), vor allem aber zum Rückzug der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung sozialer Sicherheit. Sie gelten damit zu Recht als "Modelle forcierter Ausgrenzung" und als Wegbereiter eines umfassenden Niedriglohnsektors.[3] Um es deutlich zu formulieren: Wer sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt, müsste auf zwei Grundfragen eingehen:

Erstens: Wie wirkt sich die Einführung des Grundeinkommens auf das System der entfremdeten Lohnarbeit aus? Wie können Prekarisierung, Arbeitszeitverlängerungen und Niedriglöhne dadurch dauerhaft überwunden werden?

Zweitens: Und wie ist politisch eine Absetzung gegenüber entsprechenden neoliberalen oder rechtskonservativen Politikkonzeptionen wirksam geltend zu machen?

Deutlicher als bei Kipping/Blaschke wird diese prekäre Nähe zur neoliberalen Gesellschaftskonzeption bei der Argumentation von Kipping/Opielka/Ramelow. Im Mittelpunkt steht hier die nicht weiter ausgelotete Forderung nach Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Sozialstaat.

Der Effekt einer solchen Trennung wäre eine völlige Entbindung der Arbeitgeber von den Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft. Kapitalverhältnis und Erwerbsarbeit werden dabei nicht nur von sozialer Sicherheit entkoppelt, die Höhe der Sozialkosten wird vielmehr als Hemmschuh für das Entstehen neuer Arbeitsplätze genannt. Wir bewegen uns damit inmitten der herrschenden Lohnnebenkostendebatte, wie sie SPD und CDU nicht schöner formulieren könnten. Nicht die geringe Binnennachfrage und die sie mitverschärfende Kürzung der Sozialtransfers sind das Problem, sondern die Ware Arbeitskraft ist schlicht zu teuer.

Die von den AutorInnen noch zu Beginn ihrer Argumentation angeführte Teilhabegerechtigkeit sucht man später vergebens. Dies ist auch konsequent, geht es ja nicht um die demokratische Organisation gesellschaftlicher Arbeit in sozialer Sicherheit, sondern um die bürgerschaftliche Absicherung individueller Lebensrisiken und eine "staatliche Kompensation für den Ausschluss aus der Gesellschaft".[4]

Leitbilder: Lob der Faulheit oder Zeitalter des Arbeitsvermögens?

Die vielen BefürworterInnen eines Grundeinkommens hält eine Überzeugung zusammen: Es werde in reifen kapitalistischen Gesellschaften keine Rückkehr zu einer Vollbeschäftigung alten oder neuen Typs geben. Was die etablierten Parteien als Therapie gegen Massenarbeitslosigkeit empfehlen, sei seit 20 Jahren als Quacksalberei entlarvt. Aus der Misere heraushelfen könne allein eine radikale Arbeitszeitverkürzung und ein Grundeinkommen als Individualrecht.

Die Absetzung von der altlinken Ideologie hat einen Marxschen Kern: Die Utopie der Arbeitgesellschaft bestand einmal darin, die Menschen vom Joch der Arbeit zu befreien. Marx ging es bei der Aufhebung der Entfremdung immer um ein qualitativ neues System der Arbeit, häufig wurde daraus jedoch ein Ausstieg aus der Arbeit überhaupt gemacht. Auch Blaschke und Kipping bedienen dieses alte Vorurteil:

Die zentrale These der AutorInnen: Marx habe eigentlich stets von der Befreiung von (Erwerbs-)Arbeit geträumt, also von dem, was sein Schwiegersohn Lafargue später als "Recht auf Faulheit" feierte. "Free activity, not labour", sei die eigentliche Marxsche Vision gewesen. Bei allem Verständnis für den Anschlusswillen an den Marxismus, dieses ist leider ein immer wieder aufgelegtes Missverständnis, das durch die Wiederholung nicht überzeugender wird.

Kipping/Blaschke zitieren Marx: "Time of labour, auch wenn der Tauschwert aufgehoben, bleibt die schaffende Substanz des Reichtums... Aber free time, disposable time, ist der Reichtum selbst - teils zum Genuss der Produkte, teils zur free activity, die nicht wie die labour durch den Zwang eines äußeren Zwecks bestimmt ist, der erfüllt werden muss, dessen Erfüllung Naturnotwendigkeit oder soziale Pflicht ist."[5] Und interpretieren: Der in der Arbeitszeit geschaffene materielle Reichtum ist eben nicht Selbstzweck, sondern "die disposable time [ist] das Maß des Reichtums".[6] Das heißt, die freie Zeit für Muße, Genuss und die Entwicklung der individuellen Fähigkeiten gilt als das Maß des materiellen Reichtums und der Teilhabe daran, nicht die geleistete Arbeit(szeit). Die Kritik der GrundeinkommensbefürworterInnen an ihren Kontrahenten (vgl. Sozialismus 7/8-2005): "Schindler/Möller postulieren genau das Gegenteil: Wer seine Fähigkeiten frei entwickeln will, muss sich diese Möglichkeit erst durch Teilhabe an der materiellen Reichtums-Produktion, an der dort geleisteten Lohn-/Erwerbsarbeit(szeit) unter dem Kapitalverhältnis 'verdient' haben. Das ist eine Neuauflage des Paulus-Spruches, wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Das von Schindler/Möller geforderte Recht auf Arbeit wird so zum Arbeitszwang."

Es geht hier aber nicht im Mindesten um die Legitimation von Arbeitszwang, sondern vielmehr um den inneren Zusammenhang der Dynamik des Lohnarbeitssystems und der Aneignung der frei verfügbaren Zeit: Marx argumentiert auch in den "Theorien über den Mehrwert" für die Ausweitung von disposable time/freier Zeit für die Entwicklung der Menschen. Soweit lesen wir offenkundig den gleichen Text. Aber in der zitierten Passage geht es eben auch darum, dass die gesellschaftliche Reproduktion durch Arbeit ein Reich der Naturnotwendigkeit oder der sozialen Pflicht ist und bleibt. Marx dachte gewiss nicht daran, dass über dem Reich der Freiheit das Reich der Naturnotwendigkeit vergessen werden kann. Hauptlinie der Argumentation in der Kritik der politischen Ökonomie war und ist: Wie kann der Gegensatz von Arbeitenden und Müßiggängern aufgehoben und wie kann das verbleibende, stets zu vermindernde Reich der Notwendigkeit humanisiert und zivilisiert werden? Daher seine zentrale These: "Wenn alle arbeiten müssen, der Gegensatz von Müßiggängern wegfällt - und dies wäre die Konsequenz davon, dass das Kapital aufhörte zu existieren, dann steht eben die disposable time allen zur Verfügung." Der materielle Reichtum für alle würde dadurch zwar auf das Niveau der ArbeiterInnen herabgedrückt, aber alle hätten disposable time. (MEW 26.3: 252)

Was heißt dies für den modernen Shareholder Kapitalismus, in dem große Teile der Bevölkerung von jedem Zugang zur gesellschaftlichen Arbeit ausgeschlossen sind? Unter dem Kapital gibt es eine massive Ausweitung von Eigentumstiteln, mit denen Ansprüche auf das Surplus der gesellschaftlichen Arbeit durchgesetzt werden. Mit diesen Eigentumstiteln wird daher ein Großteil der frei verfügbaren Zeit angeeignet. Ohne Zurückdrängung dieser leistungslosen Einkommen und des damit verbundenen Müßigganges kann es keine sozial gerechte Verteilung von Arbeit und der frei verfügbaren Zeit geben. Also müssen wir die EmpfängerInnen von leistungslosen Einkommen mit entsprechenden Zeitansprüchen beschränken. Das Einkommen der Müßiggänger durch Kapital- und Vermögensansprüche wird drastisch vermindert, die Arbeit verallgemeinert und die Lohnarbeit unter radikal veränderten Bedingungen auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt.

Die soziale Emanzipation bedeutet: Alle werden arbeiten, alle haben Anspruch auf disposable time. Dies steckt hinter der Formel vom Reich der Freiheit und dies ist eine andere strategische Konzeption als der Traum vom Recht auf Faulheit: "Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit", weil die Bedürfnisse durch die in Gesellschaft agierenden Subjekte verändert werden. Freiheit heißt dann: Die Naturnotwendigkeit wird mit dem geringsten Kraftaufwand und den der menschlichen Natur würdigsten Bedingungen von allen vollzogen. Jenseits davon entsteht disposable time als eigentliches Reich der Freiheit. (MEW 25: 828) Nur vor diesem Hintergrund wird die zentrale Forderung verständlich: umfassende Arbeitszeitverkürzungen sind für den Prozess der Demokratisierung und Humanisierung des Reiches der "Ökonomie" unverzichtbar. Nur wenn die BürgerInnen nicht mehr weitgehend von den Belastungen der "Lohnarbeit" absorbiert werden, sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine neue Qualität der Erwerbsarbeit gegeben. Reduktion der Arbeit, Verallgemeinerung der Arbeit, Verwissenschaftlichung und bewusste Vergesellschaftung der Arbeit gehören zusammen - dies eröffnet eine völlig neue Dimension der "frei verfügbaren Lebenszeit" für alle, mit entsprechenden positiven Rückwirkungen für das Reich der Notwendigkeit, das zwar minimiert, in der praktischen Ausgestaltung radikal verändert, aber gesellschaftlich nicht aufgehoben werden kann.

Zusammenfassend: Wir stehen vor einem Zeitalter des Arbeitsvermögens, in dem die Zukunft der Arbeit die Arbeit am Menschen ist.

Alternativen: Teilhabe statt Bürgergeld

Reduktion auf Faulheit
Blaschke, Kipping, u.a. halten sich eher an das Recht auf Faulheit, was eine spezifische, für unseren Kontext unzureichende Interpretation darstellt.

Arbeit als gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung
Sie verstehen den Hinweis auf die Erweiterung des Reiches der Naturnotwendigkeit nicht. Sie bedeutet "Entwicklung von einem sich stets erweiternden und umfassenden System von Arbeitsarten, Produktionsarten, denen ein stets erweitertes und reicheres System von Bedürfnissen entspricht". (Grundrisse, S. 313) Darin eingeschlossen ist die Entdeckung, Schöpfung und Befriedigung neuer, aus der Gesellschaft selbst hervorgehender Bedürfnisse.

Ansatzpunkt Erwerbsarbeit in sozialer Sicherheit
Wenn innerhalb der modernen kapitalistischen Gesellschaft schon ein großer Teil der gesellschaftlichen Arbeitskraft ausgegrenzt und diskriminiert wird, stehen wir vor einer doppelten Aufgabe. Diese erschöpft sich nicht in der Gewährung sozialer Transfers zur Sicherung der soziokulturellen Existenz. Vielmehr müssen auch die prekären wie die "normalen" Lohnarbeitsverhältnisse qualitativ verändert und die Verallgemeinerung einer erheblichen Arbeitszeitverkürzung für alle durchgesetzt werden.

Überwindung der Ausbeutung
Radikale Arbeitszeitverkürzung ist angesichts der enormen Produktivitätsfortschritte eine überfällige Forderung. Tatsächlich aber werden die Arbeitszeiten - in der Regel ohne Anpassung der Arbeitseinkommen - eher verlängert, während gleichzeitig Millionen Langzeitarbeitslose und längst vom Arbeitsmarkt Verdrängte mit Sozialtransfers unterhalb des sozialkulturellen Existenzminimums auskommen müssen. Hinter diesen Verteilungsstrukturen stehen Machtverhältnisse, die ungeniert die Wertschöpfung mit Verwertungsansprüchen von Eigentums- und Vermögenstiteln belasten, und die entsprechenden gesellschaftlichen Eliten weigern sich, auf die Aneignung eines Großteils des gesellschaftlichen Reichtums und der frei verfügbaren Zeit zu verzichten. Wie kommen wir aus dieser Fehlentwicklung heraus?

Kurz- und langfristige politische Maßnahmen
Arbeit auf ein zeitliches Minimum zu reduzieren, die jeweils menschenwürdigste Form anzustreben und möglichst allen die Chance sinnvoller Tätigkeit zu geben - das ist das gesellschaftliche Ziel. Qualitatives oder sozialkulturell geprägtes Wirtschaftswachstum wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Kurzfristig allerdings sollte auch eine alternative Wirtschaftspolitik nicht auf eine binnenwirtschaftliche Nachfragestabilisierung und damit auf einen höheren Wachstumspfad verzichten. Wir brauchen höhere Arbeitseinkommen, eine Ausweitung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse und eine Stabilisierung der Sozialkassen durch Einführung einer BürgerInnenversicherung - letztlich eine grundlegende Reform von Wertschöpfung und Verteilung.

Kipping/Opielka/Ramelow legen sich eine verkürzte Welt zurecht: "Sozialpolitisch führte diese ideologische Kontroverse zu einer neoliberalen Politik der 'Aktivierung', einer faktischen 'Pflicht zur Arbeit' einerseits, zur verzweifelten Forderung nach einem staatlich garantierten 'Recht auf Arbeit' andererseits." Es gibt keinen Königweg aus der gesellschaftspolitischen Sackgasse heraus.

Ein Sofortprogramm zur Verbesserung der Lebenslage von über sechs Millionen BürgerInnen, die zur Zeit mit den Regelsätzen von ALG II (331 bzw. 345 Euro) auskommen müssen, wäre auch unter den gegenwärtigen finanzpolitischen Restriktionen durchaus machbar. Würde man die Regelsätze des Arbeitslosengeldes II anheben, die Unterscheidung zwischen West und Ost aufheben und - zumindest für den Notfall - einmalige Leistungen zulassen, dann wäre das nicht nur ein klares Signal gegen die Verfestigung von Armut, sondern auch ein dringend erforderliches Konjunkturprogramm. Kombiniert mit kommunalen Investitionen und aktiver Arbeitsmarktpolitik könnte ein solches Programm durchaus eine Dimension erreichen, die volkswirtschaftlich spürbar ist. Daher fordern die Parteien der Linken (Linkspartei und WASG) gegenüber den gescheiterten neoliberalen Konzepten einen radikalen Kurswechsel. Statt die Steuern weiter zu senken und den Sozialabbau fortzusetzen, wollen sie zu einer wachstums- und arbeitsplatzschaffenden Dynamik zurückkehren. So sollen Spielräume und Zeitfenster entstehen, die dann für eine Rekonstruktion der solidarischen Sicherungssysteme und für umfassende Arbeitszeitverkürzung genutzt werden können.

Wir müssen also beide strategischen Herausforderungen aufgreifen - Besserstellung der Ausgegrenzten und Verbesserung, Erweiterung des Systems der Arbeit, bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung.

Wer freilich mit Kipping, Ramelow u.a. für ein bedingungsloses Grundeinkommen von 9.000 Euro pro Kopf und Jahr eintritt, der müsste schon zeigen, wie die rund 180 Mrd. Euro aufzubringen sind, die selbst bei Einrechnung der jetzt bezahlten Mindestsätze immer noch eine finanzpolitische Herausforderung bleiben werden. Es geht nicht nur um die Finanzierung eines so großen Anteils von vermeintlich gesellschaftlich Überflüssigen; es geht auch um die Frage, wie die Formen von Unterbezahlung und Überarbeit der Lohnarbeitenden zu beenden sind. Die Strategie für ein Grundeinkommen setzt auf einen naturwüchsigen Prozess der Rückwirkung auf alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne deren Veränderung selbst zum Thema zu machen.

Wollen die VerfechterInnen des Grundeinkommens nicht als bloße Avantgarde auftreten, müsste allererst das Alltagsbewusstsein der Menschen in ihre Konzepte integriert werden. Die Leugnung der Bedeutung der Erwerbsarbeit für die individuelle Selbstbeschreibung, das soziale Umfeld und die gesellschaftliche Stellung ist nicht nur theoretisch falsch. Sie fertigt auch den Wunsch nach aktiver Mitgestaltung und Produktivität von Frauen und Männern in der Erwerbssphäre als ideologischen Irrglauben ab, was zumindest für selbst erklärte SozialistInnen schon seltsam ist. Sie nimmt die Subjekte nicht ernst.

Die Herausforderungen für linke Konzepte liegen in der alltäglichen Gestalt des entfesselten Kapitalismus. Diese müssen benannt und analysiert sein, soll diesem Modell nicht nur eine Nische abtrotzt werden, sondern eine belastbare Form neuer Sicherheit für und durch die Masse der Bevölkerung erkämpft werden.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus. Julia Müller ist Politikwissenschaftlerin, lebt in Berlin.

[1] Katja Kipping/Michael Opielka/Bodo Ramelow, "Sind wir hier bei 'Wünsch dir Was'?" Ms. (siehe unter www.sozialismus.de)
[2] Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut (Hrsg.) (1996): Existenzgeld. 10 Positionen gegen falsche Bescheidenheit und das Schweigen der Ausgegrenzten, Frankfurt/M., S. 15.
[3] Wilhelm Adamy/Johannes Steffen (1998): Abseits des Wohlstands. Arbeitslosigkeit und neue Armut, Darmstadt, S. 124.
[4] Joachim Rock (2004): Armut im Anzug. Anerkennungen zur Notwendigkeit einer bedarfsgerechten Grundsicherung, in: Axel Gerntke/Werner Rätz/Claus Schäfer u.a.: Einkommen zum Auskommen, Hamburg, S. 26.
[5] Karl Marx: Theorien über den Mehrwert. Dritter Teil, in: MEW, Band 26.3., Berlin 1974, S. 253.
[6] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Band 42, Berlin 1983, S. 604.