"Sind wir hier bei Wünsch dir was?"

Thesen für einen neuen Sozialstaat. Sozialpolitischer Realismus statt Markt- und Staatsideologie.Thinkful wishing statt wishful thinking!

Der Linkspartei werden vor allem in der Sozialpolitik "illusorische Positionen" (Gerhard Schröder) vorgehalten. Der liberale Intellektuelle und frühere FDP-Politiker Ralf Dahrendorf meint, dass die Linkspartei der "Idylle" eines "europäischen Sozialmodells" anhängt, einer "behaglichen Welt", in der ein wohlmeinender Staat sich um die Bürger kümmere.

Trotz und wegen des Bundestagswahlkampfs und über ihn hinaus ist es höchste Zeit, diesen Verächtlichmachungen des Sozialstaats einige Thesen für einen Umbau des Sozialstaats entgegenzustellen.

Geschlagen wird die Linkspartei und "die Linke" - getroffen wird eine zivilisatorische Errungenschaft.

Massenarbeitslosigkeit und Zukunftsangst

Die Deutschen blicken pessimistisch in die Zukunft, wie alle Umfragen zeigen. Pessimismus ist freilich kein deutscher Nationalcharakter. Wir erinnern uns: Ende 1989 durchzog Optimismus ganz Deutschland. 1990 wurde Deutschland Fußballweltmeister. Ein einiges Deutschland in einem vereinten Europa war kein Traum mehr. Acht Jahre Kohl-Regierung und sieben Jahre Rot-Grün seitdem haben aus dem Traum einen Angsttraum für immer mehr Menschen werden lassen. Seit Mitte der 1990er Jahre liegt die Arbeitslosigkeit unerträglich hoch. Junge Menschen sehen ihre Zukunft verhangen. Ältere Menschen sorgen sich um die jungen und fürchten wieder Armut.

Die Massenarbeitslosigkeit ist das Krebsgeschwür der deutschen Gesellschaft. Schuld an ihr seien, so der neoliberale Mainstream der Ökonomen, die Arbeitslosen selbst. Sozialleistungen, so die durch neoliberale Think-Tanks und willfährige Journalisten verbreitete These, erzeugen erst die Massenarbeitslosigkeit, weil sie erlauben, dass man nicht jede Erwerbsarbeit zu jedem Preis annehmen müsse. Die Folge dieser empirisch und theoretisch falschen Analyse waren die "Agenda 2010", "Hartz IV" und die schwarze Wahlkampfbotschaft "Sozial ist, was Arbeit schafft." Die Folge sind zunehmende Verarmung, vor allem von Familien mit Kindern, und Hoffnungslosigkeit.

Die Entgegensetzung von wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit ist nur dem möglich, der die Gesellschaft allein in betriebswirtschaftlichen Kategorien begreift. Dagegen wurden im 20. Jahrhundert in allen Industriegesellschaften sozialstaatliche Verfassungen erkämpft.[1]

Sozialpolitik kam nicht von allein und vor allem nicht allein "von oben" zu Stande. Sozialpolitik war stets ein Kampf um soziale Demokratie, um existenzielle Freiheit und die Sicherheit derjenigen, die nicht über große Vermögen und Produktionskapital verfügen. Der Sozialstaat wurde damit zum Garanten einer zivilisierten Gesellschaft. Freiheit und Gleichheit sind in ihr kein Gegensatz.

Heute wird behauptet: Diese zivilisatorischen Errungenschaften könnten wir uns im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr leisten. Das ist falsch. Sozialpolitik ist auf jedem Niveau des wirtschaftlichen Wohlstandes einer Gesellschaft möglich. Die Kunst kluger Politik besteht darin, über den nationalstaatlichen Tellerrand hinaus zu blicken, Europa mitzudenken, internationale Standards zu erkämpfen und gleichzeitig die noch immer nationalstaatlich organisierten Steuer- und Abgabensysteme nachhaltig zu entwickeln. Kluge Sozialpolitik muss allerdings so organisiert werden, dass sie wirtschaftliche Effizienz fördert. Auch das ist möglich.

Wir formulieren dazu ein Leitbild und einige konkrete Vorschläge.

Sozialpolitischer Realismus statt Markt- und Staatsideologie

Die neoliberale Ideologie des Marktes verkürzt Gesellschaft auf Wirtschaft und auf den Nutzen der Wohlhabenden. Die altlinke Ideologie des Staates verkürzte Gesellschaft auf Bürokratie und auf den Nutzen der Parteieliten. Beide Ideologien waren und bleiben falsch. Sie waren und bleiben unrealistisch, weil sie die Bedürfnisse der Menschen und die komplexe Funktionsweise moderner Gesellschaften unterschätzen. Sozialpolitisch führte diese ideologische Kontroverse zu einer neoliberalen Politik der "Aktivierung", einer faktischen "Pflicht zur Arbeit" einerseits, zur verzweifelten Forderung nach einem staatlich garantierten "Recht auf Arbeit" andererseits.

Ein sozialpolitischer Realismus berücksichtigt demgegenüber
die Interessen der Wirtschaft an Ressourcennachhaltigkeit (Ökologie), optimaler Infrastruktur und leistungsfähigen wie motivierten Arbeitskräften,
die politischen Interessen der BürgerInnen an sozialer Sicherheit und Teilhabegerechtigkeit
und die verletzlichen gemeinschaftlichen Ressourcen, das "Sozialkapital" einer Gesellschaft: das freiwillige Engagement, die familiäre Lebenswelt und das gegenseitige Vertrauen.

Ein sozialpolitischer Realismus konkretisiert sich in
Abgaben- und Transfersystemen, die die Leistungsfähigkeit aller Beteiligten berücksichtigen und einen Anreiz zu Beschäftigung und Leistung geben, innerhalb und außerhalb des Erwerbssystems,
Sozialsystemen, die wirksam vor Armut schützen, soziale Grundrechte garantieren und damit die Menschenwürde aller BürgerInnen,
sowie in sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen, die professionell und selbsthilfefreundlich sind.

Ein realistischer Sozialstaat kann nicht "billig" sein. Ob die Sozialquote bei etwa 20% des BIP liegt (wie in den USA) oder bei fast 40% (wie in Skandinavien), ist dennoch nicht das Wichtigste.

Die Linke sah das bisher meist anders. Eine hohe Staatsquote galt ihr als Ausweis sozialer Gerechtigkeit. Marktideologen wiederum halten eine niedrige Staatsquote für ein Ziel an sich. Viel entscheidender ist jedoch, was konkret als "öffentliche Güter" gilt und wie diese finanziert werden.

Heute leben in Deutschland annähernd 40% der gesamten Bevölkerung überwiegend von sozialstaatlichen Umverteilungen. Dieser Anteil wird in den nächsten Jahrzehnten vor allem aufgrund demografischer Entwicklungen eher noch zunehmen. Umso wichtiger wird es sein, dass sich die Sozialpolitik realistisch auf das Wesentliche konzentriert.

Bürgerversicherungen und Grundeinkommen

Im Zentrum eines realistischen Umbaus des Sozialstaats steht eine große Sozialreform: Die Umstellung des noch immer berufsständisch gegliederten Systems der unter Fürst Bismarck eingeführten Arbeitnehmer-Sozialversicherungen zu einem umfassenden System von Bürgerversicherungen.

Der Rückgriff auf die Erfahrungen der DDR liegt nahe, da dort nach 1949 - auch inspiriert von den britischen Ideen des Lord Beveridge - das Bismarck-System durch Staatsbürgerversicherungen abgelöst wurde. Doch das DDR-System bevorzugte einzelne Berufsgruppen sowie die staats- und parteinahen Eliten. Politische Vorgaben, das Interesse von Staat und Partei an sich selbst, überforderten und verzerrten einen richtigen Ansatz. Mit der Wende wurde er komplett ausradiert. Das veraltete Bismarck-System der Bundesrepublik wurde über das vereinte Deutschland gestülpt, anstelle die Chance zu nutzen, für das neue Deutschland ein politikferneres, demokratisches Versicherungssystem zu entwickeln.

Statt in die Vergangenheit inspiriert uns ein Blick in den Süden, zum Nachbarn Schweiz. Dort wurde per Referendum schon 1947 eine Bürgerversicherung - die Rentenversicherung AHV - eingeführt und seitdem mehrfach weiterentwickelt, die alle Bürgerinnen und Bürger einschließt, durch eine Art Sozialsteuer auf alle Einkommen finanziert wird (derzeit 10,1%) und praktisch allen Rentnerinnen und Rentnern eine existenzsichernde Grundrente garantiert. Wir greifen diese Erfahrungen auf und bringen für Deutschland folgende Vorschläge in die Debatte ein:
Sämtliche Systeme der Einkommenssicherung werden in einer Bürgerversicherung ("Grundeinkommensversicherung") zusammengefasst: Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankengeld, Kindergeld, Elterngeld und Sozialhilfe (bzw. ALG II). Die Grundeinkommensversicherung wird durch "Sozialsteuern" auf sämtliche Einkommensarten (steuerliches Einkommen) ohne Bemessungsgrenzen finanziert (Schätzung: etwa 17-18%).
Die Grundeinkommensversicherung garantiert allen Versicherten ein existenzsicherndes Grundeinkommen (ca. 700-750 Euro im Monat) sowie eine Grundrente im Alter (ca. 800 Euro). Sie zahlt maximal das Doppelte des Grundeinkommens, bei Arbeitslosigkeit ohne zeitliche Begrenzung (nicht nur 1 Jahr wie "Hartz IV").
Es gibt keine Arbeitspflicht. Wer nicht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen möchte, erhält weiterhin das Grundeinkommen, wovon ein Teil (max. 50%) als Darlehen gezahlt würde (Gleichstellung mit "Bafög").
Sinnvollerweise wird - wie in den meisten EU-Staaten und in den USA - ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, um nichtorganisierte Arbeitnehmer vor Lohndumping zu schützen.
Der Vorschlag einer Bürgerversicherung für alle Einkommensrisiken geht über die bisherige Programmatik der Linkspartei wie von Grünen und SPD weit hinaus. Wir sind überzeugt, die Mehrheit der Bevölkerung dafür gewinnen zu können und halten breite politische Debatten und schließlich ein bundesweites Referendum für sinnvoll.

Für die Reform der Krankenversicherung halten wir das Schweizer Modell der "Kopfpauschale" - das als "soziale Gesundheitsprämie" von CDU/CSU vertreten wird - für zu kompliziert, zu teuer und sozial ungerecht. Wir lassen uns hier vom österreichischen Modell einer Bürgerversicherung inspirieren und schlagen vor:
Alle Krankenversicherungen werden als Bürgerversicherung ohne Beitragsbemessungsgrenze über eine "Sozialsteuer" (Schätzung: etwa 7-8% auf alle Einkommen) finanziert.
Statt bisher 41-42% Sozialversicherungsbeitrag werden mit Bürgerversicherungen und Grundeinkommen nur noch etwa 25% Sozialsteuern fällig - freilich ohne Beitragsbemessungsgrenze.
Im Gegenzug - und natürlich nur dann - kann der Spitzensteuersatz auf 25% reduziert werden. Höchstverdiener zahlen damit stets 50% Steuern und faktisch eine Mindeststeuer von 25%, während sie heute zu den Sozialsystemen und ihrer Umverteilung kaum beitragen. Die Mehrheit der Arbeitnehmer zahlt dramatisch weniger als heute, was den Arbeitsmarkt entlastet und die Arbeitslosigkeit spürbar senken wird. Familien und Geringverdiener werden besonders entlastet. Erwerbsarbeit und Sozialstaat werden entkoppelt. Beide Systeme der Bürgerversicherungen könnten zusätzlich noch aus dem allgemeinen Staatshaushalt und damit auch aus Verbrauchs- bzw. Umsatzsteuern (Ökosteuer, Wertschöpfungsabgaben usf.) finanziert werden (auch in der Schweiz gibt es einen Bundes- wie Kantonalzuschuss), was den Sozialsteuersatz wiederum senkt oder langfristig stabil hält.

Eine realistische Sozialpolitik umfasst natürlich noch viele weitere Elemente. Eine umfassende Bürgerversicherung mit integriertem Grundeinkommen erscheint uns jedoch als Schlüsselprojekt.

Ist das "links"? Im deutschen Koordinatensystem vor der Bundestagswahl 2005 sieht es so aus. "Sind wir hier bei 'Wünsch dir was'?" - mit diesem Spruch kann man politische Visionen killen oder das Denken schärfen. Wir plädieren trotz Wahlkampf für Letzteres.

Katja Kipping ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei.PDS und Bundestagsabgeordnete. Michael Opielka ist Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, Visiting Scholar an der University of California at Berkeley, School of Social Welfare, und Gründungsmitglied der Grünen. Bodo Ramelow ist Bundestagsabgeordneter der Linkspartei.PDS.

[1] Der Sozialstaat lebt von einer zumeist unbegriffenen Dialektik von "Verlohnarbeiterung" und "Dekommodifizierung". "Verlohnarbeiterung" heißt: Die Marktgesellschaft wurde durchgesetzt. An die Stelle agrarischer und handwerklicher Subsistenzproduktion tritt die umfassende Geldwirtschaft, an die Stelle von Selbständigkeit und Familienbetrieblichkeit tritt die Arbeitnehmerrolle und damit die Abhängigkeit von Arbeitgebern und Kapital. Die Arbeitskraft wird zur Ware ("commodity"), sie wird "kommodifiziert". "Dekommodifizierung" heißt: Durch Sozialpolitik wird die ökonomische Abhängigkeit der ArbeitnehmerInnen gelockert. Sie können "nein" sagen und sind trotzdem vor Armut geschützt.

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