Anwachsendes Unbehagen

Kaum war der Platzeck designiert, schon fingen das bürgerliche Feuilleton und Kommentarwesen an zu räsonieren. Was es denn wohl bedeuten mag, daß die beiden "großen Volksparteien" in Deutschland,

... die jetzt dieses Land gemeinsam zu regieren sich anschicken, von geborenen Ossis angeführt werden. Nach Merkel nun auch noch Platzeck. Erst die FAZ, die Berliner (bisher noch ohne Heuschrecken-Maulkorb) und all die nderen, darunter Der Spiegel mit der grandiosen Idee, Merkel und Platzeck auf der Titelseite auf ein Propagandaplakat der SED zum 1. Mai 1953 zu montieren. Ein postmoderner Scherz? Klammes Befürchten? Oder was? Nehmen wir einmal an: Die westdeutsche politische Elite wäre ratlos.

Nach dem Bürgerkrieg in den USA, der 1865 endete, war der erste Südstaatler, der Präsident wurde, Woodrow Wilson, dessen Amtszeit 1913 begann. Dazwischen lagen 48 Jahre. Insofern ist die Ost-Rochade der großen Parteien in Deutschland, fünfzehn Jahre nach der Vereinigung, etwas Bemerkenswertes. Aber macht das bereits eine historische Bedeutung aus? Gewiß, die Ochsentour durch die Orts-, Kreis- und Landesverbände der westdeutschen Parteien bis an die Spitze mußten beide nicht machen. Auch das west-übliche innerparteiliche Intrigenwesen mußten beide nicht erleiden; sie kamen anders an die Spitze. Was aber sollen sie dort? Hier der Hinweis des Spiegels: Sie kommen aus randständigen DDR-Familien, die mit der DDR nichts am Hut hatten, aber Opposition wollten sie auch nicht sein. Die "Wende" brachte sie in die Politik; Naturwissenschaftler, die politische Verantwortung wahrnehmen wollten.

Wie aber sehen Naturwissenschaftler, zumal solche aus dem Osten, Gesellschaft und Politik? Die Gesellschaft unter dem Mikroskop, wie der Tausendfüßler? Die Therapie für soziale Probleme nach einem Gleichungssystem? Da braucht es keine Skrupel, nur das Verständnis für zu lösende Gleichungen. Das fällt um so leichter, je weniger Erdung in den sozialen Netzwerken der Basis der Politik, etwa in westdeutschen Kreisverbänden, stattgefunden hat. Insofern scheint eine solche Biographie Vorzug zu sein: Der Ossi als das bessere Umgestaltungswesen; die Zusammenbruchserfahrung des Realsozialismus nicht als Hypothek des jetzigen Wandels, sondern als seine Chance. Alles das, was dem Ossi in den vergangenen fünfzehn Jahren zugemutet wurde, kann der Wessi natürlich auch aushalten, mit oder auch ohne nationales Geschwafel. Das wäre ein Vorzug für die weitere Durchführung des neoliberalen Programms in diesem unserem Lande: Der Tausendfüßler unter dem Mikroskop braucht keine Empathie.

Die Politik schien plötzlich zusammengeschnurrt auf wenige Ereignisse: Der Schröder weg, der Fischer, der Trittin - eben hatte er noch die Hühner internieren lassen - und die Künast, jetzt der Müntefering geflüchtet und der Stoiber, erst zum Papst, dann zurück nach Bayern. Herr Steinbrück verhandelt mit Ekel-Koch weiter Streichlisten: Bei 45 Prozent Mehrwertsteuer könnte die Bundeswehr auch noch Atomraketen am Hindukusch finanzieren. Herr Wulff will nicht weiter stören. Helmut Kohl interpretiert seine Akten. Hat die westdeutsche "Elite" eigentlich noch ein "Projekt" anzubieten?

Die Durchführung des neoliberalen Programms durch Schröder und seine Gehilfen hat nur zur Reduzierung der Kaufkraft und zur Auszehrung des Binnenmarktes geführt. Deutschland ist in eine langfristige Rezession gerutscht - wie zuvor Japan. Mit neoliberalen Konzepten ist dem nicht beizukommen. Die agierenden Naturwissenschaftler zweifeln aber nicht an den Grundannahmen jenes Konzepts: Wenn also viele Leute arbeitslos werden, soll der Kündigungsschutz noch weiter gelockert werden. Damit noch mehr Leute noch schneller arbeitslos werden können? Behauptet wird das Gegenteil. Lebt der Tausendfüßler unter dem Mikroskop eigentlich noch? Wenn fünf Millionen in der Arbeitslosigkeit sind, soll Hartz IV noch weiter reduziert werden. Damit die Armut noch mehr Arme in einen "Arbeitsmarkt" treibt, den es offensichtlich nicht mehr gibt? Ford, der Erfinder des "Fordismus", hatte dereinst gemeint, daß Autos keine Autos kaufen können - wenn also viele Autos verkauft werden sollen, muß man sie auch Arbeitern verkaufen wollen oder können. Die jetzigen Exportweltmeisterwirtschaftsbosse aber meinen offenbar, daß immer ärmere Autozusammenschrauber immer mehr Autos für den Weltmarkt produzieren können, ohne selbst welche zu fahren. Die Politiker aber wollen die berühmten "Lohnnebenkosten" weiter senken. Der Tausendfüßler soll sehen, wo er bleibt, nachdem er unter dem Mikroskop lag.

Der alte Sebastian Haffner hatte Ende der 1980er Jahre geschrieben, das Bemerkenswerte an der Periode Anfang 1933 sei gewesen, daß die bürgerlichen Parteien "nicht mehr mitspielen wollten, daß sie zufrieden waren, sich sozusagen ins politische Nichts zurückziehen zu dürfen". Sie verhielten sich schließlich so, "wie sich die deutschen Fürsten im November 1918 verhalten hatten". Haffner meinte den berühmten Satz des Sächsischen: Dann macht doch Euern Dreck alleene! Das wären jetzt Münte, Stoiber und all die anderen. Bevor der nächste "Führer" kommt, nun also die Ossis; nicht der allgemeine Ossi oder der Linkspartei-
Wähler, sondern der christlich-kritische Oppositions-Ossi, der die Opposition entdeckt hatte, als der Umbruch bereits lief.

Merkel-Platzeck als das "letzte Gefecht" des Neoliberalismus auf dem Rücken des Tausendfüßlers unter dem Mikroskop? Der Hartz-IV-Empfänger heißt Thomas Meier und lebt in Prenzlauer Berg. Es entwickelt sich. Weiter und weiter. Und das Unbehagen wächst: "Die können auch nichts." Vielleicht war das der Punkt, der Münte und Stoiber bewog zu flüchten: Denn das wollten sie nun wirklich nicht eingestehen.

in: Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 21. November 2005, Heft 24