Nobels Friedenspreis für Bertha von Suttner Das Aktuelle in der Geschichte

Text war in gekürzter Form ein Vortrag auf der Internationalen Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum 100. Jahrestag der Verleihung des Nobel-Friedenspreises an Bertha von Suttner, Prag, 9.9.2005

Im Herbst 1875 reiste eine junge Frau von Wien nach Paris, um sich als "sprachenkundige Sekretärin" zu verdingen. Sie folgte der Zeitungsannonce eines "älteren Herrn", der ihr nach wenigen Tagen anvertraute, eine ungeheure Absicht zu hegen: "Ich möchte einen Stoff, eine Maschine schaffen können, von so fürchterlicher, massenhaft verheerender Wirkung, dass dadurch Kriege überhaupt unmöglich würden!"1

Schrecklicher war die Idee des Weltfriedens zuvor nie gedacht worden. Hier keimte das Projekt, den Krieg durch die ihm eigene zerstörerische Logik, die bewusste Überspannung seiner Vernichtungsgewalt, ad absurdum zu führen. Es war ein Plan, der sowohl von einem hochsinnigen "Doktor Faust" als auch von einem zynischen "Mephistopheles" verfolgt sein konnte. "[...] An dem Tag, da zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde werden vernichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurückschaudern und ihre Truppen verabschieden."2

Dieser Welt-Friedens-Täter, der den schlechthin verheerenden Bannstrahl erzeugen wollte, um die Staaten zum Frieden zu zwingen, war Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits. Die junge Frau: Gräfin Kinsky, alias Bertha von Suttner.

I

Wer solche Ideen erinnert, muss nach dem politischen Hintergrund, der Konfliktlage Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fragen. Die Entstehung und die Entwicklung bürgerlicher Nationalstaaten gebar Rivalitäten, die sich in militärischen Auseinandersetzungen entluden. Seit dem Anfang des Krimkriegs, der Russland (das letzte Bollwerk des Feudalsystems) aus der Arena der führenden Großmächte warf, wurde die europäische Staatenwelt bereits fünfmal durch Regionalkriege mit schweren Blutopfern erschüttert: 1853/56, 1859, 1864, 1866, 1870/71. Der deutsch-französische Krieg, bei dem auf beiden Frontseiten mit Dynamit gekämpft wurde, brachte sogar eine besondere Zäsur der staatenpolitischen Verwicklungen hervor: Denn Bismarcks provokatorische Reichsgründung im Spiegelsaal zu Versailles und der darauf folgende Raubfrieden (1871) überspitzten den deutschen Triumph gegen die französische Nation. Die Annexion Elsass-Lothringens und die Kriegskontribution von fünf Milliarden verursachten den Antagonismus zwischen Frankreich und Deutschland: ein Menetekel des Kriegs aller bisherigen Kriege - eines europäischen Gesamtkonflikts, der (wie wir Heutigen wissen) am Ende zum Weltkrieg entartete.

Mit wachsender Sorge beobachteten Zeitgenossen, wie infolge des Siegeszuges der industriellen Revolution auch eine verhängnisvolle, noch heute andauernde Entwicklung begonnen hatte: die permanente Revolution der Waffentechnik und das darauf sich gründende Wettrüsten aller Großmächte. Der Rüstungswettlauf trieb riesige Armeen hervor, bestückt mit präzis funktionierenden Infanteriewaffen und weitreichender Artillerie, Magazingewehren und Sprenggranaten, Festungssystemen und Panzerschiffen. Und schon wurde die Konkurrenz verschärft von Erfindern, Industriellen, Militärtechnikern, die mit Torpedos gerüstete Unterwasserboote und Bomben werfende Flugmaschinen projektierten. Viele Jahrzehnte nach den Napoleonischen Kriegen war die fatale Alternativfrage "Krieg oder Frieden?" zum dauernden Alpdruck all derer geworden, die eine Menschenwelt der Gerechtigkeit, der Solidarität, des Völkerfriedens wünschten.

II

1889, etliche Jahre nach Suttners Begegnung mit Nobel in Paris, wurde ebendort der 100. Jahrestag der Großen Revolution der Franzosen begangen. Die bürgerliche Klasse, die seit Beginn ihrer Herrschaft viele Volksproteste und Arbeiterunruhen niedergeschlagen, die wiederholt Staaten und Völker mit Krieg überzogen hatte, trumpfte diesmal als Gastgeber auf. Sie lud zur größten Industriemesse und Weltausstellung. Auf eben dem Marsfeld, wo die republikanischen Bittsteller von 1791 zusammengeschossen, wo die Blusenmänner des Juniaufstands von 1848 exekutiert und verscharrt worden waren, demonstrierte die Bourgeoisie der Dritten Republik ihre Macht nunmehr auf andere Weise: Dort ragte ein dreihundert Meter hoher, auf vier eisernen Stelzen balancierender Riese, den Ingenieur Alexandre Eiffel und seine proletarischen Helfer errichtet hatten. Selbst nach Jahrzehnten noch höchstes Bauwerk der Erde, war der gigantische Eiffelturm ein "Arc de Triomphe" des Eisenbauund Maschinenzeitalters.

Tief unten, in seinem Schatten, nutzten die Vertreter auch anderer Länder das französische Centenarium. Sie hatten neueste Erfindungen und Fabrikate an das linke Ufer der Seine gebracht, um in glänzenden Exponaten ihre Modernität und Konkurrenzfähigkeit zur Schau zu stellen. Dies alles bezeugte die stürmische Entwicklung von industrieller Baukunst und Fabrikproduktion, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Wissenschaften und Technologie. Aber die Atmosphäre war trügerisch. Hinter den Festreden, Preisverleihungen und Champagnergüssen der betuchten Männer des Kapitals lauerten die feindlichen Konkurrenzen, die alten und immer noch aktuellen Konflikte. In die vordergründige Hochstimmung mischten sich unliebsame Warnungen. Der Eiffelturm zu Paris könnte ein zweiter Turmbau zu Babel sein.

Derart sensibilisierte Kritiker, zumal Rüstungs- und Kriegsgegner, wirkten merklich aktiv am Rande der Festivitäten. Humane Querdenker des Bürgertums, Liberale des Adels, vor allem Intellektuelle versammelten sich zum ersten Weltfriedenskongress, um die frühpazifistischen Rinnsale Europas und Nordamerikas in einem breiten Strombett zu vereinigen. Drei Wochen vor dem Gründungskongress der zweiten Arbeiter-Internationale konstituierte sich somit die moderne bürgerliche Friedensbewegung.3 Ihre hauptsächliche Forderung hieß: Vermeidung von Kriegen durch interstaatliche Schiedsverträge, so dass Konflikte zwischen den Staaten durch völkerrechtliche Schlichtung und mit Hilfe unabhängiger Gerichtshöfe befriedet würden. Logische Folge sollte ein Einhalt der Rüstungen, wenn nicht sogar Abrüstung sein. Für die Propagierung der Zentralidee wurden organisatorische Maßnahmen beschlossen: Gründung nationaler Friedensgesellschaften, Aufbau eines internationalen Koordinierungsbüros, Veranstaltung periodischer Kongresse und Verbreitung wirksamer Friedensschriften.

Es waren die menschen- und völkerrechtlichen Ideale des Jahres 1789, die von den Friedensfreunden zum Maßstab internationaler Politik erhoben wurden: "Die Brüderlichkeit zwischen den Menschen bedingt die Brüderlichkeit zwischen den Völkern." Gemäß dieser ethischen Prämisse erstrebte der Pazifismus eine den Frieden sichernde Rechtsordnung aller Staaten und Völker.

III

In die Geburtsstunde der modernen Friedensbewegung, die wirksamer Mittel bedurfte, um den Un-Geist des Militarismus und der Kriegsbereitschaft zu bekämpfen, trat unverhofft eine Unbekannte. Bertha von Suttner veröffentlichte genau im Jubiläumsjahr 1889 ein Buch, dessen Titel dem Pazifismus mit nur drei Worten den kürzesten und eindringlichsten Streitruf verlieh: "Die Waffen nieder!"4

Man bedenke: Die Dinge dieses Jahrhunderts, ob gut oder schlecht, wurden von Männern gemacht. "Männer machen Geschichte!" Jetzt aber wagte eine Frau den geistigen Aufstand gegen die ureigene Sache der Männlichkeit, das militärische Staatsdenken rivalisierender Großmächte. Ihr galt der Krieg nicht als "wichtigster Faktor der Kulturentwicklung", nicht als "Erwecker der schönsten menschlichen Tugenden", nicht als "Vater aller Dinge". Was die öffentlich herrschende Meinung als geheiligte Institution behandelte, was die Regierungen gegen pazifistische und weltbürgerliche "Vaterlandsverräter" unter Staatsschutz stellten, was die Kirchen mit Gebet und Glockenklang absegneten - eben das entlarvte diese Frau: als Völkermord, "von Staats wegen" erlaubtes und begangenes Verbrechen. Hier verblasste die Glorie der Heerführer und Schlachtengewinner, die rühmliche Erinnerung an Alexander, Cäsar und Napoleon, die Hochschätzung ihrer beflissenen Epigonen. Mit allen Mitteln der rationalen Argumentation und der emotionalen Aufwiegelung appellierte diese Frau an die Zeitgenossen, ihre Regierungen und Parlamente in die Pflicht zu nehmen: Abrüstung und Völkerfrieden zu verlangen.

Hier war Schreiben eine Tat. Was jedoch von den politischen Agitationen der Friedensgesellschaften verschieden war: Die Verfasserin hatte kein Pamphlet, auch kein Sachbuch, sondern einen Roman geschrieben: fiktive "Lebensgeschichte" ebenfalls einer Frau, die die meisten der genannten Militärkonflikte erfahren und erleiden musste - die vier Kriege von 1859, 1864, 1866 und 1870/71. Niemals zuvor war der Militarismus in Zentraleuropa mit den Mitteln literarischer Gestaltung so scharf angegriffen worden. Über alle Widerstände hinweg sollte dieser Roman zum Bestseller der Epoche, zum Epochenbuch werden.

IV

Bertha von Suttner huldigte dem Fortschrittsglauben der Aufklärung: die Menschheitsgeschichte - eine aufsteigende Kulturentwicklung, beruhend auf den Entdeckungen der Wissenschaften und deren Nutzanwendung. Sie sah eine Ratio in der Geschichte: die Vernunft der Humanität, die sich durch Gedanke und Tat bedeutender Menschen gegen alle Hindernisse durchsetzen werde.

Jedoch dieser Fortschrittsglaube wurde verdüstert durch schlimme Erfahrungen und Einsichten. Sie erkannte, dass "alle Errungenschaften des neuen Geistes" von Barbaren der modernen Gesellschaft ausgenutzt, "alle Fortschritte der Technik sogleich für Mord- und Vertilgungszwecke" missbraucht wurden. Im Klima der Staatsrivalitäten, der Wehrhaftmachung und Verhetzung der Völker sah sie ein Militärwesen und eine Waffentechnik wuchern, die bereits alles Bisherige übertrafen - bald aber mit geradezu sinnwidriger Zerstörungskraft gegen die Menschheit entfesselt würden. Es waren nicht mehr nur regionale Kriege - es war ein Krieg des ganzen Kontinents, der am politischen Horizont heraufdrohte. Suttner beschrieb ihn in warnenden Visionen: "[...] Jedes Dorf eine Brandstätte, jede Stadt ein Trümmerhaufen, jedes Feld ein Leichenfeld und noch immer tobt der Kampf: unter den Meereswellen schießen die Torpedoboote, um mächtige Dampfer in den Grund zu ziehen, in die Wolken steigen bewaffnete und bemannte Luftschiffe einer zweiten äronautischen Truppe entgegen [...]."5 Dies werde der herandrohende "nächste", der "große", der "letzte Krieg des zivilisierten Europa" sein. Käme er aber etliche Jahre später, so werde der Missbrauch von Wissenschaft und Technik zu noch viel schlimmeren, nämlich totalen Vernichtungsmitteln führen: zu weittragenden Schnellfeuergeschützen mit "500 Schuss in der Minute", zu elektrischen Mordmaschinen, die "mit einem Schlage ein ganzes Heer vertilgen", zu "Sprengstoffpillen, die, aus Wolkenhöhen herunterregnend, in ein paar Minuten eine ganze Stadt zertrümmern".6

Es war Nobels Primärwissen und unheilvolle Prognose, woraus diese Aufklärerin eine Folgerung zog, die uns noch heute bewegt. "Jener Punkt, wo alles, was ist, aufhören muss - der Punkt der Unerträglichkeit - , von dem war die Waffenbelastung der Welt nicht mehr fern. Aller Reichtum, alle Volkskraft, alles Leben nur auf Ein Ziel - Vernichtung - hingelenkt: ein solches System muss endlich entweder die Menschheit oder sich selber vernichten."7

Infolge dieser Erkenntnis schrieb Suttner "Die Waffen nieder!", und die Wirksamkeit eben dieses Buches riss die Autorin auf Gedeih und Verderb in die Öffentlichkeit, in die Praxis der Friedensbewegung. Auf dem dritten Weltfriedenskongress in Rom (1891) sprach auf dem Kapitol, das traditionell nur Männern und den legendär altrömischen Gänsen vorbehalten war, eine Frau, die nach eigenen Worten "weiter keine Verdienste hatte, als ein aufrichtiges Buch geschrieben zu haben"8. Doch man wählte sie als Vizepräsidentin des Internationalen Friedensbüros, das in Bern die Aktivitäten vieler nationaler Organisationen abstimmte. Vom Sinn ihrer Arbeit hatte sie schon im "Epilog" ihres Romans geschrieben: Ein in Waffen starrender Frieden sei keine Wohltat - statt dessen sollte für Vereinigungen gewirkt werden, "deren Zweck es ist, [...] durch den gebieterischen Druck des Volkswillens die Regierungen zu bewegen, ihre zukünftigen Streitigkeiten einem [...] internationalen Schiedsgericht zu übermitteln und so ein für allemal anstelle der rohen Gewalt das Recht einzusetzen".9

V

Suttners Friedensarbeit traf den Zentralnerv der rüstenden Staaten und ihrer nationalistischen Ideologien, besonders in Deutschland und Österreich. "Friedensbertha!" spotteten und kritisierten Politiker, Militärs, sogar Literaten. "[...] Jener Dame Ausführungen schädigen die Volksseele, denn sie untergraben das Pflichtbewusstsein, die Vaterlandsliebe und die heldenhafte Gesinnung."10 Unter den Zurufen aber, die der Friedensstreiterin dankten und sie ermutigten: Alfred Nobel. In jeder Sprache der Welt müsse ihr Buch "Die Waffen nieder!" gelesen werden. Er wünschte, dass "der Zauber ihres Stils und die Größe ihrer Ideen sehr viel weiter tragen werden als [...] all die Werkzeuge der Hölle".11

Das war nicht wenig gesagt von einem Genie, mit dem der Sündenfall moderner Naturwissenschaft und Technologie begonnen hatte. Denn es gab einen abgründigen Riss in Nobels Leben und Schaffen. Er hatte dem Ringen des Menschen mit der Natur nützlich sein wollen: Dynamit sollte die Produktion in den Bergwerken, die Arbeiten im Straßen-, Kanal- und Eisenbahnbau erleichtern. Aber mit seiner Erfindung und zudem mit seinen eigenen Fabriken in Schweden und Krümmel bei Hamburg (1865) hatte er eine Entwicklung losgetreten, die weltweite Sprengstoffindustrien wie einen gleißenden Kometenschweif nach sich zog. Die unter Nobels Namen patentierte Dynamitproduktion stieg von 424 Tonnen im Jahre 1870 auf 66 500 Tonnen im Jahre 1896.12 In unheilvoller Geschwindigkeit verwob sich die gute Absicht, den primitiven Arbeitsbedingungen des Menschen abzuhelfen, mit der Herstellung menschenvernichtender Waffen. Nobel hatte inzwischen sogar das Ballistit (1887), ein rauchschwaches Pulver, erfunden, das bei Artilleriegefechten nur schwierig zu rekognoszieren war. Ob er es wollte oder nicht - er hatte sich selbst hineinbegeben in die Barbarei der Kriegsmittel- und Waffenproduktion, der kalkulierten Kriegsgefahren.

So beschaffen war die Welt, in der Nobel sein Genie entfaltete, seine Sprengstofffabriken produzieren ließ, seine Riesengewinne kassierte - und dennoch nicht glücklich war. In Gewissensnöten und peinlichen Selbstbefragungen tastete er nach der massenvernichtenden Materie, der ungeheuren Mord- und Friedensmaschine, die den Kriegen ein Ende gebieten sollte. Immerhin begegnete ihm das Glück eines ebenfalls schöpferischen Alter ego: Das war die Frau, die ihm 1875, noch jung und wenig welterfahren, das genannte Geständnis entlockt hatte - 1889 aber als gereifte Schriftstellerin entgegenkam. Bertha von Suttner antwortete auf Nobels Idee, den Krieg durch todbringende Abschreckung zu bannen, mit einer ganz und gar friedvollen Alternativkonzeption: Statt Frieden durch Androhung einer absolut vernichtenden Superwaffe - Frieden durch Recht!

Einig blieben sich beide in dem Ziel, den Krieg unmöglich zu machen. Nobel zahlte bedeutende Geldsummen für die Friedensarbeit. Obwohl er in Suttner die Frau verehrte, ihre leidenschaftlichen Aktivitäten guthieß, blieb er aber ein Zweifler - oder richtiger: ein engagierter Skeptiker. Er sah die Ideen des Schiedsgerichts und der Abrüstung "nur langsam vorankommen": "Meine Fabriken werden vielleicht dem Krieg noch früher ein Ende bereiten als Ihre Kongresse [...]."13 Am 7. Januar 1893 lautete sein Neujahrsgruß aus Paris: "Liebe Freundin! Möge das neue Jahr für Sie und für den edlen Feldzug, den Sie so kraftvoll gegen die Unwissenheit und menschliche Verwilderung führen, günstig sein." Dabei machte er den Vorschlag für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa. Man müsste und könnte bald zu einem solchen Ergebnis kommen, "wenn alle Staaten sich verpflichten, sich geschlossen gegen den ersten Angreifer zu wenden". "Dann werden die Kriege unmöglich werden. Und man erreichte, dass selbst der streitsüchtigste Staat sich an einen Schiedshof wenden oder sich ruhig verhalten muss. Wenn der Dreibund an Stelle von drei Staaten alle Staaten umfasste, wäre der Friede für Jahrhunderte gesichert."14

Nobel hatte also der Abschreckung durch die Gewalt der Waffen nicht abgeschworen. Dennoch trug er sich jetzt mit dem Gedanken, einen Friedenspreis zu stiften. An die Erwägung, den Preis "alle fünf Jahre" und im ganzen nur etwa "sechsmal" zu verteilen, knüpfte er eine sehr zweifelnde Vorausschau in das 20. Jahrhundert: "[...] Wenn es in dreißig Jahren nicht gelungen ist, das gegenwärtige System zu reformieren, wird man notgedrungen in die Barbarei zurückfallen."15

VI

Der organisierte Pazifismus und Suttner selbst wollten den Wandel des Staatensystems durch Reform, nicht Revolution erreichen. Es war eine zwangsläufige Logik, dass sie immerfort auf einsichtige Fürsten, Regierungen, Parlamentarier hofften, die mit Hilfe völkerrechtlicher Institutionen die Staatenbeziehungen befrieden sollten. Jedoch in Deutschland erzwang die herrschende Politik den stetig steigenden Militäretat, wodurch das weitere Wettrüsten provoziert wurde. Weil nun das halbfeudale Russland einer solchen Konkurrenz nicht gewachsen war, erließ der junge Zar Nikolaus II. ein "Friedensmanifest" (1898), das die Regierungen zu einer internationalen Konferenz rief. Suttner hegte höchste Erwartungen, betrieb in Österreich und Deutschland eine Kampagne zugunsten der Zarenbotschaft und reiste selbst nach Den Haag, um die historische Wende zur Abrüstung nicht zu versäumen. Jedoch die wochenlangen Verhandlungen von 26 Regierungsvertretern (1899) scheiterten, insbesondere durch das destruktive Auftreten der deutschen Delegation, die jeden Rüstungsstopp ablehnte. Es gab nur Vereinbarungen über die Art und Weise, wie militärische Auseinandersetzungen zu führen seien - mit diplomatischer Heuchelei "Humanisierung des Krieges" genannt. "[...] Scheiße auf die ganzen Beschlüsse und verlasse mich lieber auf mein starkes Schwert!" lautet die Randglosse Kaiser Wilhelms II. in den Haager Papieren.16 Auch die Engländer erhöhten noch während der Haager Verhandlungen ihren Militäretat und begannen sodann den Krieg gegen die Buren in Südafrika.

Mit desillusionierten Erfahrungen kehrte Suttner heim. Nicht genug, dass abermals Häme und Spott aufkamen - auch gegen sie persönlich, wie aus den zeitgenössischen Journalen zu entnehmen ist. Habsburgs aggressive Balkanexperten und die Großdeutschen nördlich der Alpen entblödeten sich nicht, in der streitbaren Humanistin die Frau herabzuwürdigen: weil sie sich als "Friedensvettel", "Friedensfurie " - als Angehörige eines unbefugten Geschlechts - in die Politik einmische.

VII

Im neuen Jahrhundert bildeten Frankreich und Großbritannien die "Entente cordiale": die Gegenmacht zu den Mittelmächten des "Dreibundes" (1904). Die feindlichen Fronten des kommenden großen Kriegs wurden konstituiert. In dieser Situation wachsender Spannungen - Nobel war seit 1896 tot - wurde Suttner von seinem Vermächtnis eingeholt. Das skandinavische Nobel-Komitee verlieh ihr im Herbst 1905 den Friedenspreis.

Vor dem Storthing in Christiania (heute Oslo) vertrat die Preisträgerin in ihrem Vortrag am 18. April 1906 die inzwischen erweiterten Programmpunkte des zeitgenössischen Pazifismus. "1. Schiedsgerichtsverträge ". "2. Eine Friedensunion" möglichst aller Staaten, die jeden Angriff eines Staats gegen einen anderen mit gemeinsamer Kraft zurückweisen sollten (Nobels Idee). "3. Eine Internationale Institution" zur Wahrung des Rechts zwischen den Völkern. Die Quintessenz der Reformabsichten hieß kurz und knapp: "Abschaffung der Notwendigkeit, zum Kriege Zuflucht zu nehmen."17

Jedoch der kritische Blick, mit dem die Preisträgerin ihre Ideale am realen Weltzustand messen musste, bilanzierte ganz anderes als Verständigung und Frieden: Da war die Menschenschlächterei des russisch-japanischen Kriegs und in dessen Folge die Revolution von 1905, die das Zarenreich erschütterte. In den Staaten Mittel- und Westeuropas gewahrte sie Säbelgerassel, Pressehetze und Rüstungen überall: "Festungen werden gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze Strecken unterminiert,kriegstüchtige Luftschiffe probiert, mit einem Eifer, als wäre das demnächstige Losschlagen die sicherste und wichtigste Angelegenheit der Staaten." Auf der gesamten Erde wusste sie von Bränden, Raub, Bomben, Hinrichtungen, Massaker - "einer Orgie des Dämons Gewalt". Ihr Urteil über die moderne Staatenwelt war vernichtend: "Auf Verleugnung der Friedensmöglichkeit, auf Geringschätzung des Lebens, auf den Zwang zum Töten ist bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung aufgebaut! "

Diese düstere Umschau muss heute, da wir von der baldigen Explosion des politischen Weltkraters wissen, als Spiegelung am Vorabend der Katastrophe erscheinen. Es fehlt eigentlich nur der Kassandraruf, der den Untergang einiger dieser wettrüstenden, zum Krieg treibenden Staaten voraussagte. In Suttners Rede hingegen war der Gedankengang anders entwickelt. Sie sprach zuerst von den moralischen Pflichten einer gesitteten Menschheit, dann über deren Verletzungen durch eine kriegerische Staatenpolitik, schließlich aber - in einem gemischten Finale von etwas mehr Dur als Moll - über die noch immer bestehenden Chancen des Pazifismus: "die Ära des gesicherten Rechtsfriedens" herbeizuführen, "in der die Zivilisation zu ungeahnter Blüte sich entfalten" werde.

Dieses Reformstreben war perspektivisch auf einen Völkerbund oder sogar auf Vereinte Nationen gerichtet. Es wollte die Lebensinteressen der Menschheit erfüllen. Die Rednerin zählte unter den Persönlichkeiten, auf die der Pazifismus bauen könnte, nicht nur hohe Repräsentanten der bürgerlichen Demokratien Britanniens, Frankreichs und der USA, sondern auch Jean Jaurès, den Sozialistenführer und Friedenskämpfer in Paris. Sie tat dies in Anknüpfung an ihr berühmtes Buch, worin sie den tätigen, aber mitgliederschwachen Friedensgesellschaften des Bürgertums eine andere, weit größere Bewegung als möglichen Verbündeten bezeichnet hatte: "die Partei, deren Anhänger schon nach Millionen zählen, die Partei der Arbeiter, des Volkes, auf deren Programm unter den wichtigsten Forderungen der ›Völkerfrieden‹ obenansteht."18

In den folgenden Jahren gewahrte Suttner mehr und mehr die hohe Wahrscheinlichkeit des Kriegs. Viele Monate lang reiste die fast Siebzigjährige durch Mitteleuropa und die USA, um die Gefahr bewusst zu machen und den Frieden zu propagieren. Weil sie in Österreich und Deutschland immer entschiedener auftrat, war die "Friedensbertha" nun auch als "Rote Bertha" verschrien und von Redeverboten verfolgt. Als zutiefst ethischer Charakter gab sie ihr Letztes. Getreu dem Friedensstreiter Tilling, den sie in ihrem wichtigsten Buch hatte sagen lassen: "Die Hoffnung, dass ich in Person das Reifen der Zeit beschleunigen könne oder die ersehnten Früchte daran sprießen sehe - die muss ich vernünftigerweise wohl aufgeben ... Was ich beitragen kann, ist gar winzig. Aber von der Stunde an, wo ich dieses Winzige als meine Pflicht erkannt, ist es mir doch zum Größten geworden - also harre ich aus."19

Da wir am Ende sind, stellt sich die Frage: Stirbt es sich leichter, wenn man die Früchte seiner Lebensarbeit verdorren sieht, aber immer noch Hoffnungen hegt? Suttners Tagebuchnotiz vom 12. Mai 1914 lautet: "[...] Gegen den Übermilitarismus, der jetzt die Atmosphäre erfüllt, ist nicht anzukämpfen. Die einzigen - weil sie auch eine Macht sind -, auf die man hoffen kann, dass sie den Massenkrieg abwenden, sind die Sozialdemokraten."20 Kaum mehr als ein Monat verging, bis diese Hoffnungsträger in Gestalt ihrer Reichstagsabgeordneten die Kriegskredite bewilligten und zum Komplizen aller Kriegstreiber wurden. Die lange befürchtete, lang auch bekämpfte Katastrophe begann: mit Maschinenwaffen und Kampfgas, Luftkampf und U-Boot-Krieg, nie gekannten Verheerungen unter Menschen und ihrer Kultur. Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Und auch die Frau, die unter den Friedensstreitern im besten Sinne die Grande Dame gewesen - war tot. Gestorben am 21. Juni 1914. Nur eine Woche vor den Todesschüssen von Sarajewo. Sie hinterließ eine Erbschaft, die in dem dauerhaft richtigen Streitruf besteht: "Die Waffen nieder!"

Helmut Bock - Jg. 1928; Prof. em. Dr. phil. habil., Historiker, Mitglied der Leibniz-Sozietät. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Vom Elend historischer Selbstkritik, Heft 180 (Oktober 2005).

Nebenstehender Text war in gekürzter Form ein Vortrag auf der Internationalen Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum 100. Jahrestag der Verleihung des Nobel-Friedenspreises an Bertha von Suttner, Prag, 9. September 2005. Zusammen mit Sigrid Bock hat der Verf. das historisch wichtigste Werk Suttners ediert: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte, Berlin: Verlag der Nation 1990 (im Folgenden zitiert als Berliner Ausgabe, darin zus. m. Sigrid Bock: Bertha von Suttner - Arbeiten für den Frieden, S. 405-458). Weitere Publikationen des Autors zu Suttner: Pazifistische und marxistische Frühwarnungen vor dem ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1/1989, S. 35-49; Weltkrieg in Sicht. Pazifismus und Marxismus, in: Die fatale Alternative. Von Krieg und Frieden (Diskurs. Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus, Heft 12, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V.), Leipzig 2002, S. 38-55.

1 Bertha von Suttner: Lebenserinnerungen, hrsg. v. Fritz Böttger, 4. Aufl., Berlin/DDR 1972, S. 165; vgl. Dieselbe: Memoiren, hrsg. v. Lieselotte von Reinken (mit Geleitwort v. Ava Helen Pauling u. Linus Pauling), Bremen 1965, S. 92.

2 Lebenserinnerungen (Ausgabe Böttger), S. 302; Memoiren (Ausg. Reinken), S. 233.

3 Alfred H. Fried: Handbuch der Friedensbewegung. Teil I: Grundlagen, Inhalt und Ziele der Friedensbewegung, 2. Aufl., Berlin - Leipzig 1911; Teil II: Geschichte, Umfang und Organisation der Friedensbewegung, 2. Aufl., Berlin - Leipzig 1913.

4 Suttner: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte, E. PiersonÂ’s Verlag in Dresden u. Leipzig 1889.

5 Jemand (d. i. Bertha von Suttner): Das Maschinenalter. Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit, Zürich 1889, S. 277.

6 Ebenda, S. 275.

7 Ebenda, S. 274.

8 Suttner: Lebenserinnerungen, S. 255; Memoiren, S. 186.

9 Dieselbe: Die Waffen nieder!, Berliner Ausgabe, S. 391 f.

10 Felix Dahn, Verfasser des Buches "Ein Kampf um Rom" (1876), in: Die Waffen nieder! Monatsschrift zur Förderung der Friedensidee, Jg. 1896, S. 429.

11 Alfred Nobel an Suttner, Paris, 1. April 1890, zit. n. Suttner: Lebenserinnerungen, S. 219.

12 Horst Kant: Dynamit und Friedenspreise. Ambivalenz des wissenschaftlich- technischen Fortschritts, in: Krieg oder Frieden im Wandel der Geschichte. Von 1500 bis zur Gegenwart, hrsg. v. Helmut Bock u. Marianne Thoms, Berlin/DDR 1989, S. 216; Derselbe: Alfred Nobel, 2., erg. Aufl., Leipzig 1986, S. 41 ff.

13 Suttner: Lebenserinnerungen, S. 302; Memoiren, S. 233.

14 Dieselbe: Lebenserinnerungen, S. 303. "Dreibund" nannte man das damalige Staatenbündnis zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, das seiner Tendenz zufolge gegen Frankreich gerichtet war.

15 Ebenda.

16 Zit. n. Fritz Böttger: Einleitung, in: Lebenserinnerungen, S. 9.

17 Suttner: Vortrag vor dem Nobel-Comitee des Storthing zu Christiania am 18. April 1906, zit. n. Memoiren, S. 515 ff.

18 Suttner: Die Waffen nieder!, 5., bearb. Aufl., Dresden - Leipzig 1892, S. 305. Suttners Textänderungen von 1889 bis 1892 sind nachgewiesen in: Berliner Ausgabe, S. 478 ff.

19 Ebenda, S. 350.

20 Aus dem Tagebuch Bertha von Suttners - Januar bis Juni 1914, in: Lebenserinnerungen, S. 553.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 182 (Dezember 2005), S. 1073-1080

 

Inhalt:

VorSatz; Essay: KLARA LAKOMY: "Um beschreibend zu verändern" Über die Integrität von Werk und Lebenshaltung am Beispiel Anna Seghers; Pazifismus: HELMUT BOCK: Nobels Friedenspreis für Bertha von Suttner. Das Aktuelle in der Geschichte; SIGRID BOCK: Von der Kraft der Literatur. Zur Wirkung des Romans "Die Waffen nieder!" von Bertha von Suttner; Gesellschaft - Analysen & Alternativen: GUIDO BRENDGENS: Vom Verlust des öffentlichen Raums. Simulierte Öffentlichkeit in Zeiten des Neoliberalismus; MANFRED SOHN: Programmhinweise aus Fernost. Zur Neufassung des Programms der Japanischen KP; HEINZ-JÜRGEN VOSS: Queer politics zwischen kritischer Theorie und praktischer (Un)Möglichkeit; Verbrechen des Nationalsozialismus: SILVIO PERITORE: Von der Ausgrenzung bis zur Vernichtung. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma; MARIO KESSLER: Von Hippokrates zu Hitler. Medizin ohne Menschlichkeit; Konferenzen & Veranstaltungen:JOACHIM WILKE: Vernunft für die Welt; Festplatte: WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften: Christa Luft: Wendeland. Fakten und Legenden (GÜNTER KRAUSE); Carsten Pallas: Ludwig von Mises als Pionier der modernen Geld- und Konjunkturlehre (ULRICH BUSCH); Hendrik Bispinck, Jürgen Danyel, Hans Hermann Hertle, Hermann Wentker (Hrsg.): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus (STEFAN BOLLINGER); Hermann Weber, Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945 (MARTIN SCHIRDEWAN); Summaries