Raum und Zeit, einmal bewusst erlebt

in (23.12.2005)
Meine beiden Söhne, die mich im Gefängnis in Seoul oft besuchten, baten mich um eine genaue Schilderung, wie meine Zelle wirklich aussah und wie ich dort den ganzen Tag verbrachte. Wir hatten täglich nur eine Besuchszeit von zehn Minuten, in der wir alle dringenden Sachen einschließlich unserer Verteidigungsstrategien für den laufenden Prozess so schnell wie möglich besprechen mussten. Daher waren meine Antworten für meine Söhne immer ungenügend. Es war nicht einfach, ihnen, die zum ersten Mal das Heimatland ihres Vaters besuchten, das Leben in der Haftzelle so zu schildern, dass sie eine Vorstellung davon bekamen. Sicherlich hatten sie einige Szenen über das Leben der Häftlinge in Filmen gesehen, aber die Realität hinter der hohen Mauer lag jenseits ihrer Erfahrungswelt. Selbst Michel Foucault, ein großer Theoretiker über Gefängnis als "totale Institution", konnte kein Gefängnis in Frankreich besichtigen, weil dort nur Wächter und Anwälte Zutritt hatten. Erst Mitte der 1970er Jahre konnte er zum ersten Mal - fast zeitgleich mit dem Erscheinen seines Werkes Überwachen und Strafen - das Gefängnis in Attica in den USA besichtigen. Als ich genau neun Monate lang in einer winzigen, drei Quadratmeter großen Einzelhaftzelle vegetierte, dachte ich oft über Raum und Zeit nach, die ich etwa aus den Arbeiten von Erving Goffman und Michel Foucault als soziologische Themen gekannt hatte. Mein Körper befand sich plötzlich in einem winzigen Raum und wurde nach einem festen Tagesablauf gemaßregelt. Die zehnminütige Besuchszeit und die einstündigen Hofgänge außer an Sonn- und Feiertagen spendeten mir wirklich großen Trost mitten in dem schweren Los. Auch viele Briefe und Bücher, die ich täglich von den Bekannten und Unbekannten bekam, gaben mir Mut. Diese wertvollen Erinnerungsstücke, die ich nach der Entlassung nach Deutschland mitgebracht habe, füllten zwölf große Kartons voll. Ein Fotobuch aus der Stadt Kwangju war darunter, welches ein Bild von dem Gebäude enthielt, wo ich vor fast 50 Jahren die Grundschule besuchte. Kwangju selbst ist ein "heiliger Ort" für die südkoreanische Demokratie, deren Bürger im Mai 1980 gegen die Putschisten bewaffneten Widerstand leisteten. Ich versuchte, meine Gedanken und Gefühle niederzuschreiben, obwohl ich ohne Handschuhe nichts unternehmen konnte, da der eiskalte Wind durch die zerrissenen Fensterscheiben aus Plastik in die Zelle wehte. Glasscheiben waren nirgendwo zu finden, um Selbsttötungen zu verhindern. Auf das Schreiben von Memoiren verzichtete ich gleich, weil die Gefängnisleitung mir einen Stuhl mit einer kleinen, ausklappbaren Schreibplatte mit dem Argument verweigert hatte, dass mir keine Sonderbehandlung erlaubt sei. Es war buchstäblich einfach eine Qual nach so vielen Jahren in Europa, plötzlich die ganze Zeit auf dem Boden in hockender Position etwas zu schreiben. Bücher musste ich oft stehend lesen. Daher konnte ich höchstens Briefe oder die kurzen Erklärungen für den Prozess schreiben, aber keine längeren Aufsätze verfassen. Erst im Gefängnis ahnte ich den mutmaßlichen Grund dafür, warum Antonio Gramsci viele Stellen in seinen Briefen aus dem Gefängnis so knapp und kurz wie Staccati formuliert hatte. Den Freunden, die mich im Gefängnis besuchten, erzählte ich, dass ich höchstens Dichtungen, aber nicht Memoiren schreiben konnte. Ebenfalls erst in meiner Haftzelle konnte ich das Diktum Heideggers Aus der Erfahrung des Denkens verstehen, dass "das dichterische Sagen erst (uns) ... Sterblichen auf der Erde unter dem Himmel vor dem Göttlichen wohnen (lässt)". Meine Seele in einer kantigen Zelle, die nur auf den Moment ihrer Freilassung wartete, beschäftigte sich oft mit den Fragen nach Zeit und Raum. Was ist Zeit? Was ist Raum? Normalerweise stellen Physiker oder Philosophen solche Fragen in ihren wissenschaftlichen Diskursen, welche den Laien jedoch unverständlich bleiben. Zeit und Raum scheinen ohne solche komplizierte Erklärungen eher etwas Selbstverständliches zu sein. Diese Sachlage beschrieb Augustinus in Bekenntnisse einmal so: "Was also ist 'Zeit'? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht". In ähnlicher Weise konstatierte auch Michael Ende unsere Probleme mit der Zeit in seiner Erzählung Momo: "Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit." Ja, dieses Geheimnis der Zeit wurde mir klar, als meine Sorgstruktur das eigentliche Selbst in mir plötzlich aufrief. Heidegger sprach von "eigentlicher Zeitlichkeit", in der die Zeit noch "früher" als jede Subjektivität und Objektivität ist. Auch fing ich mit Meditationsübungen an, um das Sein, die Zeit, die Welt, in der ich mich befinde, in Ruhe verstehen zu lernen. Dabei las ich hauptsächlich die klassischen Texte des Buddhismus, deren Kernlehre auf die völlige Aufhebung des subjektbedingten bzw. gegenstandsorientierten Zeitbegriffes abzielt. Der große chinesische Zen-Meister Seng-Chao (384-414) fasste diese Einsicht metaphorisch so zusammen: "Demnach ist klar, dass es für die Dinge keine Beziehung über die Zeit hinaus gibt, und da diese Beziehung absolut unmöglich ist, wie sollte es da Dinge geben, die sich bewegen können? Das bedeutet, dass selbst Wirbelstürme, die die Berge entwurzeln, in Wirklichkeit ruhig sind; dass die dahinbrausenden Ströme nicht fließen; dass die im Frühling über den Seen tanzende heiße Luft sich nicht bewegt; dass Sonne und Mond, die auf ihren Bahnen dahinziehen, nicht kreisen." Ich war in der Tat im Auge eines gewaltigen Taifuns. Obwohl ich in diesem winzigen Raum saß, wirbelte die ganze südkoreanische Gesellschaft um mich herum. Es ging nicht nur um eine Auseinandersetzung um das "Nationale Sicherheitsgesetz" aus der Zeit des Kalten Krieges, sondern auch um einen gewaltigen Überlebenskampf zwischen den reaktionären Ewiggestrigen und den Progressiven in der Gesellschaft, wo das Projekt der Moderne so viele Opfer verlangt hat. Auch wollten beide Fronten in mir entweder einen kommunistischen Verführer oder einen Brückenbauer für eine friedliche Wiedervereinigung des geteilten Landes sehen. Durch die tagtägliche Meditationspraxis in der Zelle konnte ich auch die Welt des Digital-Nirwanas von Pierre Lévy verstehen, der gerade in den virtuellen Welterschließungen eine Chance für Raumauflösung sehen wollte. Die Erfahrung von fragilen Grenzen zwischen Körper und Seele, Fülle und Leere, zwischen Dingen und Dinglosigkeiten im "Cyberspace" erschien mir ähnlich der halluzinierten Erfahrung in der Meditationspraxis mit der Aufhebung unseres körperbedingten Raumes. In unserer Alltagswelt scheint normalerweise der Raum konkreter und konstanter als die Zeit zu sein. Deswegen benutzen wir Allegorien, dass Raum wie ein Behälter und Zeit wie ein Fluss oder ein fliegender Pfeil sei. Aber die Theorie des Raumes diente lange derjenigen der Zeit, dass "Nebeneinanderstellung" durch "Aufeinanderfolge" leicht ersetzt wurde, wie Henri Bergson in Denken und schöpferisches Werden behauptete. Heutzutage herrscht aber ein umgekehrtes Verhältnis zwischen beiden, so "dass es nur noch Zeit oder Geschwindigkeit oder Verlauf von Zeit gibt, aber keinen Raum mehr", wie Heiner Müller lakonisch sagte. Die Asymmetrie zugunsten der Zeit ist ein Ergebnis der industriellen Revolution, die vor allem die Entwicklung des neuen Transportwesens begleitete. Als Heinrich Heine 1848 die Eröffnung der Eisenbahnlinie in Paris miterlebte, kommentierte er: "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig." Nach dieser siegreichen ersten industriellen Revolution befinden wir uns nun in einem Zustand, wo wir dank der elektronischen Telekommunikation überall und echtzeitlich an allen wichtigen Ereignissen auf dem Globus teilhaben können. Das Zusammenschrumpfen von Raum und Zeit durch die neuen Medien ermöglichte, die Weltöffentlichkeit auf meinen Fall gleich nach meiner Verhaftung in Seoul aufmerksam zu machen. Obwohl meine Kontakte mit der Außenwelt total abgeschnitten wurden, konnte meine Familie in Seoul und Berlin schnell mit meinen KollegInnen auf der ganzen Welt in Verbindung treten, unter anderem auch mit den RedaktionskollegInnen der Peripherie. In Anspielung auf die Netzwerktheorie Manuell Castells' kann ich nur sagen, dass selbst die winzige Einzelhaftzelle 11-1 im Seouler Untersuchungsgefängnis ein "konkreter Ort" in dem "Raum der Ströme" der vernetzten Weltgesellschaft geworden ist. Das globalisierte Solidaritätsnetzwerk, worin sowohl viele prominente Intellektuelle - u.a. Jürgen Habermas, Günter Grass, Noam Chomsky, Howard Zinn, Egon Bahr, Alexander Kluge, Uwe Timm - als auch Organisationen wie AI und EKD ihre konkreten Plätze haben, war eine starke moralische Stütze für mich und meine Familie. Der Hua-yan-Jing (avatamsaka-Kanon), einer der bekanntesten Texte der buddhistischen Klassik, lehrt uns, dass selbst ein Staubkörnchen das ganze Universum repräsentiert. Die vollkommen abgekapselte Kleinhaftzelle in Seoul ist bei weitem nicht ein isolierter Ort. Sie spiegelt sich in den Spiegeln des Anderen echtzeitig wider. Nach dem oben genannten Kanon ist die höchste Stufe unserer Erkenntnis ein Zustand, in dem jedes Einzelne mit jedem Einzelnen mittels der Prinzipien (Li) oder Vernunft unverhindert korrespondieren kann. Der "Buddhist" Whitehead sagte dazu, dass die Verbundenheit (connectedness) allen Dingen jeder Art wesentlich ist. Der Gedanke dieser Verbundenheit ist die Basis für die Solidaritätsarbeiten mit den Verdammten dieser Erde in unserer globalisierten Welt. Die Herstellung eines "global constitutional system" ist sehr wünschenswert. Aber der feste Glaube an eine solche Verbundenheit ist der erste Schritt zur Herstellung der Weltzivilgesellschaft. Obgleich die Empörung über Menschenrechtsverletzungen in fernen Ecken der Welt heutzutage häufig folgenlos bleibt oder oft nur durch die zynischen und selektiven Blicke der Massenmedien im Westen begleitet wird, sollte man solche Gedanken nie aufgeben. Die kleine Haftzelle in Seoul war für mich ein Meditationsplatz, wo ich u. a. nach dem Sinn von Raum und Zeit fragte. Ich lernte, dass man vieles über sich selbst und auch über Menschen lernen kann, wenn man sich mit den Problemen von Zeit und Raum bewusst auseinandersetzt. Anschrift des Autors: Du-Yul Song duyulsong@hotmail.com

Aus PERIPHERIE 100 "100 PERIPHERIEN - Die Welt von den Rändern her denken", Münster 2005, S. 435-438

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