Im Treibhaus der Krise

"Der Funke kann die Ebene in Brand stecken, wenn vorher die Trockenheit am Werk war." Über die Ursachen der Revolte in den französischen Vorstädten.

"Der Funke kann die Ebene in Brand stecken, wenn vorher die Trockenheit am Werk war." Diese beinahe poetische Formulierung tauchte Anfang November in einem Leitartikel der linksliberalen Pariser Tageszeitung Libération auf. Es ging, natürlich, um die Ursachen der Unruhen in den Pariser Trabantenstädten, die sich auszudehnen begannen.

Den Anlass - im Sinne des Tropfens, der das Fass zum Überlaufen bringt - lieferte das tragische Ende einer jugendlichen Flucht vor der Polizei, die sich am 27.Oktober an der Stadtgrenze zwischen Clichy-sous-Bois und Livry-Gargan abspielte. Drei junge Franzosen (15, 17 & 21), deren Familien aus Mali, aus dem Maghreb und aus der Türkei kamen, hatten sich dabei in einem Transformatorenhäuschen vor einer militarisierten Sondereinheit der Polizei, versteckt. "Polizeilich unbescholten", wollten sie sich einer der unzähligen schikanösen Personalienkontrollen entziehen. Zwei von ihnen starben durch einen Starkstromschlag, einer kam mit schweren Verbrennungen davon.

Dass danach die offizielle Politik öffentlich von "Einbrechern" (Dominique de Villepin) sprach, trug zur Verschärfung der Lage bei. Doch die Ursachen dafür, dass die Empörung über den tödlichen Unfall der Jugendlichen auf derart breiter Front in "Randale" überschwappte, liegen selbstverständlich tiefer.

Geschichte der Banlieues

Die französischen Trabantenstädte bildeten in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten eine Art "Treibhaus gesellschaftlicher Krisenprozesse", das nur sehr schwer mit oberflächlich ähnlichen Wohngegenden in Deutschland verglichen werden kann. Denn die in den letzten Jahrzehnten in Frankreich praktizierte Art und Weise der Territorialisierung der "sozialen Frage" ist in dieser Form nicht auf andere Länder übertragbar.

Die französischen Banlieues sind davon geprägt, dass ein Großteil der mit "sozialen Problemen" behafteten Bevölkerungsgruppen aus den Kernstädten in die Vorstadtzonen abgedrängt werden. Das Kriterium ist dabei kein "ethnisches" oder religiöses, sondern ein soziales, sprich: finanzieller Natur. Dass vor allem Schwarze und arabischstämmige Immigranten als "typische" Vertreter der Banlieues wahrgenommen werden, ist insofern unrichtig, als auch die Angehörigen des white trash in den Trabantenstädten leben und an den alltäglichen Gewaltphänomen teilhaben.

Identitäten in der Krise

Die spezifische Problematik der französischen Vorstädte ist keineswegs neu. Die Banlieue im heutigen Sinne entstand zunächst am Ausgang des 19.Jahrhunderts rund um Paris. Der Begriff selbst ist aber bereits älter und bezeichnete im 17.Jahrhundert die "Bannmeile" - so lautet die wörtliche Bedeutung von ban-lieue -, also jene Zone rund um die größeren Städte, die ein mit Verbannung belegter Bürger oder Untertan nicht betreten durfte.

Später jedoch änderte sich die Funktion dieses Gebiets. Von Revolutionsangst gepeinigt, teilten die französische Bourgeoisie und die Staatsmacht den Raum auf: Die "gefährlichen Klassen", zu denen damals neben dem Subproletariat auch die Industriearbeiterschaft zählte, wurden in einer Siedlungszone rund um die "eigentliche" Stadt konzentriert. Auf diese Weise, so dachte man, hätte man sie besser unter Kontrolle, während man sich auf das übrige Frankreich, la France profonde, in der Tiefe des Raums als "sicheres Hinterland" stützen könne. Auf diese Weise entstanden die suburbanen Verdichtungsräume rund um Paris, Lille oder Lyon, die administrativ von den Kernstädten unterschieden wurden.

Die Pariser Banlieue ist heute fast so groß wie das Saarland, mit fast 8 Millionen Einwohnern, wobei sich historische Stadtkerne und Reihenhaussiedlungen mit Hochhaus- und Plattenbaughettos abwechseln. Ein großer Kessel, der wie ein "Versuchslabor" - riesigen Ausmaßes - für soziale Krisenphänomene und Verwerfungserscheinungen funktioniert.

Die jüngeren Generationen werden seit 30 Jahren nicht mehr durch Erwerbsarbeit und Fabrikdisziplin sozialisiert, und damit auch nicht mehr durch die vormals prägende Bindungswirkung der Klassensolidarität, sondern ihr Heranwachsen ist durch die Aussicht auf Arbeitslosigkeit geprägt. Damit einher gehen ein erhöhtes Maß an "Schulversagen" - die Jugendlichen bleiben viel länger in der Schule als früher, aber sind gleichzeitig oft demotiviert und angeödet -, Langeweile und die Auflösung kollektiver Bindungen sowie eine Verrohung im Alltag. Die Gesellschaft in vielen Trabantenstädten ist extrem atomisiert und geprägt durch die Faszination für Markenartikel und Sportklamotten, durch die Jagd nach dem "schnellen Geld", das einigen jungen Leuten durch die Parallelökonomie (vor allem Drogengeschäfte) ermöglicht wird, und durch ein immer höheres Maß von Gewalt gegen Frauen.

Den Ersatz für das frühere Bewusstsein oder Gefühl der Klassenzugehörigkeit bieten der Anschluss an Jugendbanden und zum Teil auch "Identitätsangebote" wie jene der Islamisten. Deren Echo in manchen Banlieues stellt freilich, im Gegensatz zu gelegentlich verbreiteten Interpretationen, nicht die Ursache der sozialen Krise dar. Wir haben es dabei nur mit einer von mehreren Folgeerscheinungen oder Facetten der sozialen Zerrüttungsprozesse zu tun, dem, was lediglich sichtbar obenauf schwimmt - wie die Fettaugen auf der Suppe. Ihr Anklang wird auch oftmals übertrieben dargestellt, erscheint aber umso größer, als infolge der rückläufigen Klassensolidaritäten andere gesellschaftliche und politisch-ideologische Orientierungsangebote auf kollektiver Ebene fehlen.

Territorialisierung der sozialen Frage

Erst wenn ein spektakuläres oder als besonders skandalös empfundenes Ereignis "von außen" in den besonderen Mikrokosmos der Trabantenstädte einbricht, stehen dann viele ihrer Einwohner gegen den "äußeren Feind" zusammen. Und das ist oft die Polizei.
Die Sichtweise vieler Jugendlicher in den Banlieues übernimmt dabei jedoch oft die im herrschenden Diskurs stattfindende Territorialisierung sozialer Probleme und dreht sie einfach um: Der Staat als gesellschaftliches Gewaltverhältnis wird wie ein äußerer Aggressor wahrgenommen, gegen den es dann - als Repräsentant der flagranten Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen - das eigene Territorium zu verteidigen gilt. Dabei ist natürlich in Wirklichkeit das gesellschaftliche Gewaltverhältnis in seiner Totalität den Banlieues genauso wenig äußerlich wie anderen Teilen des Staatsgebiets.

Gleichzeitig hängen sehr viele Einwohner der Trabantenstädten aktuell von den sozialen Staatsfunktionen ab. Insofern haben viele Aktionen der nach Ausdrucksformen einer Revolte suchenden Banlieuejugend auch selbstzerstörerischen Charakter, da sie eine gesellschaftlichen Bedürfnissen dienende Infrastruktur treffen. In Clichy-sous- Bois wurden in den ersten Nächten bspw. auch ein Postamt und ein Kindergarten attackiert, denn auf diesen flattert - wie auf den meisten Schülgebäuden in Frankreich - eine Trikolorefahne.

Neben Polizisten wurden vielerorts auch Feuerwehrleute auf dem Weg zu Löscharbeiten zur Zielscheibe von Angriffen. Auch sie erscheinen als Repräsentanten der Staatsautorität, was zumindest insofern nachvollziehbar ist, als die Feuerwehr im Großraum Paris aus einem Armeekorps besteht. Im Ballungsraum der Hauptstadt sind die Feuerwehrleute in der Regel Berufssoldaten.

Die gesellschaftliche Sicht auf die Banlieues lässt den Blick wie durch ein Brennglas auf die sozialen Verwerfungserscheinungen fallen. Er sorgt aber nicht für Solidarisierungstendenzen. Das verbreitete Bild ruft vielmehr dagegen in größeren Teilen der übrigen Gesellschaft Furcht und Schrecken hervor. Statt des Verlangens nach einer universalisierbaren Antwort auf die "soziale Frage" dominiert, besonders bei der die Ereignisse per TV betrachtende Bevölkerung außerhalb der Trabantenstädte, eher ein wachsendes "Sicherheitsbedürfnis": "Bitte, lieber Staat, schütze uns davor, dass diese Gefahrenzone sich ausweitet und auch uns bedroht!"

Der politische Diskurs über die Banlieue und, damit unmittelbar zusammenhängend, über das Problem der "Inneren Sicherheit" oder des inneren Feindes wirkt seit Jahren als Einfallstor für Politikangebote, denen autoritäre "Lösungen" und Forderungen nach polizeistaatlicher Krisenverwaltung zugrunde liegen. Diese Debatten bestimmten entscheidend den Wahlkampf vor dem letzten "Superwahljahr" 2002, in dem die französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfanden. Dass am Schluss, im entscheidenden Wahlgang der Präsidentschaftswahl den WählerInnen nur noch die "Alternative" zwischen dem konservativen Krisenverwalter Jacques Chirac und dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gegeben war, stellte angesichts der vorausgehenden Diskussionen und vor allem angesichts der entsprechenden suggestiven Bilder der Medien, vor allem des Fernsehens, keinen Zufall dar.

Einst bildeten die Pariser Trabantenstädte einen "roten Gürtel" um das Zentrum, dessen Rathäuser größtenteils von der Kommunistischen Partei regiert wurden. Davon sind heute nur noch Restbestände übrig. Aber für die jüngeren Generationen steht seit zwei, drei Jahrzehnten nicht länger die Fabrik im Lebensmittelpunkt. Sowohl die Fabrikdisziplin als auch die darüber vermittelte Bindung der Klassensolidarität sind weitgehend verloren gegangen. Stattdessen herrschen eine enorme Arbeitslosigkeit, ein Mangel an Zukunftsperspektiven, Langeweile vor und die Flucht in Jugendbanden, die ihre Mikroterritorien verteidigen.