Die demokratische Linke und die Religion. PDS und Religionsgemeinschaften

Die Bildung einer neuen Linkspartei wird von einer längeren und intensiven Debatte über programmatische Fragen begleitet sein. Dabei wird es auch um die politische Haltung zur Religionsfreiheit gehe

Die Bildung einer neuen - gesamtdeutschen - Linkspartei wird nach der Bundestagswahl von einer längeren und intensiven Debatte über programmatische Fragen begleitet sein. Dabei wird es nicht zuvörderst, aber doch auch um die politische Haltung zur Religionsfreiheit, zu Staat-Kirche-Fragen sowie um Bündnisprobleme mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gehen.

Die Antworten werden sich einbetten in globale und europäische Überlegungen. Sie werden dabei die Auffassung von Samuel Huntington zu berücksichtigen haben. Dieser geostrategisch denkende Politikwissenschaftler hat Mitte der 1990er Jahre mit seinen Thesen über den "Kampf der Kulturen" wesentlich zu einer Neubegründung der US-amerikanischen Außenpolitik beigetragen. Inzwischen beherrschen einige seiner kulturellen Begriffe auch die europäische und deutsche Innenpolitik, besonders seine Aufforderung zum "kulturellen Schulterschluss" des Westens, die hierzulande stark verkürzt als Debatte über die "christliche Leitkultur", allgemein und konkret um den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geführt wird. Der Schluss liegt nahe, dass dieser Diskurs ein politisch rechts dominierter ist. Er ist jedenfalls von dort initiiert worden.

Eine neuere Umfrage von "Allensbach" im Auftrag des "Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD)",1 deren Ergebnisse Mitte März 2005 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, bestätigt demgegenüber die schon bekannte Erkenntnis, dass der säkulare Humanismus in den Augen der Bevölkerung ein linkes Projekt ist. Das stimmt mit anderen empirischen Befunden überein, dass Konfessionsfreie eher links von der Mitte und Kirchenmitglieder eher rechts davon wählen.

Mit der verkündeten Absicht, eine "Linkspartei" zu gründen, ist der langjährige Brauch gerade unter den Linken selbst, den "Links"- Begriff zu relativieren, an sein Ende gekommen. "Links" ist wieder ein politisch realer und theoretisch umstrittener Raum. Meinungsforscher hatten in den letzten Jahren immer wieder festgestellt, dass die Bevölkerung ziemlich genau von sich sagen kann, ob sie mehr rechts oder eher links ist. Elisabeth Noelle sagte dazu im Jahr 2003 der FAZ: "Seit den siebziger Jahren bittet das Allensbacher Institut seine Befragten regelmäßig, den eigenen politischen Standort auf einer Links-Rechts-Skala anzugeben. Seitdem diese Frage in die Allensbacher Umfragen eingeführt wurde, wundern sich die Befragten nicht über diese Frage. Sie fragen nicht, was denn mit links und rechts gemeint sei, und die allermeisten - regelmäßig mehr als 90 Prozent - haben keine Schwierigkeiten, ihren politischen Standort anzugeben."

Sicher ist es nicht mehr so, wie das "Deutsche Wörterbuch" der Gebrüder Grimm einst festhielt, dass die "politische Linke" und "politische Rechte" auch dort sitzen, wo sie ehedem saßen - "aus dem Französischen der Restaurationszeit (die der Französischen Revolution folgte) ..., wo in den Kammern die Oppositionspartei ihre Sitze zur Linken des Präsidenten wählte" -, doch in der Regel kennt die politische Klasse ihren Sitz- oder genauer, ihren Standpunkt und platziert sich entsprechend.

So wie diese symbolische Sitzordnung allen vor Augen führt, wo und wer links ist, so scheint eine neue Mode zeigen zu wollen, in Religionsfragen sei Überparteilichkeit angezeigt, hier sei man sozusagen mittig und keineswegs links oder rechts. Diese Haltung ist durchaus verstehbar, denn wer möchte nicht auf den Tribünen der Kirchentage sitzen und bei Staatsakten gar ganz vorn und ganz nah bei den Bischöfen, gleich welche Religion man selbst hat, selbst wenn man keine hat: am Nächsten dran - am Weitesten oben und garantiert im Fernsehen.

Es hat den Anschein, dass auch die PDS das Religiöse entdeckt. So war es dem "Neuen Deutschland" eine Meldung wert, dass der neue Wahlkampfmanager Bodo Ramelow ein regelmäßiger Kirchgänger ist. Einige Aufregung gab es in der Frage, wie man zum "Kopftuch" stehen solle. Doch glätteten sich bald die Wogen, als mit der SPD für die Berliner Koalition ein Kompromiss gefunden war (die anderen Ost-Länder haben kein "Türkenproblem"). Aber eine gesamtdeutsche Linkspartei wird sich zum "Kopftuch" und vielleicht auch zum Kreuz in Amtsräumen äußern müssen.

Zum PDS-Programmparteitag 2003 gab es zum Themenkomplex "Religion" kurzfristig einige kleinere Irritationen, ob einer der Unterpunkte von Kultur, Wissenschaft und Medien "Religion" sein sollte und welchen Inhalts. Das Problem wurde als nicht so bedeutend erkannt, aber ein Passus "Religionsgemeinschaften" eingeführt, dem es vor allem darauf ankommt, linke Politik auch im Dialog "mit den (!) Religionsgemeinschaften, unter anderem auch mit internationalen Bewegungen religiöser Sozialistinnen und Sozialisten" zu entwickeln und auf die "Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen" zu verweisen. Eine genauere Bestimmung von "Religionsgemeinschaften" erfolgte nicht.

In der praktischen Politik will sich die PDS "für die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates und kommunaler Einrichtungen" einsetzen. Das Thema konfessioneller "freier" Trägerschaften etwa von Kindergärten oder Krankenhäusern wird hier nicht angesprochen. Sie "fordert die politische Gleichbehandlung religiöser und weltanschaulicher Organisationen, sucht den offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit ihren Vertreterinnen und Vertretern und betont gemeinsame Werte und Ziele, die (die) Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und die Sicherung des Friedens betreffen. Â… Die PDS erarbeitet Konzepte, die auf allen Feldern der Politik mit den realen Wertvorstellungen der Menschen unvoreingenommen umgehen."

Letzterem wird sich auch die neue Linkspartei widmen müssen. Es wird dabei nicht ausreichen zu sagen, dass Religion politisch gesehen etwas ist, wo man nicht öffentlich dagegen sein soll (auch als Atheistin oder Atheist). Das ist zwar eine plausible Position, doch Religion ist mehr als ein persönliches Glaubensbekenntnis und ein sehr schwieriges gesellschaftliches Phänomen. Bei Religion geht es, wie ein Internetlexikon definiert, um Vorstellungen von der Existenz einer Gegebenheit, die über das direkt Erfahrbare hinausreicht. Hierbei handele es sich meist um organisierten Glauben an eine oder mehrere persönliche oder auch unpersönliche Wesenheiten, z. B. Gott, Geist, Ahnen, Prinzipien und/oder an andere Realitäten (z. B. Nirvana, Jenseits).2

Über das nicht "direkt Erfahrbare" ist weiß Gott nur in Gottesstaaten oder staatssozialistischen Himmeln auf Erden politische Position verlangbar. Das hat für die Linke erledigt zu sein, was allerdings kritische Geschichtsaufarbeitung der Konzepte vom "neuen Menschen" und der linken (Anti-)Kirchenpolitik einschließt. Beim Thema Religion geht es aber nicht nur um Werteinstellungen, sondern um politisches Handeln von Großorganisationen und die eigene Haltung dazu. Hier verbietet es der politische Verstand, das Religiöse mit dem Kirchlichen zu verwechseln. Denn was ist Kirche? Sie ist Heilsgemeinschaft, Sozialstation, Gotteshaus, Steuerverband, Wirtschaftsunternehmen, Mitgliedsverein, Kultureinrichtung, Unternehmensgruppe, Baubetrieb, Interessenvereinigung ...

Poltische Haltungen zu einzelnen Feldern kirchlichen Handelns auszubilden ist um so wichtiger, als sich derzeit keine linke politische Partei in Deutschland in Tradition der liberalen (bis ca. 1900) bzw. sozialistischen Freidenkerbewegung (bis in die 1950er) sieht, im Gegensatz zur CDU/CSU, die eine offene Klientelpolitik für die christlichen Kirchen in dieser Hinsicht betreibt. Angela Merkel hat im Juni 2005 gegen Kardinal Meisner, der zaghaft anmerkte, vielleicht das "Christliche" aus dem Parteinamen CDU zu tilgen, genaue Linie gezogen: dass diese Partei nicht nur dem Namen nach christlich bleibt. Das ist auch ein deutlicher Hinweis auf Bündnisse. Nun von Seiten der Linken das Nicht-Christliche zu betonen, wäre politischer Schwachsinn, ebenso eine vorbehaltlose Identifikation mit den Zielen aktueller säkularer Verbände. Beides wäre für jede politisch linke Partei tödlich - aber nicht doch eine stärkere Beachtung der (weitgehend empirisch unbekannten) "dritten Konfession" (ein Drittel der Bevölkerung, in Ostdeutschland ca. drei Viertel). Dieser Großgruppe kann doch nicht begegnet werden, wie die "Katholische Nachrichtenagentur" Gregor Gysi zitiert (17. März 2005): "Ich glaube, dass Religion die Grundlage für allgemeinverbindliche, eine Mehrheit erreichende Moralnormen ist". Moralische Grundsätze könnten - so Gysi weiter - "nur aus der Religion kommen".

Auf einer öffentlichen Debatte der "Humanistischen Akademie Berlin" am 9. Juni 2005 hat Gysi in einem pointierten Vortrag "Die Linke und die Religion" diesen Spruch als aus dem Zusammenhang gerissen bezeichnet. Das sei zugestanden. Die kirchlichen Presseleute verstehen ihre Berufung und das Handwerk. Dann hat er an vielen Stellen der Debatte konservative Kirche kritisiert, Demokratie bemängelt, fehlendes Arbeitsrecht angeklagt usw. - so sehen Säkulare das auch. Aber bei seiner These, die Linke sei zu schwach, "allgemeinverbindliche, eine Mehrheit erreichende Moralnormen" aufzustellen, und er sehe hier die Religionen am Zuge, blieb Gysi im Wesentlichen bei seiner Grundthese. Auch das ist legitim - aber Kritik daran ebenfalls.

Bei politischen Bewegungen geht es selbstverständlich auch um das Setzen von Moralnormen gegen diejenigen, die andere politische Ansichten vertreten. Wer in der Demokratie Mehrheiten will, von dem wird sogar verlangt, das eigene politische Handeln und dessen ethische Begründungen hinsichtlich seiner Verortung innerhalb einer arbeitsteiligen Gesellschaft zu begreifen und sich vorzustellen, was ethische Deutungsmacht durch Handhabung politischer Macht bedeuten kann. Hier hat Gysi völlig Recht, wenn er betont, dass die Linke bisher nicht davor gefeit war, errungene Macht nicht zu missbrauchen.

Er hat auch Recht, wenn er auf die Realität der (auch religiösen) Wählerschaft verweist. Die ethischen Wertmaßstäbe müssen also "überkonfessionell" verständlich, vor allem aber akzeptabel sein und dürfen Gruppen von Linken nicht ausschließen, seien es Gläubige oder Ungläubige. Dass moralische Grundsätze aber generell "nur aus der Religion kommen" (können), weil "angesichts der aktuellen Schwäche der Linken Â… die von ihr entwickelten Moralvorstellungen Â… kaum eine Chance auf Allgemeinverbindlichkeit"3 hätten, ist nicht schlüssig.

Zum einen ist die "Moral der Linken" wegen ihrer "überkonfessionellen" Zusammensetzung keineswegs völlig unreligiös. Zweitens kann es nicht darum gehen, eine allgemein verbindliche (linke) Moral zu entwickeln. Drittens sind die Linken bisher nicht (an erster Stelle) an ihrer Moral gescheitert. Viertens ist das Moralproblem auf dieser hohen Verhandlungsebene politisch uninteressant. Fünftens steckt die spannende Frage in dem Wort "Chance", denn das impliziert, wie denn derzeit die Moralvorstellungen (die "Werte" und "Erwartungen"), ihre sozialen Zuordnungen und ihre politischen Zuspitzungen tatsächlich sind. Erst in Antworten darauf wird die Frage nach der "Chance" politisch - und dann eben zugleich sehr handfest kirchenpolitisch.

Die Linken und das Politikfeld "Trennung von Staat und Kirche"

Eine der Legitimationen kirchlicher Präsenz im weitgehend nichtreligiösen Osten Deutschlands und des ständigen Vorwurfs an die PDS, Fortsetzerin der SED zu sein, ist das Ausfüllen einer angeblichen "ethischen Lücke" - entstanden durch das Ende des Staatssozialismus bzw. durch die lange Zeit der "zwei Diktaturen" - und die erfolgreiche Bildung einer politischen Meinung zugunsten der moralischen Institution "Christentum", diese Lücke zu füllen und dafür (für die Einrichtungen der Kirchen und für staatliches Handeln im Interesse der Kirchen) auch staatliche Mittel bereit zu stellen - und nicht zu knapp: "Missionierung" (z.B . durch Religionsunterricht) erhält mit dieser Grundthese demokratische Rechtmäßigkeit. Auf die dahinter stehende grundsätzliche und zu verwerfende theologisch-kulturelle These, nichtreligiösen Menschen fehle eine ganze lebenswichtige Dimension, die Spiritualität, die religiöse Musikalität oder dergleichen zum Menschsein, kann hier nicht näher in ihren Konsequenzen eingegangen werden.

Dann ist die Haltung anderer Parteien in Deutschland zum Politikfeld Trennung von Staat und Kirche zu berücksichtigen. Alle Parteien in Deutschland haben zu Staat-Kirche-Wertefragen Beschlüsse oder zumindest tradierte, unhinterfragte Haltungen. Keine Partei versteht sich als eindeutig verortet im herkömmlichen Konfessionsspektrum, schon gar nicht als Partei mit einem "Gesinnungsprogramm", auch nicht die CDU/CSU. Seitdem auch die PDS, als letzte der Arbeiterbewegungs-Nachfolgeparteien, keine "Weltanschauungspartei " mehr ist, kann in ihr jeder und jede glauben, was er oder sie will. Das wird in der Linkspartei nicht anders sein. Dieser Abschied war und ist zugleich eine Öffnung für religiöse Sozialisten, so wie es auch in der SPD religiöse (das sind christliche) Sozialdemokraten gibt.

Religiös-weltanschauliche Neutralität - und jetzt stoßen wir auf die Ebene der Politik vor - ersetzt jedoch keine politischen Konzepte zu Werte-, Religions- und Staat-Kirche-Fragen: Staatsverträge und Konkordate; Werte-, LER-, Ethik-, Lebenskunde- und/oder Religionsunterricht; Kirchensteuereinzug durch den Staat; Militärseelsorge; Freizeiteinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft bei Auslandseinsätzen; Privilegierung der Theologie (nicht ein Lehrstuhl für Humanismus in Deutschland!); Besetzung der Rundfunkräte und öffentlich- rechtlicher Kirchenfunk; Gedächtnis-, Gedenk- und Erinnerungskultur allein auf christlicher Basis Â…

Spätestens bei folgenden Themen wird sich die Linke intDann ist die Haltung anderer Parteien in Deutschland zum Politikfeld Trennung von Staat und Kirche zu berücksichtigen. Alle Parteien in Deutschland haben zu Staat-Kirche-Wertefragen Beschlüsse oder zumindest tradierte, unhinterfragte Haltungen. Keine Partei versteht sich als eindeutig verortet im herkömmlichen Konfessionsspektrum, schon gar nicht als Partei mit einem "Gesinnungsprogramm ", auch nicht die CDU/CSU. Seitdem auch die PDS, als letzte der Arbeiterbewegungs-Nachfolgeparteien, keine "Weltanschauungspartei" mehr ist, kann in ihr jeder und jede glauben, was er oder sie will. Das wird in der Linkspartei nicht anders sein. Dieser Abschied war und ist zugleich eine Öffnung für religiöse Sozialisten, so wie es auch in der SPD religiöse (das sind christliche) Sozialdemokraten gibt. Religiös-weltanschauliche Neutralität - und jetzt stoßen wir auf die Ebene der Politik vor - ersetzt jedoch keine politischen Konzepte zu Werte-, Religions- und Staat-Kirche-Fragen: Staatsverträge und Konkordate; Werte-, LER-, Ethik-, Lebenskunde- und/oder Religionsunterricht; Kirchensteuereinzug durch den Staat; Militärseelsorge; Freizeiteinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft bei Auslandseinsätzen; Privilegierung der Theologie (nicht ein Lehrstuhl für Humanismus in Deutschland!); Besetzung der Rundfunkräte und öffentlich- rechtlicher Kirchenfunk; Gedächtnis-, Gedenk- und Erinnerungskultur allein auf christlicher Basis Â… Spätestens bei folgenden Themen wird sich die Linke interessieren müssen: Kirche als Monopolist in der Trägerschaft von Drogenberatungen, Seniorenheimen und Kindergärten; fehlende Mitbestimmungsrechte und besonderes Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen, besonders in Diakonie und Caritas, die immerhin mehr als zwei Millionen Arbeiter und Angestellte beschäftigen (vgl. hier das soeben erschienene Buch von Carsten Frerk und die Stellungnahme dazu von "ver.di").

Charakteristisch für Deutschland ist wegen der unvollendeten Trennung von Kirche und Staat seit dem 19. Jahrhundert die Einteilung der religiösen Personen in Konfessionen (institutionalisierte Bekenntnisse). Nach dem II. Weltkrieg hat aber die religiös-weltanschauliche Vielfalt und besonders die Zahl nichtreligiöser Menschen zugenommen. Bei uns leben innerhalb einer Gesamtbevölkerung von 82,5 Millionen Einwohnern 26 Millionen Protestanten, 26 Millionen Katholiken, 3,2 Millionen Muslime, 1 Million Orthodoxe, 200 000 Juden, 150 000 Buddhisten, 100 000 Hindi sowie 500 bis 850 000 in religiösen Sondergemeinschaften (z. B. Zeugen Jehovas 165 000).

Die Zahl der (in diesem staatskirchenrechtlichen Sinne) Konfessionslosen beträgt etwa 25 Millionen (andere Berechnungen gehen von bis zu 32 Millionen aus). Davon (so wird geschätzt, seriöse Studien gibt es nicht) ist die Hälfte irgendwie religiös, die andere aber inzwischen so groß, dass neuerdings von einer "dritten Konfession" gesprochen wird, in Ostdeutschland gar von einem "Volksatheismus" in der vierten Generation. Diesen vielen Menschen kann doch nicht ethisches Handeln abgesprochen und (gar von einer linken Partei) Religion (welche?) empfohlen werden.

Auch die PDS hat hier keine auffällig andere Haltung innerhalb der Linken, obwohl jeder fünfte PDS-Wähler (nach "Allensbach" 18 Prozent) ausdrücklich die säkularen humanistischen Lebensanschauungen des HVD teilt (SPD: 10 Prozent; Grüne: 6 Prozent; FDP: 5 Prozent) - die meisten übrigens bereits ohne ihn zu kennen. Es steht also zu vermuten, dass das Interesse an säkularen Fragen und entsprechenden politischen Absichten größer ist als das derzeitige linke Politikangebot.

Links ist politisch definiert. Erfasst wird ein Spektrum von kommunistischen bis hinein in sozialliberale Gruppierungen. Jede "Linkspartei" wird nur einen Teil davon repräsentieren können und wollen. In der Geschichte linker Politik gab es jeweils Phasen, in denen sie sich auch weltanschaulich definierte. Die Historie der freigeistigen, freidenkerischen und humanistischen Bewegungen und Verbände ist eng damit verquickt: von den demokratischen Freireligiösen im Vormärz vor 1848, über die Freisinnigen und deren liberalem "Kulturkampf" in den 1870ern (so Rudolf Virchow im Wahlaufruf der Freisinnigen Partei 1873; es ging um einen Machtkampf um die staatliche Vorherrschaft gegenüber Religionsgesellschaften: Zivilehe, Standesämter, Kirchenaustritt, Schulaufsicht, Jesuitenverbot, Kanzelparagraph) bis zur Arbeiterbewegung nach 1900 und den freidenkerischen Massenorganisationen der Weimarer Republik. Auch die andere (konservative) Seite hat sich wertmäßig definiert, meist christlich-religiös, allerdings auch - ganz rechts - bis hin zu völkischen Ideen. Antisemitismus und Rassismus sind eindeutig weltanschaulich rechte Positionen.

Links war historisch gesehen bisher immer identisch mit Positionen der vollständigen Trennung von Staat und Kirche. Der protestantische Pfarrer und nationalliberale Politiker Friedrich Naumann (DDP) rechnete sich nicht nur in diesem Punkt klar zu den Linken und forderte in deren Namen im Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung Anfang April 1919, "dass, nachdem einmal Inventur gemacht und Ablösung erfolgt ist, der Staat keine Mittel für die Kirche zu geben nötig hat." Dass ohne diese - später betrogene - Hoffnung Naumanns die Weimarer Reichsverfassung wahrscheinlich gescheitert wäre, sollte eigentlich zu den Grundkenntnissen jeder linken Partei gehören.

"Sozialismus" wiederum war in der deutschen Arbeiterbewegung stets auch als Weltanschauung definiert, bis in die 1920er hinein sogar als "Ersatz" des Christentums. Im Zeitalter der massenkulturellen Bewegungen zwischen Reichseinigung 1870/71 und Mitte der 1950er Jahre gab es zudem katholische und protestantische "Volksbewegungen". Die "Grünen" begannen nach 1968 deutlich als Lebensreformbestrebung, weitgehend in Unkenntnis des Zusammenhangs von Lebensreform und Freidenkerei 1900-1930. Überhaupt ging es im politischen Getümmel (genauer sogar: in den politischen Kriegen) des 20. Jahrhunderts sehr weltanschaulich zu.

Alle Parteien haben sich inzwischen von den früheren weltanschaulichen bzw. religiösen kulturellen Verortungen verabschiedet. Einschneidend waren hier das Godesberger Programm der SPD und der Abschied der PDS von der SED als letzter Weltanschauungspartei. Was aber ist aus den Programmteilen geworden, die sich auf diese Politikfelder bezogen? Wer wendet sich an die Konfessionsfreien und vertritt deren Interessen? Für Christen sind Kirchen zuständig - für Atheisten der Staat? Soll die Linke für einen neutralen Laizismus des Staates eintreten oder ist heute die Idee eines öffentlich geförderten Pluralismus der Weltanschauungen und Religionen (und ihrer Organisationen) zeitgemäßer?

Die Probleme in diesem Politikfeld sind sehr aktuell und aufgeladen, wie die Debatten über die europäische Verfassung zeigten ("Gott" nicht in der Präambel; Gleichheitsgrundsatz Art. 51). In Deutschland gibt es Streit um Islamisten allgemein und Islamunterricht in Schulen besonders. Hierzulande herrscht Skepsis gegenüber der US-amerikanischen Politik "wiedergeborener Christen", auf die sich auch George W. Bush beruft und deren Fundamentalisten angekündigt haben, zur Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland in großem Stil missionieren zu wollen.

Schon gibt es vereinzelte politische Stimmen auch innerhalb der Linken, stärker auf die angebliche "De-Säkularisierung" zu setzen bzw. diese als Tendenz anzunehmen. Aber wo finden sich in der Linken merkliche Hinweise auf neue Ansätze, sich religiösen bzw. weltanschaulichen Fragen von einem dezidiert aufklärerischen Standort zu widmen, sei es hinsichtlich der Werteproblematik (woran halten wir uns in den "letzten Fragen") oder einzelnen Gebieten des politischen Handelns (z. B. Religionsunterricht; Sterbehilfe ...)? Sind die jüngsten Wahlerfolge rechter Parteien auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie sich klar kulturell und betont "konfessionsfrei" ausdrücken ("gottlos", "sauber", "deutsch" und "radikal")? Was folgt daraus für die Linken?

Bisher heißt die Losung "Finger weg" von diesem Thema, aus zwei guten Gründen: Zum einen gilt im veröffentlichten Meinungsbild noch immer als fern von jeder guten Moral, wer sich gegen Religion stellt, die zudem auf die christliche beschränkt und mit Kirche synonym gedacht ist (niemand möchte ein unmoralischer Politiker sein); zum anderen braucht, wer gewählt werden möchte, Bekanntheit und die gibt es auf Kirchentagen und ähnlichen Veranstaltungen kirchlicher Einrichtungen die Menge (niemand will darauf verzichten). Und da die Kirchen in den öffentlich-rechtlichen Medien außergewöhnliche Mitspracherechte und Sendezeiten besitzen, vom Kirchenfunk über das "Wort zum Sonntag" bis hin zur Übertragung von Kulthandlungen, muss man, so die Logik, da irgendwie mit aufs Bild.

So nahm die Linke nicht nur Abschied von weltanschaulichen Begründungen ihres Tuns, sie öffnete sich sogar religiösen Argumenten. Damit könnte man leben, bliebe zweierlei erhalten: Erstens die Pluralität, zweitens eine Politik der Trennung von Staat und Kirche. Pluralität hat Neutralität zur Voraussetzung. In dem, was das bedeutet und was Linke vielleicht im Begriff sind zu "vergessen", lohnt sich ein Blick in die Geschichte, auch um an den Verlust wenigstens zu erinnern durch eine Replik auf August Bebel. Als es - im Gegensatz zu heute - in Wilhelminischen Zeiten noch selbstverständlich war, Christ zu sein, vollzog Bebel 1874 seinen Kirchenaustritt und wurde offiziell "Dissident", wie es damals hieß.

Religionskritik gehörte zu Bebels öffentlichem Auftreten und zu seiner politischen Publizistik. 1879 forderte Bebel, "die Religion zur Privatsache" zu erklären "und auf ihre eigenen Füsse"4 zu stellen. Er lehnte es zugleich ausdrücklich ab, "religiöse Überzeugungen mit gewaltsamen Mitteln zu bekämpfen."5 Aus dieser Sicht heraus unterstützte er zwar freidenkerische Forderungen, lehnte es aber ab, die SPD mit den Freidenkern in einer Linie zu sehen.

"Wir vertreten die Anschauung, daß der Staat ein rein weltlicher Staat ist und daß die Religionsgemeinschaften Privatgesellschaften sind. Wir erklären uns auf das entschiedenste dagegen, daß der Staat kraft der Gesetzgebung und seiner Zwangsmittel irgend einen Menschen nöthigt, zu einer Gemeinschaft zu gehören oder Mittel zur Unterhaltung dieser Kirchengemeinschaft herzugeben oder daß der Staat selbst seine eigenen, aus dem allgemeinen Steuersäckel gewonnenen Mittel für kirchliche Gemeinschaften hergiebt ... Wir stehen ... auf dem Standpunkt, daß wir in religiösen Glaubensfragen absolute Neutralität und nichts als Neutralität zu beachten haben."6.

Fragen an linke Politik

Bei einer neuen linken Politik kann das Problem der Trennung von Staat und Kirche nicht ausgeklammert werden. Die politische Realität zeigt, dass das entsprechende Gebot des Grundgesetzes nicht durchgesetzt ist bis hin zum Verfassungsauftrag (Artikel 138, Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung im Vergleich mit Artikel 140 Grundgesetz), die "Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst".

Kirchliche Unternehmen sind arbeitsrechtlich, steuerlich und gebührenrechtlich bevorzugt gegenüber den Organisationen der Konfessionsfreien und gewerblichen Unternehmen, z. B. durch besonderes kirchliches Arbeitsrecht, fehlende Mitbestimmung, Freistellung von Grunderwerbsteuern, Subventionierung durch Privilegierung des Kirchensteuerabzugs als Sonderabschreibung usw.

Wie hält es die PDS mit den Kirchensteuern? Wieso werden diese Mitgliedsbeiträge über staatliche Finanzämter eingezogen - und die Ossis, falls früher mal getauft, glatt über den Tisch oder vor den Kadi gezogen. Die Länder zahlen direkte Geldleistungen in Höhe von etwa 7,5 Milliarden EUR jährlich für kirchliche Zwecke, zusätzlich zu den Geldleistungen für (durchaus nützliche) soziale, gesundheitliche und andere Zwecke. Allerdings kann da durchaus der Eindruck entstehen, unsere Gesellschaft bezahle vorwiegend eine Religion und befördere "christliche Leitkultur".

In der politischen Realität sehen wir in weiten Bereichen eine Bevorzugung der christlichen Religionen. Die christlichen Kirchen wollen noch stärkere "Prägekraft" auf den Staat ausüben. Das Bundesverfassungsgericht sagt zwar, dass es keine Privilegierung bestimmter Bekenntnisse oder keine Ausgrenzung Andersgläubiger geben darf, aber die Realität ist eine andere. Linke werden sich dazu äußern müssen. Hierbei handelt es sich keineswegs um irgendwelche abstrakten Glaubensfragen, schon gar nicht um allgemeine Religionsfreiheit oder deren Grenzen.

Es geht vielmehr um konkrete und aktuelle Politikfelder, die (wenn man so will) "Anwendungen" von Bekenntnissen darstellen und auf denen ein harter Interessenkampf geführt wird. Vier sollen abschließend genannt werden: Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe (und damit "letzte Antworten" auf die Frage, wann das Leben beginnt und endet und wer darüber entscheidet), Werteunterricht für alle (und damit die Frage, ob der Staat Werte unterrichten darf und woher diese Werte kommen sollen) und die Sorge um das Feierliche, hier nicht nur das leidige Thema Jugendweihe, sondern viel grundsätzlicher.

Erstens stellen neuerdings konservativ-christliche Politiker wieder demonstrativ das Recht auf Schwangerschaftsabbruch insofern in Frage, als sie die weitere öffentliche Finanzierung der Konfliktberatung "aus Kostengründen" bezweifeln.

Zweitens zeigt der Streit um den Werteunterricht in Berlin, dass es den Gegnern dieses Faches sehr grundsätzlich um die weitere Verankerung der christlichen "Leitkultur" im Bildungswesen geht, statt um ein Pflichtfach für alle Kinder, das die Grundinformationen über ethische Grundsätze und die Vielfalt von Religionen vermittelt. Daneben soll - das fordern Humanisten - den Schülern die Wahlfreiheit zwischen Religionsunterricht über christliche Konfessionen oder humanistische Lebenskunde gewährt werden, ein Fach, das in Berlin fast 40.000 Kinder freiwillig belegen. Auch hier werden sich Linke positionieren müssen, ob sie bereit sind, sich für dieses Modell der Wahlfreiheit von Schülern überall im Land politisch einzusetzen.

Drittens findet derzeit die Säkularität des Grundgesetzes und die darin zum Ausdruck gebrachte religiös-weltanschauliche Pluralität staatlicher Tätigkeit keine Entsprechung im öffentlichen Auftreten seiner Repräsentanten und bei öffentlichen Feiern. Werden die neuen Linken, wenn sie gewählt sind, an öffentlichen Festformen teilnehmen, wenn Religionslose und Andersgläubige davon ausgeschlossen sind bzw. "ökumenisch" vereinnahmt werden? Wird künftig die Trauer nichtreligiöser Menschen bei Unglücksfällen und Katastrophen respektiert? Welche Ideen hat die Linke für ihre Mitarbeit an einem neuen, pluralistischen Kapitel der öffentlichen Erinnerungs-, Gedenk-, Gedächtnis- und Trauerkultur?

Abschließend - viertens - zum Lebensende und zum Patientenwillen und zum Selbstbestimmungsrecht (Autonomie am Lebensende) auch im Sterbeprozess. Hier stehen gewichtige ethische und politisch schwer zu entscheidende Fragen im Raum. Jeder Patient hat bis zum Lebensende Anspruch auf eine qualifizierte und sorgfältige medizinische Behandlung. Er hat das Recht, Art und Umfang der medizinischen Behandlung selbst zu bestimmen. Der Arzt hat das Selbstbestimmungsrecht des einwilligungsfähigen Patienten als verbindlich zu achten und darf gegen den Patientenwillen keine medizinische Maßnahme durchführen. Das gilt besonders bei vorliegenden Patientenverfügungen. Werden sich Linke im neuen Bundestag für ein Patientenverfügungs-Gesetz auf dieser Grundlage einsetzen? Wie stehen sie zu einer gesetzlichen Regelung der Sterbehilfe generell? Wie kann verhindert werden, dass mehr Freiheit auch hier für mehr sozialen Druck auf Arme und Kranke ausgenutzt werden kann?

Vor diesen und ähnlichen Fragen stehen alle Parteien, die Linke und die "Linkspartei" allerdings besonders, bedingt durch Tradition und Erwartungen der Anhängerschaft.

Horst Groschopp - Jg. 1949; Dr. phil. habil.,Kulturwissenschaftler; Direktor der Humanistischen Akademie, Redakteur der Zeitschrift humanismus aktuell und Bundesvorsitzender des Humanistischen Verbandes Deutschlands, HVD. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Ende der Weltanschauungspartei?, Heft 117 (Juli 2000). www.horst-groschopp.de; www.humanismus.de

1 Siehe: www.humanismus.de.

2 Siehe: www.wikipedia.de.

3 Neues Deutschland, 11./12. Juni 2005.

4 August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 10/1, S. 179.

5 Ebenda, S. 180 f.

6 August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 7/1, S. 285.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 183 (Januar 2006), S. 64-72

aus dem Inhalt:

VorSatz; Essay ADOLF MUSCHG: Treppenrede; Gesellschaft - Analyse & Alternativen ARMIN BERNHARD: Antonio Gramscis Verständnis von Bildung und Erziehung; PARVIZ KHALATBARI: Demographie - eine Wissenschaft mit unterentwickelter Theorie; Utopie konkret RICHARD SAAGE: MorusÂ’ "Utopia" und die Macht. Zu Hermann Onckens und Gerhard Ritters Utopia-Interpretationen; GÜNTER WIRTH: Ausgeschlagene Chancen der Neuorientierung. Zwei Schriften aus dem Jahre 1948; Linkspartei DIETHER DEHM: Gegenöffentlichkeit contra BND-Medien. Die Linke braucht eigene Kulturarbeit, nicht Gnade der Verlagskonzerne; HORST GROSCHOPP: Die demokratische Linke und die Religion. PDS und Religionsgemeinschaften; Standorte ANTONÍN DICK: Befreiung von der Arbeit; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Karsten Rudolph: Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg. Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie 1945-1991. (STEFAN BOLLINGER); Mathias Beer, Gerhard Seewann (Hrsg.): Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen - Inhalte - Personen, Südosteuropäische Arbeiten; (PEER HEINELT); Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Hrsgg. von Michel Friedman (FLORIAN WEIS); Fernand Braudel: Modell Italien 1450-1650 (ULRICH BUSCH); Wolfgang Scheler, Ernst Woit (Hrsg.): Kriege zur Neuordnung der Welt. Imperialismus und Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges (BERNHARD HEIMANN); Jahresinhaltsverzeichnis 2005; Summaries