Friedrich Engels und das postmaoistische China

Für den 12. Dezember 2005 war im Kinosaal der Berliner Humboldt-Universität der Film "Herz der Welt" über Bertha von Suttner und ihren Roman "Die Waffen nieder!" angesagt. Anlaß: 100 Jahre zuvor h

die Autorin den Friedensnobelpreis erhalten (s. Ossietzky 25/05). Nach der Filmvorführung sollte es eine Diskussion geben. Der Abend litt an geheimnisvollem Boykott. Die Ankündigungen strotzten von Differenzen. In den Medien wurde gemauert. Das Neue Deutschland meldete irrtümlich einen falschen Termin. Der mit viel Mühe herbeigeschaffte Film konnte nicht laufen, weil der Vorführer urplötzlich einer Grippe anheimfiel. Mag sein, die Uni wollte ihren vormaligen theologischen Spitzen-Fink auch nicht indirekt per "Die Waffen nieder!" rehabilitieren. Mag sein, die kurz vor Kriegsbeginn 1914 verstorbene Pazifistin Suttner steckt den kalten wie heißen Kriegern noch immer quer im Hals.

In der Diskussion zwischen Heinrich Fink, Bojelka Schädlich, Jörg Schütrumpf und mir kam ein Konflikt zur Sprache, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Der marxistische Militärtheoretiker Friedrich Engels entwickelte in den zwölf Jahren, die er den 1883 verstorbenen Karl Marx überlebte, seine Anti-Kriegslehre, die von der deutschen Sozialdemokratie mit der Kriegsteilhabe 1914 abgelehnt wurde. Der Rest ist ein anschließender imperialer Weltvölkerkrieg, der bis heute anhält. Indem die Linke EngelsÂ’ Warnungen in den Wind schlug, zerstörte sie ihre Chancen.

Diese Einschätzung ist nicht ganz unbekannt geblieben. In Heft 2 "Philosophische Gespräche" des Berliner Vereins "Helle Panke e.V." bricht der Dresdner Professor Ernst Woit, Ex-Oberst der DDR-Volksarmee, eine Lanze für den Pazifismus, indem er, über Bertha von Suttner hinausgehend, auf pazifistische Äußerungen von Engels verweist. Woit schreibt: "Dazu möchte ich zunächst an die - leider weitgehend in Vergessenheit geratene - historische Tatsache erinnern, daß Wilhelm Liebknecht von August bis Dezember 1892 in dem damals von ihm redigierten sozialdemokratischen Parteiorgan Vorwärts mit freudiger Zustimmung Bertha von Suttners deren Roman "Die Waffen nieder!" in Fortsetzungen veröffentlicht hat. Im März des darauffolgenden Jahres veröffentlichte der Vorwärts mit "Kann Europa abrüsten?" die letzte größere Schrift von Friedrich Engels. Darin schlug der Mitbegründer des Marxismus vor, in Europa durch einschneidende Reduzierung der stehenden Heere und Übergang zu einem Miliz-System (wobei Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen sollte) die Rüstungslasten abzubauen und - ohne das Sicherheitsbedürfnis der Staaten zu ignorieren - die Gefahr eines allgemeinen Krieges praktisch zu reduzieren. Die große Idee, die Engels in dieser Arbeit zu begründen sucht, war, daß Abrüstung bis hin zur strategischen Angriffsunfähigkeit innerhalb des Kapitalismus prinzipiell möglich ist, wenn es über die Entwicklung einer entsprechenden öffentlichen Meinung des Volkes gelingt, den dafür entscheidenden, durch Vernunft begründeten Willen der Regierenden zu erreichen."

Und Woit zitiert aus einem Engels-Brief vom 3.11.1892 an Paul Lafargue: "Die Ära der Barrikaden und Straßenschlachten ist für immer vorüber, wenn die Truppe sich schlägt, wird der Widerstand Wahnsinn. Also ist man verpflichtet, eine neue revolutionäre Taktik zu finden. Ich habe seit einiger Zeit darüber nachgedacht, bin aber noch zu keinem Ergebnis gekommen."

Der Zufall will es, daß zur selben Zeit wie Woit auch André Brie (in einem Aufsatz über "Möglichkeiten und Inhalte sozialistischer Politik nach dem sozialistischen Scheitern") ebenfalls auf Engels zurückverweist, der, den Ersten Weltkrieg vorausahnend, am 15.12.1887 geschrieben hatte: "...endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet: Hungersnot, Seuchen, allgemeine durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. - Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt." Damit antizipierte Engels Ende des 19. das barbarische 20. Jahrhundert. Vom vorausgesagten "Sieg der Arbeiterklasse" blieb allerdings nur der Sieg der russischen Bolschewiki übrig. Die deutsche Sozialdemokratie nahm so eifrig wie dümmlich am Weltkrieg teil, spaltete Partei samt Klasse und wurde zu Hitlers Türöffner, wie Sebastian Haffner schrieb.

Mit dem Abgang der Sowjetunion schloß die Geschichtsepoche 1914-1990. Aus der Konfrontation USA-Westeuropa gegen SU mitsamt DDR erwuchs die neue Frontlinie USA-China. Möglicherweise wird daraus eine erweiterte Konfrontation der USA mit China, Asien, Südamerika. China hat dafür offensichtlich die Lehren aus dem Moskauer Debakel gezogen, wobei sich vier Schwerpunkte abzeichnen: pazifizierende Militärstrategie, gelenkte Kapital-Ökonomie, neue Philosophie und Einschätzung der Klassenfrage. Die weltpolitischen Folgen sind schon jetzt absehbar. Dabei hat das neosozialistische chinesische Jahrhundert eben erst begonnen. - Schlußfolgerungen im nächsten Heft