Spiel mit dem Krieg

Was ist das im "Karikaturenstreit" dieser Tage für ein absurder, die Hirne beleidigender, die Seelen verletzender und die Gemüter vergiftender Vorgang: Die "Wissensgesellschaft", von der im Westen .

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allüberall schwadroniert wird, tritt geradezu wollüstig das wichtigste Wissen überhaupt in den Dreck: das Wissen darum, wie Kriege entstehen und wie Kriege verhindert werden können.
Als ob es die Erfahrung von 1914 in Europa und 1937 in Fernost und 1939 wieder in Europa und in den neunziger Jahren in Jugoslawien und das ganze vergangene Jahrhundert über an so vielen anderen Kriegsschauplätzen der Welt nicht gegeben hätte, wird im Medienhauptstrom Öl ins Feuer gegossen, daß es nur so kracht. Zurückhaltung, Mäßigung, Ausgleich, Verständigung, Verständnis, Dialog? Fehlanzeige. Statt dessen wird angeheizt, was das Zeug hält. Selbstgerecht, arrogant, ohne Blick nach rechts und links. Die eigenen "Werte" will man durchsetzen - koste es, was es wolle. Und immer ist da dieses unglaubliche Maß an Selbstbetrug, mit dem man sich vorgaukelt, man werde die Dinge schon irgendwie im Griff behalten und unbeschadet aus der Sache herauskommen.
Um die Verteidigung der Meinungsfreiheit gehe es, versucht man uns weiszumachen. Denn Meinungsfreiheit, natürlich, sei ein europäisches - oder auch: westliches, oder auch: abendländisches - Gut, und als solches - natürlich - dafür vorgesehen, Weltgut zu werden, zu welchem Preis auch immer. Und gleichsam unter der Hand wird der Eindruck erweckt, als stecke im Wort "Meinungsfreiheit" der Begriff "unbeschränkt" ganz automatisch mit drin.
Dabei gibt es solche unbeschränkte Meinungsfreiheit nirgends! In Deutschland nicht, in Europa nicht, und nicht in den USA. Aus gutem Grund - ja, aus sehr gutem Grund! - ist sie in Deutschland schon per Grundgesetz eingeschränkt. "Diese Rechte" - das "Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten" wie auch "die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film" - "finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre".
Tatsächlich: So viele Gründe gibt es zur Einschränkung der Meinungsfreiheit! Bei uns, in Deutschland. Und mit Recht wird erwartet, daß diese Einschränkungen auch international vertreten und verteidigt werden. Zum Beispiel dann, wenn ein iranischer Präsident den Holocaust leugnet. Aber warum, zum Teufel, haben nicht andere Gesellschaften auch das Recht, ihre Meinungsfreiheit einzuschränken? Und das Recht, dafür gute Gründe zu haben? Auch wenn es andere Gründe sind? Die "uns" nicht gefallen? Warum also gehen "wir" mit Glaubensgrundsätzen des Islams wie dem des Verbots der bildlichen Darstellung des Propheten so provozierend mißachtend und überheblich um?
Doch halt: Es sind gar nicht "wir", die da provozieren? Sondern die Medien - und längst nicht alle? Und ich, der ich diese Zeilen schreibe, doch auch nicht, nicht wahr?
Ja, das ist richtig, indes: In Kriegen interessieren solche Feinheiten nicht mehr. Und es sind Kriege, vor deren Hintergrund diese Provokation sich abspielt. Sie sind ja nicht in eine friedliche Welt gefallen, diese Karikaturen, sondern in eine islamische Region, die längst aus den Fugen ist. So sehr aus den Fugen durch ein Jahrhundert von Kriegen, äußerem Druck und hausgemachten Fehlentwicklungen, daß die übrige Welt alle nur denkbaren Anstrengungen unternehmen müßte, Wogen zu glätten und Wunden zu heilen. Aber sie tut das Gegenteil. Der von den USA und den "Willigen" geführte völkerrechtswidrige und unselige "Krieg gegen den Terror" mit seinen Feldzügen gegen Afghanistan und gegen den Irak, der nie zur Ruhe kommende Israel-Palästina-Konflikt und nun der "Atomstreit" mit dem Iran sind der riesige Siedekessel, in den man die Karikaturen hineingeworfen hat - ganz so, als ob man nicht wüßte, wie wenig es braucht, einen solchen Kessel zur Explosion zu bringen.
In einer der abendlichen Fernsehsendungen, die uns mit Bildern von brennenden europäischen Fahnen und Botschaften den Atem nahmen, versuchte ein Reporter zu erklären, daß die Menschen gegen Karikaturen protestierten, die sie doch gar nicht gesehen hätten. - O heilige Einfalt. Wer von den Millionen begeisterten jungen Männern, die im August 1914 in den Krieg zogen, und von den Millionen nicht minder begeisterten jungen Frauen, die ihnen mit Blumen in Hand und Haar zuwinkten, hatte wohl Bilder gebraucht vom ermordeten Erzherzog Franz Ferdinand, um kriegswillig zu werden? Nein, die Kunde vom Attentat allein hatte ausgereicht. Denn es war ja über die Jahrzehnte hinweg schon eine ganz andere Saat gelegt. Der Siedekessel war gründlich vorgeheizt worden mit Völkerhaß und "Kulturkämpfen", und ein jeder wähnte sich felsenfest und unverrückbar auf der richtigen Seite, war allem Ausgleich, aller Verständigung ein für allemal abhold - und glaubte blind an die eigene Unverletzlichkeit.
Nur ganz am Rande standen - beschimpft und verunglimpft - die Wenigen, die warnten und sich dem allgemeinen Getöse versagten. - Und nun?

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 20. Februar 2006, Heft 4

aus dem Inhalt
Wolfram Adolphi: Spiel mit dem Krieg; Max Hagebök: Die neue Eiszeit; André Hagel: Doppelexistenz; Wolfgang Sabath: "Wir" sind immer die anderen; Anton Westermann: Herrn Dennis Snowers Umwälzung der Weltwirtschaft; Martin Nicklaus: Der eigene Hammer; Gerhard Wagner: Heines Passion; Renate Hoffmann: Nachschillern; Frank Hanisch: Stolpersteine; Jochen Reinert: Uppsala und Auschwitz; Eckhard Mieder: Zehn tote Tauben; Harald Kretzschmar: Nun werden sie ihn endlich los; Alfred Fleischhacker: Schnäppchenmarkt an der Spree; Frank Ufen: Gelungene Provokation