Dissens als Desaster

Zur Kommunikation zwischen SPD und Gewerkschaften

Der gesellschaftspolitische Sinn der Agenda 2010 - und genau deswegen waren die Gewerkschaften so alarmiert - ist identisch mit der bürgerlich-liberalen Botschaft, dass jede(r) ihres/seines Glückes Schmied sei. Die Agenda-Politik missachtet den Ursprung der Identität sowohl der Sozialdemokratie als auch der Gewerkschaft, indem sie die Differenz zwischen bürgerlicher Ideologie und Arbeiterwirklichkeit für überwunden erklärt: Ihr alle seid angekommen in der modernen Gesellschaft, macht was draus, nichts ist unmöglich... Auf der Folie des traditionslinken Weltbildes wirkt die Agenda 2010, als ob Schröder sich hinstellen und Currywurst kauend sagen würde: "Neoliberal ist geil, basta."

Wie der Mensch Sauerstoff so braucht die Kommunikation Sinn. Der Sinn dieser Sätze, einer Sache, einer Entscheidung macht diese anschlussfähig, verständlich und damit kommunikationsfähig. Der häufige Vorwurf, etwas sei aus dem Zusammenhang gerissen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Sinn nur im Zusammenhang, aus dem Kontext heraus erklärbar ist. Wenn zwei ein und das selbe Stück Tuch, das sich um den Kopf binden lässt, in völlig verschiedenen (Sinn-) Zusammenhängen sehen, wächst das Risiko, dass sie damit Wunden verbinden müssen. SPD und Gewerkschaften stecken heute in einer doppelten Schwierigkeit: Mit Blick auf die je eigene Organisation driften sie in verschiedene Sinnwelten auseinander und machen daraus einen wechselseitigen Vorwurf. Mit Blick auf die Gesellschaft versagen sie beide als politische Sinnstifter und machen daraus kein gemeinsames Projekt.

Der folgende Text erörtert die Kommunikation zwischen SPD und Gewerkschaften zunächst aus der Individual-Perspektive, ausgehend vom Phänomen der Doppelmitgliedschaft. Er fragt in seinem Hauptteil nach dem inter-organisatorischen Kommunikationsverhalten und berücksichtigt dabei die drei "Stressfaktoren" Mediensystem, Regierungsbeteilung und Realitätskonfrontation. Dazwischen wirft er wiederholt kurze Seitenblicke auf andere Parteien. Die Summe aus punktuellen eigenen Erfahrungen und theoretischen Bruchstücken ergibt keine sozialwissenschaftliche Qualität, nur essayistische Annäherungen.

Selbstgespräche

Die Kommunikation zwischen SPD und Gewerkschaften findet in ihrer spannendsten, aber unerforschlichen Form - als Selbstgespräch statt. Unerforschlich deshalb, weil Bewußtsein für andere nur als mitgeteiltes, nicht als gedachtes oder gefühltes zugänglich ist. Niemand kann Gedanken lesen. Kein Eindruck ohne Ausdruck. Zusammengerechnet sind die fast sieben Millionen Mitglieder der DGB-Gewerkschaften und die knapp sechshunderttausend SPD-Mitglieder (Stand jeweils April 2005) geschätzte 7,4 Millionen Personen. Anders ausgedrückt: Das Organisationsreferat der SPD geht davon aus, dass mehr als ein Drittel der SPD-Mitglieder zugleich Mitglied einer DGB-Gewerkschaft ist. Mit Stand vom 31. 12. 2004 stehen exakt 205.756 in der Statistik.1 Sobald zwischen SPD und Gewerkschaften Kontroversen auftreten, können und müssen also mindestens 200 000 Menschen diese mit sich selbst und gegen sich selbst austragen. Die Zusatzinformation dieser Zahlen lautet: Fast Zweidrittel der SPD-Mitglieder gehört keiner Gewerkschaft an. Das spricht nicht für engste Verwandtschaft. Worin besteht die bekannte Nähe auf der Individual-Ebene?

Doppelmitgliedschaft tritt um so regelmäßiger auf, je weiter man sich vom ‚einfachen Mitglied‘ entfernt, je näher man an die politischen Funktionsträger kommt, seien es gewählte oder angestellte. Dass ein SPD-Vorsitzender Gewerkschafts- und ein Gewerkschaftsvorsitzender SPD-Mitglied ist, gehört zur Regel, deren Ausnahmen trotz Einheitsgewerkschaft und christlich-schwarzem Ämterbonus in Gewerkschaftsvorständen an einer Hand abzählbar sind. Nach der 1998er Machtwechsel-Wahl zum 14. Deutschen Bundestag waren rund 80 Prozent der SPD-Abgeordneten, genau 241 von 298, Mitglied einer DGB-Gewerkschaft. In der CDU/CSU-Fraktion waren es acht von 245.2 Im gegenwärtigen 15. Deutschen Bundestag sind knapp 75 Prozent der SPD-Fraktion in einer DGB-Gewerkschaft. Dass der SPD angehört, wer beim DGB oder einer seiner Mitgliedsgewerkschaften beschäftigt sein will, wird nicht zwingend vorausgesetzt, aber sehr gerne gesehen.

Trotz der Häufung von Doppelmitgliedschaften auf der Ebene der politisch Aktiven tritt die aus der Kommunikationspsychologie bekannte "double-bind"-Konstellation (vgl. Watzlawick/ Beaven 1969) selbst bei Doppel-Funktionären vergleichsweise selten akut auf. Die Spaltung der politischen Persönlichkeit wird durch klare Prioritätensetzung verhindert: Auf die Bühne tritt nur eine Mitgliedschaft, die andere bleibt still im Off. Entweder die Parteimitgliedschaft dominiert und bestimmt im Konfliktfall das Verhalten, während die Gewerkschaftsmitglied formal weiterläuft, oder umgekehrt. Es ist dann bekannt und wird allgemein erwartet, dass z.B. der baden-württembergische IG Metall-Vorsitzende zwar zugleich stellvertretender Landesvorsitzender der SPD ist, er aber im Zweifel Gewerkschaftspositionen auch gegen die Parteilinie vertritt. Es existiert eine primäre Bindung und eine zweitrangige Zugehörigkeit, die jedoch zumindest interne Kommunikationschancen eröffnet, da die Einzelnen als Dazugehörige ansprechbar sind. Sogar der individuelle Wechsel der primären Bindung kommt vor (jedoch nur als Einbahnstraße Richtung SPD), wenn die vorher nachrangige Mitgliedschaft durch einen Funktionszuwachs, z.B. ein Ministeramt, Beispiel Walter Riester, stark aufgewertet wird. Die primäre Bindung prägt die Position. Zwei prominente frühere politische Funktionäre der IG Metall, im Sommer 2002 der eine in der Frankfurter Gewerkschaftszentrale, der andere im Berliner Bundeskanzleramt beschäftigt, äußern sich in derselben Publikation zur rot-grünen Regierungs-Bilanz: Die Gerechtigkeitslücke habe sich "eher vergrößert". Das Herzstück der Schröder-Politik "ist Sparpolitik und Konsolidierung. Nicht: mehr Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit." (Lang 2002, 52) Dagegen der andere: "Arbeitnehmer und ihre Familien wurden ins Zentrum der politischen Arbeit gerückt... Gemessen an den gewerkschaftlichen Wahlprüfsteinen und den Versprechen der SPD im Wahljahr ist das Erreichte ein Erfolgsgeschichte." (Tiemann 2002, 44ff.)

Es wäre eine Verharmlosung, eine Ignoranz gegenüber den ‚individuellen Kosten‘, bliebe der moralische Druck bis hin zu persönlichen Anfeindungen unerwähnt, der solche Funktionswechsel zwischen den Organisationen als Schatten begleitet. Trotzdem repräsentiert dieses akzeptierte Verhältnis zwischen primärer Bindung und zweitrangiger Zugehörigkeit eine unterschätzte Toleranz, eine für die Kultur der Arbeiterbewegung keineswegs selbstverständliche Anerkennung von Binnenpluralität. Im individuellen Kontakt auf der Ebene der Interaktion ermöglicht die Gemeinsamkeit, sich sowohl als KollegInnen als auch als GenossInnen zu begegnen, einen vergleichsweise geduldigen Umgang mit Dissens.

Zwischenbilanz: Im Verhältnis SPD und Gewerkschaften wird von den politisch Aktiven Doppelmitgliedschaft mit Selbstverständlichkeit erwartet, ihr Fehlen aufmerksam registriert. In sozialdemokratischen und inzwischen auch in grünen Gefilden kennen GewerkschaftsfunktionärInnen im Zweifel immer jemand, der jemanden kennt, mit dem ein schnelles Telefonat, ein eiliger Email-Kontakt oder ein kurzfristiges Gespräch möglich ist. Damit ist noch nichts über Zustimmung oder Ablehnung gesagt, aber über ein beachtliches Maß an Kommunikationschancen. Die Doppelmitgliedschaft wird auch im Konfliktfall in der Regel aus- und durchgehalten. Ausnahmen gibt es immer wieder, aktuell etwa wegen der Gründung der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" und der sie begleitenden Austritte bzw. Ausschlüsse.

Für die anderen Bundestagsparteien gilt, dass Gewerkschaftsmitgliedschaft entweder als Privatsache behandelt oder im Gegenteil das Parteimitglied als Botschafter, als Interessenvertreter der Partei in die Gewerkschaften hinein gesehen wird. Erfüllt es diese Funktion nicht, sinkt sein innerparteilicher Stellenwert. Eine Kontaktbasis zwischen Unionsparteien und Gewerkschaften ist vorhanden, sie ist jedoch noch schmaler geworden. Zwar reißt der Gesprächsfaden zwischen den politisch Verantwortlichen auf Unions- und Gewerkschaftsseite nur in Ausnahmesituationen gänzlich ab. Doch diese Gespräche haben, jedenfalls solange die Union nicht Regierungspartei ist, einen mehr politisch-diplomatischen Status als einen operativ-praktischen. Der informelle Informationsaustausch zwischen Unionsmitgliedern im Gewerkschaftsapparat und ihren Parteifreunden dient primär der innerparteilichen Orientierung, weniger dem Austausch zwischen Gewerkschaft und Union.

Problematische Erwartungen

In der Organisations-Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaften steckt der Teufel nicht im Detail, sondern in der Struktur. Ihre inter-organisatorische Kommunikation muss als gestört gelten. Dazu ein kurzer Exkurs. Analysen kommunikativen Handelns erkennen an Verständigungsprozessen eine Inhalts- und eine Sozialdimension. Die Mitteilung, die jemand macht, liefert nicht nur den Sachbeitrag zu einem Thema, sie leistet - bewusst oder unbewusst - zugleich einen Beitrag zur sozialen Beziehung zwischen Absender und Adressaten. Die Aussage über die soziale Beziehung, die in der kommunikativen Handlung implizit oder explizit gemacht wird, lässt sich daraufhin beobachten, was der Absender darin über sich selbst und welche Erwartung er an die Adressaten ausdrückt. In jeder Mitteilung "steckt ein Stück Selbstoffenbarung des Senders. Ich wähle den Begriff Selbstoffenbarung, um damit sowohl die gewollte Selbstdarstellung als auch die unfreiwillige Selbstenthüllung einzuschließen" (Schultz von Thun 2005, 27) Beides, die Selbstoffenbarung wie die Erwartung an Adressaten, kann in vielfältigen Nuancierungen vorliegen. Es gibt Mitteilungen, die überladen sind mit Erwartungen an die anderen. Manche Mitteilungen wiederum erscheinen gänzlich sachlich geprägt, während andere als die pure Selbstdarstellung wahrgenommen werden - "und während der Sprecher noch glaubt, dass er ein Argument produziert, glauben die Zuhörer schon zu erkennen, dass er vor allem sich selbst produziert" (Kieserling 1999, 46). Die Eigendarstellung und die Botschaft an die anderen müssen beziehungsadäquat sein, andernfalls werden sie als Störung erlebt. Ein Kommunikationsverhalten, das der Struktur der Beziehung entspricht, nimmt auf die wechselseitigen Erwartungen Rücksicht. Strukturen sind - soziologisch gesprochen - nichts anderes als stabil gewordene, im konkreten Fall schwer bis überhaupt nicht ignorierbare Erwartungen.

Die Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaft prägen problematische Erwartungen. Dieses Problem wurzelt tief in der deutschen Geschichte, es kulminiert in der Frage: "Wer führt wen?" (Walter 2000, 33). Die berühmte, bald hundertjährige "Mannheimer Antwort" des Jahres 1906, erstens sind beide gleichberechtigt, zweitens ist die "Einheitlichkeit des Denkens und Handelns von Partei und Gewerkschaft... ein unentbehrliches Erfordernis" (Handbuch 1910, 200), markiert das Problem wie unter dem Brennglas. Auf der Folie proklamierter gemeinsamer Werte, Ziele und Gegner sowie prinzipiell anerkannter gleicher Augenhöhe birgt jeder Konflikt das Risiko, dass die Führungsfrage aufgeworfen statt die Sachfrage ausdiskutiert wird. Dieses Risiko wird um so größer, je stärker der Druck in beiden Organisationen ist, auf die positive Binnenresonanz jeder Kommunikation zu achten. Was auf der individuellen Ebene die primäre Bindung bewirkt, dazu veranlasst auf der inter-organisationalen Ebene die Binnenreferenz. Wenn Beifall von der anderen Seite gefährlich wird, kann Dissens kommunikativ nicht mehr aufgelöst werden. Unterordnung - und im Falle ihrer Verweigerung Dauerkrach mit wechselseitigen Schuldvorwürfen - oder die Leugnung von Dissens bleiben als Alternativen. Darin deutlich unterschieden von der individuellen Ebene ist für die inter-organisationale Kommunikation zwischen SPD und Gewerkschaft ein schwieriger bis hilfloser Umgang mit Dissens typisch.

Das Resultat ist: Im Falle von Dissens - also genau in dem Fall, in dem Verständigungsmittel eingesetzt werden müssen, Konsens beendet Kommunikation (zu dem jeweiligen Thema) - gerät die Verständigung beider Organisationen zum Desaster. Als Absender präsentieren sich beide unverhohlen als Besserwisser, die von ihren Adressaten endlich Einsicht, sprich: Unterordnung erwarten. Die wechselseitige Beziehungsbotschaft lautet: Ich bin o.k., du bist nicht o.k. (vgl. Harris 1975) Das ist rational zwischen politischen Gegnern. Betont man jedoch gleichzeitig, aufeinander angewiesen zu sein, hat es etwas (Selbst-) Zerstörerisches. In Eskalationsphasen verzerrt sich die gegenseitige Wahrnehmung, als ob beide Seiten direkt Teile aus der "Anleitung zum Unglücklichsein" (vgl. Watzlawick 2003) nachspielen wollten.

Wie sehr die Kommunikations-Aufstellung, wie wenig die sachpolitische Situation ausschlaggebend ist, zeigt sich alleine schon an dem historischen links-rechts Seitenwechsel: Hatte die junge revolutionär gesinnte SPD schärfste Bedenken, die Gewerkschaften würden mit pragmatischen Kompromissen den Klassenkampf verraten und die Arbeiter an den Kapitalismus gewöhnen, so protestierten in der jüngeren Vergangenheit gerade umgekehrt die Gewerkschaften wiederholt gegen die alte Tante SPD, die unternehmerfreundliche Reformen auf dem Rücken der sozial Schwachen durchsetze. Schulterklopfende Kommunikation der Einverstandenen, die Dissens verschweigt, oder vorwurfsvolle Kommunikation der Unverstandenen, die Konsens vergisst, bilden die beiden dominanten Varianten der Verständigung zwischen SPD und Gewerkschaften.

Dieses Beziehungsmuster als Kommunikationsbasis vorausgesetzt, wird das politische Leben für SPD und Gewerkschaften durch drei Umstände besonders erschwert. Die drei Stressfaktoren sind a) das Mediensystem, b) die Regierungsbeteiligung und c) Deutungskämpfe und Realitätsverluste.

Zu a) Innerhalb des ausdifferenzierten Mediensystems hat die journalistische Kommunikation ein eigenes Funktionsschema ausgebildet, wie es die sogenannte Nachrichtenwert-Theorie elaboriert beschreibt (vgl. Burkart 2002, 275-286). Je stärker Aussagen und Ereignisse mit Nachrichtenwerten wie Aktualität, Betroffenheit, Prominenz, Konflikt, Überraschung etc. aufgeladen werden können, desto mehr Aufmerksamkeit wird ihnen geschenkt. Wenn zwei relevante gesellschaftliche Akteure prinzipielle Eintracht predigen, ziehen ihre Konflikte automatisch - gänzlich unabhängig von politischem Wohl- oder Übelwollen - journalistisches Interesse auf sich. Der politische Journalismus beobachtet die Beziehung SPD-Gewerkschaften deshalb primär durch die Brille Konflikt oder Konsens und investiert darüber hinaus - um der Möglichkeit der Berichterstattung willen - eigene Recherche- und Interpretationskünste, um Konflikte ausfindig zu machen und als möglichst große darzustellen; der - grob vereinfacht - rechte Journalismus logischerweise noch ein wenig mehr als der linke. Der Journalismus wirkt deshalb für die Kommunikation zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften wie das Salz, das in die Wunde gestreut wird. Gewiss nicht nur, aber auch deshalb sind Journalisten in beider Augen unbeliebt.

Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit versuchen SPD und Gewerkschaften auf die journalistische Produktion Einfluss zu nehmen. Dabei fällt auf, dass DGB und Gewerkschaften die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit - von der schlichten Pressemitteilung bis zum groß angelegten kampagnenförmigen Auftritt - in Zeiten der konservativ-liberalen Regierung schneller, häufiger und umfassender einsetzten als zunächst bei Schröder/ Fischer. Unter Rot-Grün beginnen sie öffentlichen Druck erst aufzubauen, wenn sich intern bei den nichtöffentlichen Verhandlungen Niederlagen abzeichnen. Oder sie gehen an die Öffentlichkeit, um ihre Verhandlungserfolge zu verkünden und dadurch auch abzusichern. Journalistisches Interesse ist im ersten Fall, dem Konfliktfall, von vorne herein gegeben, im zweiten, dem Verlautbarungsfall, kommt es auf die Bedeutung des Themas und die Umstände der Konsensfindung an. Die rot-grüne Regierung ihrerseits, gerade gegenüber den Gewerkschaften in der Regel nur an Konsensdarstellung interessiert, nützt nicht selten ihre journalistischen Kontakte, um auch dort Übereinstimmung zu transportieren, wo schlechte Stimmung herrschte - was die Gewerkschaften dann in die Zwickmühle manövriert, ob sie mit Blick auf unzufriedene Mitglieder scharf dementieren oder in Anbetracht künftiger Kooperationschancen mit der Regierung nur vorsichtig korrigieren sollen.

Zu b) Der Regierungsfall - von beiden angestrebt und, wann immer er eintritt, begrüßt bis bejubelt - erweist sich in der Kommunikationspraxis zwischen SPD und DGB-Gewerkschaften als der wahrscheinlichste Konfliktfall. Hier tritt ein durchgängiges Dilemma linker, systemkritischer Politik zutage. "Mit der Linken an der Macht erlosch zuverlässig das zuvor begeistert entzündete Licht einer besseren Zukunft, das wohl allein in Oppositionszeiten strahlend hell zu leuchten vermag", kritisiert Franz Walter (2005, 56) Gegenwart und Vergangenheit sozialdemokratischer Regierungskunst. Die Frage drängt sich auf: Ist es möglich, unter den Bedingungen des real existierenden Kapitalismus eine als erfolgreich anerkannte Regierungspolitik zu machen und gleichzeitig die Veränderungen durchzusetzen, die in sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Programmen stehen? Der moderne Staat ist kein beliebig dirigierbares Machtinstrument. Der Zustand der Regierungspolitik verrät erstens und vor allem etwas über den Zustand der Gesellschaft. So hätte es ohne ein ökologisches Bewußtsein in der Gesellschaft keine ökologische Regierungspolitik gegeben. Es muss auffallen, dass die Gewerkschaften im Umgang mit ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten, die ihnen Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen eröffnen, bei Fehlentwicklungen deutlich unaufgeregter reagieren als auf "Fehlentscheidungen" sozialdemokratischer Regierungen. Die strukturellen Schranken, die eigene Misserfolge erzeugen, sind offenbar leichter anzuerkennen, als Restriktionen, an welchen andere scheitern.

Der einzige institutionalisierte Gesprächskontakt, den es zwischen einer Partei und den Gewerkschaften gibt, wurde - wenig überraschend - ins Leben gerufen, als die SPD mitregierte. "Ich frage, ob alle Gewerkschafter wissen, was sie tun, wozu sie aufrufen und wofür sie Geld ausgeben lassen."3 Der da fragte, hieß Willy Brandt, war Vizekanzler in einer Großen Koalition, die sich anschickte Notstandsgesetze zu verabschieden, gegen die auch Gewerkschaften massiv demonstrierten. Angesichts der scharfen Auseinandersetzung beschloss der Nürnberger Parteitag 1968 auf Brandts Vorschlag, einen "Gewerkschaftsrat" ins Leben zu rufen, der die Partei "in wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen berät". Der Gewerkschaftsrat - ihm gehören das SPD-Präsidium und alle Gewerkschaftsvorsitzenden an, soweit sie SPD-Mitglied sind - ist bis heute der "Entfroster" geblieben, der eingesetzt wird, wenn wieder einmal Eiszeit ausgebrochen ist zwischen der regierenden SPD und den protestierenden Gewerkschaften. Bevor dieses Instrument "einberufen" wird, hat es gewöhnlich viele gewerkschaftliche Bemühungen in Form klassischer Lobby-Arbeit gegeben in der SPD-Bundestagsfraktion, in Ministerien und dem Bundeskanzleramt.4 Die Anschlusskommunikation an die Sitzungen des Gewerkschaftsrates nimmt einen typischen Verlauf: Die (regierenden) SPD-Vertreter betonen die Übereinstimmungen. Die Gewerkschaften versuchen ihre Position als "kritische Solidarität" zu beschreiben, soll heißen, wir möchten keinen Bruch, wollen aber auch nicht klein beigeben. Und die Journalisten sammeln in "gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen" Indizien für schlechte Stimmung und böse Worte. Gefangen in der pathologischen Struktur ihrer Beziehung verbietet es sich für die Beteiligten, die strittigen Punkte offen zu benennen, die Differenzen zu erläutern und sich des beiderseitigen Respekts zu versichern.

Auf den Punkt gebracht: Regierungszeiten sind deshalb Konfliktzeiten, weil die Beziehungsstruktur von SPD und Gewerkschaft fast automatisch zu gegenseitiger Überforderung führt. Die Gewerkschaft soll der Regierung Massenloyalität sichern, der SPD-Kanzler soll den Wunschzettel der Arbeitnehmerorganisationen abarbeiten. Wie sehr sie in Sonntagsreden auch Rücksicht auf die jeweilige Rolle und Funktion des anderen beteuern mögen, im Alltagsgeschäft sind die Erwartungen andere.

Zu c) Diese Entscheidung steht ständig an: Zu unterscheiden zwischen den Realitäten, an die man sich anpasst, und den Realitäten, deren Veränderung man sich zutraut. Die Schwerversöhnlichkeit, mit der Gewerkschaften und SPD vom Frühjahr 2003 bis zum Herbst 2004 einander quälten, kann nicht alleine als Beziehungskonflikt verstanden werden, sie kommt der Konfrontation zweier Sinn-Welten gleich. Das ist als Prozess in sich logisch: In einer Beziehung, die von lauten Vorwürfen und sturem Schweigen beherrscht wird, werden Wahrnehmungen und Deutungen nicht mehr kontrolliert, abgeglichen und gegebenenfalls korrigiert. Auf diese Weise wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich jede Seite ungestört ihre Wirklichkeit schafft. Und dabei ihre eigene Entscheidung trifft, wo und wie sie Anpassung praktizieren, wo und wie sie Veränderung probieren will. Genau das ist zwischen der Schröder-Regierung und großen Teilen der DGB-Gewerkschaften passiert.

Es gibt ein bürgerlich-liberales Selbstbild der modernen Gesellschaft, das sagt: In diesem unserem Land kann jeder, inzwischen auch jede, ein unabhängiges eigenständiges Leben führen. Eigentum und/oder das aus einem freien Vertrag hervorgehende Arbeitsverhältnis garantieren ein lebenswertes Dasein aus eigener Kraft. Wem es besser gelingt, der hat sich klüger verhalten und mehr geleistet. Wem es nicht gelingt, den hat entweder ein besonders unglückliches Schicksal ereilt oder er hat Fehler gemacht, sich dumm angestellt. Unsere Gesellschaft jedenfalls verursacht kein dauerhaftes Scheitern.

Sozialdemokratische Politik und gewerkschaftliche Arbeit, so kann man zuspitzen, basieren auf der Differenz zwischen diesem Weltbild und den Erfahrungen der abhängig Beschäftigten. Denn diese haben historisch etwas anderes erlebt: Das auf dem freien Arbeitsvertrag beruhende Arbeitsverhältnis bescherte den abhängig Beschäftigten ein armseliges, unsicheres, kapitalistischem Kalkül unterworfenes Leben. Deshalb haben sie sich zu kollektivem Handeln zusammen geschlossen und dabei im Kern drei Zwecke verfolgt. Erstens soziale Absicherung, weiter entwickelt bis hin zum Wohlfahrtsstaat, zweitens politische Demokratie, drittens Mitbestimmung über die Arbeitsbedingungen (vor allem mittels Tarifvertrag). Diese Erfahrungen haben sich in einem traditionslinken Selbst- und Weltverständnis verfestigt, in dem Arbeitnehmer in jedem Fall Opfer und im Konfliktfall zum (Abwehr)Kampf aufzurufen sind.

Gemessen am bürgerlich-liberalen Selbstbild, in dem so etwas wie eine Gewerkschaft gar nicht vorkommen dürfte, haben die Arbeitnehmerorganisationen eine unglaubliche Erfolgsgeschichte hinter sich. Zu den paradoxen Pointen ihrer Erfolge gehört, dass das bürgerliche Gesellschaftsbild realitätstüchtiger geworden ist. Vom Bundeskanzler abwärts machen sich nicht wenige Söhne der Sozialdemokratie zu Kronzeugen dafür, indem sie mit wachsender Begeisterung ihre sozialen Karrieren erzählen. Sie stärken damit die große bürgerliche Erzählung: Die Menschen dieses Landes haben eine Chance, manche größere, andere schlechtere, keine hat niemand.

Aus der Opposition gegen die alten Verhältnisse speist sich das Gemeinsame zwischen SPD und Gewerkschaft. Den neuen Verhältnissen, den Modernisierungsprozessen im digitalisierten und globalisierten Kapitalismus einen Sinn abzugewinnen, der ihnen gesellschaftliche Deutungshegemonie verschafft, ist weder der SPD noch der Gewerkschaft gelungen. Beide neigen dazu, das zu ignorieren. Vielleicht weil sie zu stark damit beschäftigt sind, sich als Verräter der alten Ideen bzw. als Ignoranten der neuen Realitäten zu brandmarken.

Perspektivwechsel: Ein Gehgips und Krücken sind für ein gebrochenes Bein eine große Bewegungshilfe, für ein gesundes stellen sie ein massives Hindernis dar. Der kollektive Schutz des Tarifvertrages und des Sozialstaates, für Liberale und viele Konservative stets ein Hemmschuh, haben Menschenwürde und Lebensqualität der "Opfer" über viele Jahrzehnte gesichert. Aber die Erfolge von gestern sind die Probleme von heute. Trotzdem verweigert die Traditionslinke die Frage, ob nicht neue, vielleicht sogar bessere Mittel und Wege denkbar und durchsetzbar sind. Sie kann Risiken, soziale Gefährdungen, Arbeits- und Obdachlosigkeit nicht anders denken als mit Blick auf die Geschichte ihres Kampfes gegen die Angriffswut und Kälte des Frühkapitalismus. Deshalb heißt ihre Losung Abwehr. Wie der Papagei auf der Stange starrt sie auf die sich wandelnde Welt und krächzt in immer kürzeren Abständen "neoliberal". In ihrer Wirklichkeit kann sie sich sogar einbilden, Schröder mache den Platz frei für eine neue alte Partei.

Glaubt man dem Teil der Sozialwissenschaften, der unsere Gesellschaft in emanzipatorischer Absicht analysiert - wem soll man sonst glauben -, dann sind wir nicht auf dem Weg zurück ins 19. Jahrhundert, sondern in der Tat in einer Art Bürgergesellschaft angekommen, allerdings mit hohen Risiken und starken sozialen Verwerfungen. Weil Konkurrenz das Verhalten und der Erfolg (keineswegs die Leistung) das Maß der Anerkennung bestimmen, gehören Abstieg, Ausgrenzung und die Angst davor zur alltäglichen Lebenserfahrung. Soviel soziale Unsicherheit war lange nicht. Kein Wunder, denn wir leben seit fast drei Jahrzehnten auf einer Großbaustelle. Der Altbau nationale Industriegesellschaft, in dem wir schön gewohnt und uns gut eingerichtet hatten, weicht dem Neubau einer digitalisierten und globalisierten Dienstleistungsgesellschaft.

Die Agenda 2010, der ganze Schröder antwortet darauf mit der Attitüde: Leute, ihr seid Angsthasen, jetzt macht mal halblang und strengt euch ein bisschen mehr an. Das kommt an, nur nicht gut. Die Abwehr-Politik der Traditionslinken reagiert darauf mit ausgeleierter Opfer- und Kampf-Rhetorik. Das kommt gar nicht erst an. Sie machen es ihnen schwer, Schröder seinen Wählern und die Gewerkschaften ihren Mitgliedern. Die Agenda-Politik predigt Anpassung an gegenwärtige Notwendigkeiten, die Protestpolitik setzt die Verteidigung der Vergangenheit dagegen. Zukunft haben beide nicht. Sie verstehen es nicht, Hoffnungen auf den Neubau zu wecken, der Zukunft einen "linken" Sinn zu geben.

Und genau das ist der Punkt, der die Bitternis, die Schärfe der kommunikativen Konfrontation um die Agenda-Politik erklärt: die politisch deprimierende Erfahrung, dass sie beide nicht wirklich anschlussfähig sind. Die einen erklären, der Ball sei quadratisch, die anderen beteuern, er sei dreieckig. So genau weiß heute niemand mehr, wie Bälle sind, aber die Neigung sie für rund zu halten ist nach wie vor sehr hoch.

Soll Politik "links von der Mitte" eine neue Chance haben, werden in SPD und Gewerkschaften die Vielen den Mund aufmachen müssen, die bisher offiziell brav abnickten und inoffiziell verzweifelt abwinkten. Es mangelt ihnen nicht an Ideen, das emanzipatorische Potential des großen gesellschaftlichen Umbaus frei zu legen. Die offene, nachhaltige, verbindliche, gemeinsame Zukunftsdebatte fehlt. In der Ablösung des industriellen Normalarbeitsverhältnisses etwa stecken doch nicht nur Bedrohungen, sondern auch Perspektiven für die Befreiung in der Arbeit. In der Entkopplung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit z.B. liegen doch nicht nur Gefahren, sondern auch Möglichkeiten der Befreiung von der Arbeit. Wann fangen die Vielen an, was sie unter vier bis acht Augen engagiert vortragen, auch mit Entschiedenheit öffentlich zu vertreten? Das wäre eine Kommunikation sowohl von als auch zwischen SPD und Gewerkschaften, die Hoffnung macht.

Anmerkungen

1 Auskunft des Referates Parteiorganisation vom 15.4.05 mit der ergänzenden Bemerkung "Mitgliederdaten werden beim Parteieintritt erhoben. Änderungen können nur bei Meldung durch das Mitglied erfolgen. Da viele Mitglieder als Schüler etc eintreten, dürfte die tatsächliche Zahl der Gewerkschaftsmitglieder höher sein, als dies unsere Statistik ausweist."

2 Zahlen nach www.einblick.dgb.de/archiv/9907/gf990703.htm

3 Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (1968) in Nürnberg. Protokoll der Verhandlungen. Angenommende und überwiesene Anträge, Seite 84

4 Für die Phase vor der Regierungserklärung vom 14. März 2003, der sogenannten Agenda-Rede, vgl. die Darstellung in Korte/ Fröhlich (2004), 295-305

Literatur

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Zeuner, B. (2000): Gewerkschaften 2000 - politisch auf sich gestellt? Sechs Beziehungsmuster zur SPD, 40-46

Dr. Hans-Jürgen Arlt, freier Publizist und Kommunikationsforscher

aus: Berliner Debatte INITIAL 16 (2005) 5, S. 22-29