Eine Frage der Ehre.

Der Mord an Hatin S. als Herausforderung für die moderne Moralphilosophie

Es gibt grundsätzlich zwei Wege in die Moralphilosophie. Der erste besteht darin, sich zunächst Gedanken über die zentralen Bausteine unserer normativen Verpflichtungen zu machen

- über das grundlegende moralische Gesetz, das Summum bonum oder die sprachliche Bedeutung moralischer Aussagen -, um dann aus diesen universellen Prinzipien Schlußfolgerungen in bezug auf konkrete moralische Urteile und Entscheidungen in Einzelfällen zu ziehen. Paradigmatisch für diese Herangehensweise ist Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", in der Kant zunächst beim Kategorischen Imperativ anlangt, bevor er sich der moralischen Bewertung von Lug und Trug, Hartherzigkeit und Suizid zuwendet.
Der zweite Weg in die Moralphilosophie verläuft in entgegengesetzter Richtung. Er beginnt mit einem konkreten Problem - einem Moralurteil, einer Handlungsentscheidung, einem Dilemma -, um von dort aus ins Grundsätzliche zu gelangen. Dies ist der Weg, den viele Debatten in der angewandten Ethik genommen haben. Diese Debatten wurden zuerst durch Fragen nach der moralischen Bewertung spezifischer Handlungsoptionen ausgelöst, z.B. in der Medizin, im Umweltschutz, im Umgang mit Tieren, aber auch bei der Gestaltung internationaler Beziehungen, im Strafrecht, ebenso wie im zwischenmenschlichen Bereich, im Zusammenhang mit Freundschaft, Sexualität, dem Umgang mit dem eigenen Leben. Manchmal waren es sogar einzelne datierbare Ereignisse, die diese Diskussionen herausforderten: die Wachkomapatientin Karen Quinlan; das erste Retortenkind, Louise Brown; der Untergang der Exxon-Valdez; das Erlanger Baby; Klonschaf Dolly; die Folterandrohungen des Frankfurter Polizeichefs; die siamesischen Zwillinge von Herford; usw. Sie alle dienten als Auslöser für die ethische Reflexion, als Ethik-Trigger sozusagen.
In meinem Beitrag möchte ich ebenfalls diesen zweiten Weg einschlagen, und zwar auch bezogen auf ein konkretes Ereignis, das ich auf seine moralphilosophischen Implikationen hin untersuchen werde: den Mord an Hatin S. im Februar 2005 in Berlin. Ich möchte zeigen, daß und inwiefern diese Tat als Ethik-Trigger fungiert, also eine Herausforderung für die moderne Moralphilosophie darstellt.
Frau S. wurde 1981 in Berlin geboren. Mit 15 Jahren heiratete sie in Istanbul ihren Cousin und bekam dort ein Kind von ihm. Bereits kurz nach der Geburt des Kindes verließ sie aber ihren Mann und kehrte zusammen mit dem Kind nach Berlin zurück. Sie wohnte dort zunächst in einem Wohnheim, machte ihren Hauptschulabschluß, fing eine Lehre als Elektroinstallateurin an und zog bald mit ihrem Sohn in eine eigene Wohnung. Am 7. Februar 2005 wurde sie auf der Straße vor ihrer Wohnung erschossen. Wenige Tage nach der Tat nahm die Polizei ihre drei Brüder unter dringendem Tatverdacht fest. Ihnen wird vorgeworfen, ihre Schwester ermordet zu haben, um die Ehre der Familie wiederherzustellen, die durch das eigenmächtige Verhalten Hatins besudelt worden sei. Frau S. war vermutlich das Opfer eines so genannten Ehrenmordes geworden.1
Die These, daß dieses Verbrechen eine Herausforderung für die Moralphilosophie darstellt, ist zunächst alles andere als offensichtlich, denn der Berliner Mord unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht deutlich von Dolly und den anderen paradigmatischen Ethik-Triggern.
Der erste Unterschied liegt schon darin, daß beispielsweise Dollys Geburt das spektakuläre erste Ereignis seiner Art in der Weltgeschichte war, während Ehrenmorde an Frauen etwas ganz Alltägliches sind. Nach Angaben der Vereinten Nationen werden jährlich mindestens fünftausend Mädchen und Frauen aus Gründen der Ehre zum Teil bestialisch ermordet. Allein in Berlin sollen seit Mitte der 1990er Jahre 40 bis 50 Frauen einem Ehrenmord zum Opfer gefallen sein.
Anders als Wachkoma und Ölpest sind Ehrenmorde auch keine modernen Errungenschaften. Schon im Alten Testament wird bestimmt, daß eine Ehefrau, die bloß in den Verdacht geraten ist, nicht unberührt in die Ehe gegangen zu sein, und nicht ausdrücklich das Gegenteil beweisen kann, gesteinigt werden soll (Dtn 22,21). Auch im Neuen Testament wird die Steinigung nicht wirklich verdammt. Jesus knüpft sie bekanntlich nur an die (mittlerweile sprichwörtliche) Bedingung: Wer ohne Sünde sei, der werfe den ersten Stein (Joh 8,7).
Ehrmorde unterscheiden sich aber nicht nur insofern von den anderen Ethik-Triggern, als sie seit Jahrtausenden ein alltäglicher Bestandteil patriarchalischer Gesellschaften sind, sondern auch darin, daß sie in keine moralischen Zwickmühlen führen. Es gibt keinen Zweifel, daß die Tat der Brüder (vorausgesetzt natürlich, daß sich der Verdacht gegen sie bestätigen sollte) ganz und gar falsch war - nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch falsch, verboten und verwerflich. Nicht der Hauch eines Dilemmas entsteht. Eine Frau umzubringen, weil sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammenleben möchte, ist eine klare Verletzung ihrer elementaren Menschenrechte. Daß es ihre Brüder waren, die diese Tat begangen haben, und daß sie dazu möglicherweise von den Eltern und anderen Familienangehörigen angestiftet wurden, macht die Sache aus ethischer Sicht nur noch schlimmer, weil es dann auch noch ein Verrat an den besonderen Hilfsverpflichtungen ist, die sich aus familiären Beziehungen ergeben.
Allerdings endet die ethische Betrachtung nicht bei der moralischen Verurteilung. Das negative Werturteil bildet vielmehr die Voraussetzung für eine zweite Frage, die Frage nach der Toleranz. "Toleranz" ist in unserem allgemeinen Sprachgebrauch ein durch und durch positiv besetztes Wort, was gelegentlich zu Lasten seines genauen Verständnisses geht. So wird jemand beispielsweise häufig als ‚tolerant‘ bezeichnet, wenn er allem Neuem und Fremden gegenüber interessiert und aufgeschlossen ist. Im eigentlichen, ursprünglichen Wortsinn setzt Toleranz aber erst dann ein, wenn man nicht mehr offen ist, sondern wenn man sich schon eine Meinung gebildet hat, und zwar eine negative Meinung. Wer das Verhalten eines anderen toleriert, der tut dies, obwohl er es eigentlich nicht gut findet. Nicht der deutsche Tänzer auf der türkischen Hochzeit ist tolerant, sondern der Nachbar, der zwar lieber schlafen möchte, sich aber trotzdem nicht über die Musik beschwert. Kurz, Toleranz setzt erstens ein kritisches Werturteil voraus - im Unterschied zur Akzeptanz - und zweitens die Überzeugung, daß einen das Geschehen irgendetwas angeht - im Unterschied zur bloßen Gleichgültigkeit.
Insofern ist also die moralische Verurteilung des Mordes an Hatin S. erst eine Voraussetzung dafür, daß man sich fragen kann, ob man Taten wie diese tolerieren sollte oder nicht. In Städten wie Berlin, in denen kulturell und biographisch vielfältige Bevölkerungsgruppen zusammenleben, ist Toleranz ein wichtiges und kniffliges ethisches Thema. Gerade mit Bezug auf die traditionalistisch-konservativen türkisch- bzw. kurdischstämmigen Familien, aus denen Frau S. stammte, wird immer wieder darüber diskutiert, ob beispielsweise Kopftücher am Arbeitsplatz, die Abmeldung der Töchter vom Sportunterricht, Ehen von Minderjährigen toleriert werden sollten.
Für Ehrenmorde aber stellt sich diese Frage nicht. Niemand diskutiert ernsthaft, ob man die Brüder, Väter oder Ehemänner, die solche Taten begehen, vielleicht gewähren lassen sollte. Zu offenkundig endet die Toleranz beim fundamentalen Lebensrecht. Auch in dieser Hinsicht ist die Ethik also nicht herausgefordert.
Daß das Verbrechen überhaupt etwas mit Ethik zu tun habe, war überraschenderweise trotzdem schnell Konsens in der öffentlichen Debatte - allerdings nicht als Gegenstand moralphilosophischer Forschung, sondern als Anlaß für die Forderung, einen Ethik- oder (wie es häufig heißt) Werte-Unterricht in der Schule einzurichten. Auslöser für diese Forderung war der offene Brief des Direktors einer benachbarten Hauptschule, in der türkischstämmige Jugendliche unverblümt ihr Verständnis für den Mord und ihre Verachtung des Opfers zum Ausdruck gebracht hatten. Weil in Berlin zudem, anders als in den meisten anderen Bundesländern, Religionsunterricht kein reguläres Schulfach ist, sondern nur in Eigenregie der Religionsgemeinschaften angeboten wird, wurde diese Forderung häufig mit einem Plädoyer für die Einführung des konfessionellen Religionsunterrichts verbunden.
Im Grunde genommen ist das aber eine seltsame Reaktion auf den Mord und seine jugendlichen Sympathisanten: Eigentlich, möchte man meinen, ist ein Ehrenmord gerade kein Anzeichen von zu wenig Werten. Er ist nicht Ausdruck von Sittenverfall und Verlotterung, so daß dann der Ruf nach Wertorientierung z.B. im Rahmen der Religionen gerechtfertigt sein könnte. Hatin S. ist nicht ermordet worden, weil die maßgeblichen Akteure nichts mit Moral im Sinn hatten, sondern deshalb, weil sie sehr genaue Wertvorstellungen hatten, und zwar solche, die sie schließlich in diese Tat getrieben haben. Eher, könnte man sagen, zeugt dieser Mord von viel zu vielen Werten. Oder zumindest: von den falschen Werten. Und natürlich ist es das, was die Befürworter des Werteunterrichts meinen: Den Jugendlichen sollen die richtigen Werte beigebracht werden, damit sie nicht mehr auf die Idee kommen, es könnte angemessen sein, eine Frau umzubringen, weil sie ihren Mann verläßt, geschweige denn, selbst so etwas zu machen.
Die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Werten zählt thematisch zur normativen Ethik, aber wie gesagt, die Frage, ob die Tat richtig oder falsch war, ist ethisch trivial. Die Feststellung, daß die Täter durch ihre strikten Wertvorstellungen zu der Tat motiviert wurden, weist der Ethik allerdings noch eine neue, zweite Aufgabe zu. Auch wenn klar ist, daß die elementaren Menschenrechte den Mord verbieten, fragt es sich doch, was per se von den moralischen Motiven der Täter zu halten ist, von denen sie offensichtlich dachten, daß sie das Lebensrecht ihrer Schwester aufwiegen würden.
Auf den ersten Blick scheint allerdings auch das keine komplizierte Frage zu sein. Die Bezeichnung der Tat als "Ehrenmord" impliziert bereits, daß es die Täter als Ehrensache betrachtet haben, die Frau zu töten. Es war ein Gebot der Ehre, und solche, wie es häufig heißt, "archaischen" Ehrgebote gehören nach verbreiteter Überzeugung in die Ethnologie, nicht in die Moralphilosophie. Aus dieser Sicht war das Lebensrecht der Schwester nicht nur gewichtiger als das Ehrgebot, sie zu töten, sondern das Ehrgebot hatte auch für sich gesehen keinerlei moralische Relevanz.
Und natürlich stimmt das auch: Es gibt keine moralische Verpflichtung, dafür zu sorgen, daß eine erwachsene Tochter oder Schwester bei ihrem Ehemann bleibt oder überhaupt einen bestimmten Lebenswandel pflegt, noch ist die Frau ihrer Familie gegenüber zu einem solchen Verhalten verpflichtet. Die Motive der Täter waren schon für sich gesehen moralisch unhaltbar und nicht bloß weniger gewichtig als die Menschenrechte der Schwester.
Die entscheidende Frage ist aber, woran dies liegt. Liegt es daran, daß Gebote der Ehre grundsätzlich keine normative Kraft haben, oder liegt es daran, daß dieses spezielle Ehrgebot unmoralisch ist? Anders ausgedrückt: Sollte die normative Ethik der Ehre überhaupt eine normative Kraft einräumen, oder ist die Ehre ein Relikt aus vormoralischen Zeiten, das in der modernen, aufgeklärten Ethik keine Rolle spielen kann?
Darin liegt meines Erachtens die ethische Bedeutung des Berliner Ehrenmordes. Er hat gezeigt, daß nicht so sehr unterschiedliche religiöse Überzeugungen oder bloße Traditionen und Werte, sondern unterschiedliche Ehrvorstellungen hinter vielen interkulturellen Konflikten in unserer Gesellschaft stehen. Die Herausforderung für die moderne Ethik liegt darin, der Ehre eine passende Rolle zuzuweisen.
Die Bezeichnung der Ehre als "archaisch" deutet schon darauf hin, daß Ehrmotive eine lange Tradition haben. Schließlich beginnt die abendländische literarische Tradition bereits mit Mord und Totschlag im Namen der Ehre des Königs Menelaos - dessen Versuch, seine Ehre wiederherzustellen, bekanntlich fast gescheitert wäre, weil wiederum sein Bruder Agamemnon die Ehre von Achilles kränkte. In den griechischen wie auch den römischen und germanischen Gesellschaften war die Ehre überragender Maßstab allen Handelns (zumindest der Eliten). Eine Mißachtung der Ehre mußte von dem Betroffenen unter allen Umständen gesühnt werden, in Schande zu leben war unerträglich. Im Mittelalter fächerte sich der Ehrbegriff dann geburts- und berufsständisch auf. Dem Adel wurde die Ehre zum Kern des höfisch-ritterlichen Lebens, Handwerker und Kaufleute nutzten die so genannte ‚Ehrlichkeit‘ zur Standessicherung gegenüber der bunten Vielfalt ehrloser Bevölkerungsgruppen. Strafen beschränkten sich nicht darauf, Menschen Schmerz zuzufügen oder sie zu töten, sondern beabsichtigten auch die gezielte Entehrung der Delinquenten, so etwa das seit dem 13. Jahrhundert verbreitete Am-Pranger-stehen-Müssen.2
Der Eindruck, daß nicht nur der Pranger, sondern die Ehre insgesamt längst überholt sei und in die Tiefen der Geschichtsbücher verdammt gehöre, wird durch ihre unheilvolle Rolle im zwanzigsten Jahrhundert noch verstärkt. Ausgerechnet in der schändlichsten Phase der deutschen Geschichte war andauernd von der Ehre die Rede, so z.B. im Titel des "Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" von 1935, in dem alle Formen intimen Kontakts zwischen sogenannten ‚Ariern‘ und Juden verboten wurden.
Auch der Blick auf die jüngste Geschichte nimmt nicht unmittelbar für den Ehrbegriff ein. Weder das Attentat auf das World Trade Centre noch der folgende amerikanische Angriff auf Afghanistan lassen sich ohne Rückgriff auf die Ehre befriedigend erklären. Die Zerstörung der Twin Towers wurde offenkundig von der US-Regierung und von großen Teilen der Bevölkerung als so gewaltige Demütigung empfunden, daß nur eine massive Vergeltung oder Bestrafung der Täter die Ehre wiederherstellen konnte, bis hin zu der Übersprungshandlung, nach dem enttäuschend glanzlosen Sieg in Afghanistan gleich noch den Irak zu attackieren.
Der Rekurs auf die Ehre hat im Laufe der Geschichte also eine so blutige Rolle gespielt, daß es naheliegt, ihr in der Ethik keinen Wert, kein eigenständiges Gewicht einzuräumen. Andererseits kann man aber auch fragen, welche Konsequenzen eine solche Ausgrenzung der Ehre aus der Ethik hätte. Denn auch wenn ihr in der moralphilosophischen Reflexion wenig Beachtung geschenkt wird, so ist die Ehre doch nach wie vor ein selbstverständlicher Teil unseres normativen Alltags.
Erstens verwenden wir dauernd das Wort "Ehre". Dem Mechaniker geht es gegen seine Ehre, einen Motor nur notdürftig zusammenzuflicken. Der Trainer des Abstiegskandidaten appelliert vor dem entscheidenden Match an die Ehre seiner Spieler, die Angehörigen einer Geisel an die Ehre der Entführer. Altkanzler geben ihr Ehrenwort, ebenso wie übrigens auch die Absolventen der Philosophischen Fakultät Zürich, die durch Ehrenwort versichern müssen, ihre Lizentiatsarbeit ohne fremde Hilfe geschrieben zu haben.
Wichtiger als die Verwendung des Wortes "Ehre" ist aber die Begriffsfamilie, die mit dem Begriff der Ehre eng zusammenhängt, und bei der zumindest nicht klar ist, wie sie sich in eine Ethik ohne Ehre integrieren ließe. Zu dieser Begriffsfamilie zählen beispielsweise Scham und Schande, Ruf und Ansehen, Würdigung und Demütigung, Beleidigung und Peinlichkeit. Eine Ethik, die nichts daran auszusetzen hat, wenn jemand beleidigt oder gedemütigt wird, weicht befremdlich weit von unseren üblichen Moralvorstellungen ab. Natürlich ist es unmoralisch, Menschen zu mobben, zu verleumden, sie herunterzuputzen und abzukanzeln, dafür zu sorgen, daß sie das Gesicht verlieren, sie bloßzustellen oder gar zu schänden und in den Staub zu drücken. Da es zugleich aber naheliegt, Beleidigungen und Demütigungen als Formen der Ehrverletzung zu charakterisieren, scheinen wir doch auf die Ehre angewiesen zu sein. Keine Ethik ohne Beleidigung, keine Beleidigung ohne Ehre.
Wiederum hat die Ehre historisch einen deutlich anti-egalitäten Charakter, der sie abermals moralphilosophisch suspekt macht. Die Ehre unterschied eben den Freien vom Leibeigenen, den Adligen vom Bauern, den satisfaktionsfähigen Großbürger vom nicht satisfaktionsfähigen Handwerker. Und natürlich unterschied sie häufig Mann und Frau. Die Ehre der Frau in patriarchalischen Gesellschaften liegt primär in ihrer sexuellen Keuschheit, die des Mannes nicht in seiner, sondern unter anderem in der Keuschheit seiner weiblichen Angehörigen. Wenn eine akzeptable moderne Ethik in all diesen Hinsichten egalitär sein sollte, scheint sie zwangsläufig ohne Ehre auskommen zu müssen.
Vielleicht gibt es aber einen Ausweg aus dem Dilemma, Beleidigungen und Demütigungen zu verurteilen, ohne auf einen eigenständigen Wert der Ehre zurückzugreifen. Beleidigungen und Demütigungen sind häufig beschämend, und Scham ist ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl. Jeder weiß, wie es an einem nagen kann, wenn man sich gekränkt fühlt, wenn man im Geiste die Situation immer wieder durchgeht, schlagfertige oder heldenhafte Erwiderungen ersinnt, auf die man nur nicht gekommen oder die man sich nicht getraut hat. Schwerwiegende Beleidigungen können einen Menschen ein ganzes Leben lang umtreiben. Aber natürlich ist es in keiner Moral belanglos, ob man mit einer Handlung unangenehme Gefühle verursacht. Deshalb kann man versuchen, das moralisch Fragwürdige an Beleidigungen und Demütigungen auf die dadurch hervorgerufenen negativen Empfindungen zurückzuführen. Rufmord zu begehen, wäre dann moralisch verwerflich, weil es unangenehm für das Opfer ist, einen schlechten Ruf zu haben.
Der entscheidende Schwachpunkt dieses reduktionistischen Vorschlags liegt darin, daß er gegenüber den Inhalten der Demütigung indifferent ist. Das Gefühl der Beschämung muß gewaltig sein, wenn sich eine Familie entscheidet, ihre eigene Tochter umzubringen, viel stärker als die Beschämung nach einem gewöhnlichen Rufmord oder Mobbing. Trotzdem ist der Rufmord unmoralisch, die Flucht vor dem Ehemann nicht. Eine flüchtende Tochter bringt zwar vermutlich in ihrer Familie viele schmerzhafte Gefühle hervor, Peinlichkeit, Beschämung; aber das spricht nicht gegen die Tat, sondern gegen die Einstellungen der Familienmitglieder, die für diese Gefühle verantwortlich waren. Kurz, wem an seinem guten Ruf gelegen ist, der hat recht, wenn er sich schlecht fühlt, nachdem sein Ruf in den Dreck gezogen wurde, denn es ist legitim, einen guten Ruf haben zu wollen. Hingegen ist es nicht legitim, seine Ehre an eine gehorsame Tochter zu knüpfen. Der Rückzug auf die verletzten Gefühle hilft der Ethik also nicht bei dem Problem, die Ehre zu integrieren, weil er die entscheidende Frage offenläßt, warum manche Ehrverletzungen (wie der Rufmord) moralisch abzulehnen sind, andere (wie das Verlassen eines Ehemanns) hingegen nicht.
Um darauf eine Antwort zu finden, muß man sich zunächst den Begriff der Ehre etwas genauer anschauen. Die Ehre eines Menschen bündelt sowohl normative Verpflichtungen für ihn selbst als auch Verpflichtungen anderer ihm gegenüber. Sich bei einem Vorgesetzten einzuschmeicheln, ihn kriecherisch zu behandeln, ist ein typisches Beispiel, wo wir auch heute noch sagen würden, jemand verhalte sich unehrenhaft. Umgekehrt wäre es eine Mißachtung der Ehre eines Untergebenen, würde der Chef genau diese Unterwürfigkeit von ihm verlangen.
Allerdings ist natürlich nicht jede normative Verpflichtung sich selbst oder anderen gegenüber ein Gebot der Ehre. Wenn die Ehre blutige Vergeltung fordert, ändert dies nichts an dem universellen moralischen Recht auf Leben oder am strafrechtlichen Tötungsverbot. Gebote der Ehre sind auch nicht einfach ex negativo zu charakterisieren, als weder moralisch noch rechtlich legitimierte Verpflichtungen. Denn zum einen schließen sich diese Legitimationsgrundlagen nicht wechselseitig aus. Eine Ohrfeige ist sowohl eine Beleidigung, wie auch eine Verletzung der individuellen Integrität, wie auch eine strafbare Körperverletzung. Zum anderen gibt es weitere normative Verpflichtungen, Gebote der guten Sitten beispielsweise, die keine Ehrverpflichtungen bilden. Niemand riskiert seine Ehre, wenn er sich nicht an der Bürokollekte für die Geburtstagskasse beteiligt. Was also ist das Kennzeichen von Geboten der Ehre?
Ich möchte vier Eigenschaften nennen, die es zusammengenommen erlauben, Ehrgebote von anderen normativen Verpflichtungen zu unterscheiden, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob es sich bei allen um notwendige Bedingungen handelt:
Erstens ist eine Ehre immer eine "Ehre als Â…", sie ist bezogen auf eine bestimmte soziale Rolle, etwa eine Berufszugehörigkeit, eine gesellschaftliche Stellung, aber natürlich auch auf eine innerfamiliäre Rolle (z.B. als ältester Sohn, als Schwiegertochter). Die Gebote der Ehre ergeben sich dann aus dieser Rolle. (Wer etwa von seiner jüngeren Schwester in seiner Ehre als ältester Sohn verletzt wird, der wird von ihr nicht so behandelt, wie es sich dem ältesten Sohn gegenüber gehört.)
Die Verbindung mit einer sozialen Rolle hat zweitens zur Folge, daß es bei den Geboten der Ehre häufig auf den äußeren Schein ankommt. Ob sie eingehalten werden, hängt davon ab, ob die soziale Außenwelt sie für eingehalten erachtet. Dies bedeutet einerseits, daß bereits ein falscher Schein die Ehre verletzt. Die Ehefrau wird nicht erst dann gesteinigt, wenn bewiesen ist, daß sie nicht als Jungfrau in die Ehe gegangen ist, sondern schon dann, wenn sie nicht das Gegenteil beweisen, d.h. ihre Weste reinwaschen kann. Andererseits gilt eine zeugenlose Ehrverletzung als ungeschehen. Der Protagonist in Arthur Schnitzlers Erzählung "Leutnant Gustl" ist eine Nacht lang überzeugt, sich erschießen zu müssen, weil seine Ehre unwiderruflich verletzt sei, bis er am Morgen erfährt, daß der Ehrverletzer sang- und klanglos verschieden ist. Da ansonsten niemand von der Kränkung weiß, ist die Angelegenheit für Gustl erledigt.
Gebote der Ehre stellen drittens nicht nur Anforderungen an das Verhalten, sondern auch an weitere Lebensumstände der Person, die - unabhängig davon, wie sie zustande gekommen sind - nicht mit der Ehre dieser Person vereinbar seien. Besonders deutlich wird diese Komponente des Ehrbegriffs an der in vielen Ehrsystemen verbreiteten Forderung, daß unverheiratete Frauen jungfräulich zu sein haben. Sind sie es nicht mehr, dann haben sie ihre Ehre verloren, gleichgültig ob sie freiwillig mit einem Mann geschlafen haben oder vergewaltigt worden sind, einfach weil sie sich in einem mit ihrer Ehre unvereinbaren Zustand befinden.
Dieses dritte Merkmal steht in engem Zusammenhang mit dem vierten und wichtigsten Charakteristikum der Ehrgebote: den Folgen, die ihre Mißachtung nach sich zieht. Ehrverletzungen versetzen das Opfer in einen Zustand der Schande. Es ist eine Schande für Leutnant Gustl, beleidigt worden zu sein, eine Schande für den ältesten Sohn einer Familie, nicht respektvoll behandelt zu werden, eine Schande für seine Schwester, keine Jungfrau mehr zu sein. Schande ist aber mehr als nur die Eigenschaft, nicht der Ehre gemäß behandelt worden zu sein. Die Schande ist ein eigener Zustand eines Rolleninhabers mit gegenüber der Ehre signifikant veränderten Verhaltenserwartungen. Wie der Ehrenmann im Zustand der Ehre lebt, so der in seiner Ehre verletzte in dem der Schande.
Das gilt erstens für die Beziehung zur sozialen Umwelt. Mit der Schande reduzieren sich die Achtungspflichten. Türkischstämmige junge Männer mit traditionalistischen Ehrvorstellungen benehmen sich gegenüber geschminkten, modern gekleideten Mädchen häufig anders als gegenüber solchen mit Kopftuch und weitem Gewand, und sie begründen dies damit, daß erstere ohnehin keine Ehre mehr hätten.
In Schande zu leben, hatte häufig auch unmittelbare Konsequenzen für den gesellschaftlichen Rang und letztlich die ökonomische Basis der betroffenen Person. Kaufleute, die ihre Kaufmannsehre verloren hatten, bekamen keinen Kredit und waren als Geschäftspartner wenig willkommen, verloren unter Umständen sogar die an ihren Stand geknüpften Rechte und Privilegien. Familien, die Schande auf sich geladen hatten, konnten ihre Kinder nicht gewinnbringend verheiraten. Die Ehre bildete insofern, wie Bourdieu es ausgedrückt hat, ein symbolisches Kapital, das sich leicht in klingende Münze verwandeln ließ.3
Die Schande hat aber auch Konsequenzen für die Verhaltenserwartungen an die in ihrer Ehre verletzte Person selbst. Nicht selten kann sie durch ihr Verhalten ihre Ehre unmittelbar wieder herstellen, andererseits kann sie aber auch noch tiefer in die Schande hineingeraten. Leutnant Gustl beispielsweise verlor seine Ehre, weil er von einem Handwerker, der deutlich kräftiger war als er, festgehalten und bedroht worden war, ohne daß er ihn unmittelbar danach mit seinem Säbel zusammengeschlagen hätte. Eine Beleidigung erzeugt also erst einmal nur eine Art normativen Unterdruck, der zur ehrenvollen Reaktion herausfordert, beispielsweise zu einer Gegenbeleidigung, einem Duell, zur Blutrache oder sogar zur Ermordung der eigenen Schwester. Schändlich wird es erst, wenn die in ihrer Ehre verletzte Person diese Verletzung nicht kompensieren kann oder will.
Das Besondere an Ehrnormen gegenüber anderen normativen Verpflichtungen liegt also darin, daß es primär nicht Sache des Täters, sondern Sache des Opfers ist, Übertretungen zu kompensieren. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Schande und Schuld, und damit auch zwischen solchen normativen Systemen, die gelegentlich als Schamkulturen, und anderen, die als Schuldkulturen bezeichnet werden.4 In einer Schuldkultur ist es Sache des Täters, eine Normverletzung auszubügeln, z.B. dadurch, daß er sie bereut, und es ist Aufgabe seines Gewissens, ihn dazu zu drängen. In der Schamkultur ist es hingegen Sache des Geschändeten selbst, seine Ehre wiederherzustellen, und es ist das Scham- oder Ehrgefühl, das ihn dabei leiten soll.
Die vier Charakteristika machen hoffentlich deutlich, inwiefern sich Gebote der Ehre von anderen normativen Verpflichtungen unterscheiden. Sie unterstreichen damit allerdings auch, welche Spannungen zwischen diesen Geboten und vielen modernen Ethiken bestehen, denen zufolge moralische Verpflichtungen eigentlich universell gelten sollen, ungeachtet der beruflichen Position, der sozialen Stellung oder des Geschlechts, in denen das moralische Urteil davon abhängig gemacht wird, was der Akteur tatsächlich tun und beeinflussen kann, und denen zufolge Pflichtverletzungen auf den Täter zurückfallen, nicht auf das Opfer.
Die Frage, die sich angesichts dieser Spannungen stellt, ist aber, ob man daraus schließen sollte, daß die Ethik ohne Rückgriff auf die Ehre auskommen kann und sollte. Wofür ich plädieren möchte, ist eine andere Schlußfolgerung, daß es sich nämlich um Spannungen handelt, die bereits im Kern unseres moralischen Selbstverständnisses angelegt sind. Das möchte ich zum Abschluß meines Beitrags kurz skizzieren.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein moralphilosophisches Problem, das Avi-shai Margalit als das Paradox der Demütigung bezeichnet hat.5 Auf der einen Seite steht die Feststellung, daß jemand, der durch einen anderen Menschen erniedrigt oder gedemütigt wird, nicht nur häufig beschämt und gekränkt ist, sondern durch die Tat auch einen guten Grund hat, sich in seiner Selbstachtung verletzt zu sehen. Auf der anderen Seite scheint aber eher der Demütiger allen Grund zu haben, sich selbst zu verachten, denn schließlich hat er etwas Verachtenswertes getan, nicht das Opfer.
Das Paradox läßt sich auflösen, wenn man den Begriff der Selbstachtung genauer unter die Lupe nimmt.6 Selbstachtung ist keine Meinung oder Überzeugung, sondern eine Haltung; eine Haltung, die jemand zu seiner individuellen Identität oder Persönlichkeit einnimmt. Wer Selbstachtung hat, der kümmert und sorgt sich darum, wer er ist. Wer jemand ist, seine Identität, ist dabei wiederum zumindest teilweise durch soziale Beziehungen bestimmt - durch das Ansehen dieses Menschen, seine verschiedenen sozialen Rollen, das, was er darstellen will in der Welt. Wieviel Selbstachtung er hat, ergibt sich nun daraus, wieviel ihm an dieser Identität liegt und wie gut es ihm gelingt, sie auch unter widrigen Umständen zu behaupten. Zu diesen können Verlockungen gehören, sich beispielsweise aus bloßer Bequemlichkeit gehen zu lassen oder sich für einen materiellen Vorteil zum Narren zu machen, es gehört dazu aber auch eine potentiell demütigende, erniedrigende Behandlung durch andere. Gelingt es ihm, diese Kränkungen abzuwehren, dann ist dies ein Zeichen von Selbstachtung, gelingt es ihm aber nicht - zum Beispiel, weil der Angreifer zu übermächtig ist -, dann verletzt dieses Verhalten seine Selbstachtung, weil es dieses Selbst, auf das er achtet, seine Identität, beschädigt. Und weil die Identität durch das Verhalten beschädigt wurde, hat das Opfer der Demütigung einen guten Grund, sich erniedrigt zu fühlen, ungeachtet der Tatsache, daß es häufig auch die Identität des Täters befleckt, andere Menschen zu demütigen. Das Paradox der Demütigung ist aufgelöst.
Die Rede von dem Selbst, der Identität des Menschen, auf die ich dabei zurückgegriffen habe, ist metaphorisch und philosophisch klärungsbedürftig. Aber ich glaube, der Zusammenhang mit der Ehre ist unmittelbar deutlich. Wenn man annimmt, daß es uns wichtig ist, eine Identität aufzubauen und aufrechtzuerhalten, die die verschiedenen Rollen und Charakteristika unseres Lebens zu einem akzeptablen Ganzen zusammenfaßt, dann gibt es bestimmte Verhaltensweisen anderer (aber auch von uns selbst), die gut damit vereinbar sind, die dazu passen, und andere, die dieser Identität, dem Bild, das wir von uns haben, zuwiderlaufen. Erstere Verhaltensweisen achten und respektieren uns, letztere sind abwertend, kränkend, demütigend. Sie beschädigen uns und zwingen uns zu kompensatorischen Maßnahmen oder in ein Gefühl der Erniedrigung. Kurz, wir können entweder unsere Ehre zu retten versuchen oder beschämt den Verlust der Ehre konstatieren.
Ich plädiere also dafür, das Bestreben, eine akzeptable Identität aufzubauen und aufrechtzuerhalten, für das der Begriff der Selbstachtung steht, als spezifisch moderne Form des Ehrgefühls anzusehen und damit die individuelle Identität als zeitgemäße Form der Ehre. Mit der traditionellen Ehre hat sie gemein, daß Ehrverletzungen dem Entehrten eine Aufgabe auferlegen, nämlich seine Ehre wiederherzustellen, zu einer ansprechenden Identität zurückzufinden. Das war das vierte Merkmal der Ehrgebote.
Entsprechend dem zweiten Merkmal ist auch die Identität stark an den äußeren Anschein gebunden. Unsere Identität ist eben das, was wir in der Welt darstellen wollen.
Schließlich ist unsere Identität beileibe nicht nur davon abhängig, was wir tun oder lassen, sondern auch von vielen Begebenheiten, die uns widerfahren. Zusammengeschlagen oder vergewaltigt zu werden, bürdet den Opfern eine gewaltige, nicht selten unerträgliche Integrationsleistung auf, nur um ein Leben weiterleben zu müssen, in dem sich eine solche Schändung zugetragen hat.

Es bleibt die erste Bedingung der traditionellen Ehre, daß sie immer eine "Ehre als Â…" ist. Hier liegt der wichtige Unterschied zu unserer individuellen Identität. Auch wir setzen unsere Identität aus Rollenmustern und Idealbildern zusammen, aber sowohl in unserem eigenen Anspruch wie auch in der sozialen Erwartung ist die Mischung dieser Versatzstücke individuell. Möchte man ein gemeinsames Element aller individuellen Identitäten auszeichnen, dann ist es ihr Anspruch auf Individualität. Ich bin, wer ich bin, im Unterschied zu den anderen. Meine Ehre ist nicht bloß eine Ehre als Philosoph, als Vater oder gar als Deutscher, sondern eine Ehre als die individuelle Person Ralf Stoecker.
Diese Individualisierung der modernen Ehre hat zur Konsequenz, daß man anders als im traditionellen Ehrverständnis letztlich auch dafür verantwortlich ist, worin die eigene Ehre liegt und worin nicht. Ich habe es schon erwähnt: Es geht darum, eine akzeptable Identität zu finden. Dies bedeutet zum einen, daß es eine Identität sein muß, mit der man selbst leben kann. Um moralisch bedeutsam zu sein, muß es zum anderen aber eine Identität sein, mit der auch die anderen leben können; also eine Identität, die nicht in Konkurrenz mit universellen zwischenmenschlichen Verpflichtungen gerät. Nur eine solche Identität kann einen moralischen Anspruch darauf erheben, von anderen Menschen geachtet zu werden.
Wer hingegen glaubt, daß es nicht mit seiner Selbstachtung vereinbar sei, auf derartige universelle Moralverpflichtungen Rücksicht zu nehmen, der kann nicht erwarten, aus moralischen Gründen von anderen respektiert zu werden. Moralisch gesehen braucht man seine Ehre nicht zu achten, auch wenn es demütigend für ihn ist, wenn sie mißachtet wird, denn die Identität, die hinter dieser Form der Ehre steht, ist moralisch nicht akzeptabel.
Damit will ich nicht sagen, daß wir uns unsere Identität nach Belieben wählen oder sie bei Nichtgefallen mühelos wechseln können. Wir wachsen in Rollenmuster hinein, die wir erst im Laufe der Adoleszenz umzubauen und zu erweitern lernen. Aber wie im Leben insgesamt, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem wir für unsere Identität verantwortlich sind. Wenn diese dann so aussieht, daß sie uns einen moralisch unanstößigen Platz in unserer sozialen Umwelt zuweist, dann haben wir Anspruch darauf, daß die Achtungsgebote, die sich daraus für andere Menschen ergeben, respektiert werden, ansonsten kann von uns verlangt werden, unser Selbstverständnis entsprechend zu modifizieren.
Dieses Resultat führt nun zurück zu Hatin S. und ihrer Familie. Daß Frau S. ihren Mann verlassen und in Berlin ein neues Leben angefangen hat, war vermutlich ein respektabler Schritt auf dem Weg in eine selbstbestimmte Identität. Es war auch kein Schritt hinaus aus der Ehre, sondern vielmehr hin zu einer neuen individuellen Ehre. Die Ehrvorstellungen in ihrer Familie scheinen dagegen wesentlich auf dem Wohlverhalten ihrer Tochter basiert zu haben. Sie waren damit unvereinbar mit dem Selbstbestimmungsrecht der Tochter und folglich moralisch unhaltbar. Deshalb rechtfertigten sie nicht, der Tochter in irgendeiner Weise zu nahe zu treten, geschweige denn sie zu töten. Der Fehler der Familie lag nicht darin, ihre Ehre retten zu wollen, sondern darin, die falsche Ehre zu haben. Entsprechend liegt das Archaische an den Ehrverbrechen nicht im Rückbezug auf die Ehre generell, sondern in der selbstverständlichen Annahme, daß die Ehre durch Tradition und Religion vorgegeben werde und der Einzelne sich ihr gedankenlos unterwerfen könne. Dieses archaische Element der Ehre gilt es in der modernen Gesellschaft zu bekämpfen.
Nicht Werteunterricht, sondern reflektierte Ehrenkunde wäre deshalb an den Schulen nötig. Gerade für viele junge Männer aus Migrantenfamilien, denen die hergebrachten Ehrvorstellungen ein verlockendes Prestige als ‚starke Männer‘ verheißen, das sich so wohltuend von ihrer sonstigen sozialen und ökonomischen Situation in Städten wie Berlin abhebt, wäre ein solcher Unterricht wichtig. Um diesen Weg aber erfolgreich gehen zu können, scheint es mir wichtig, die Parallelen zu unseren eigenen moralischen Vorstellungen nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Es ist ja einfach nicht wahr, daß Bundeskanzler Schröder oder Ministerpräsident Stoiber, die sich in der Wertedebatte so ins Zeug gelegt haben, nach Werten leben, während nur die unreifen Jugendlichen darauf aus sind, cool und macho zu sein. Schließlich ist auch die politische Landschaft getränkt mit Ehrpusseligkeiten und Hahnenkämpfen. Zudem ist ohnehin nichts falsch daran, cool zu sein, falsch ist es eben nur, macho für cool zu halten, oder noch schlimmer: die alten patriarchalischen Vorstellungen von unberührbaren Jungfrauen und ihren breitschultrigen Beschützern für cool zu halten.
Diesen Vorstellungen gilt es entgegenzutreten, wofür meines Erachtens eine Ethik erforderlich ist, die sich gezielt der normativen Stellung der Ehre zuwendet. Darin, dieses Desiderat augenfällig gemacht zu haben, liegt meines Erachtens die Herausforderung für die moderne Moralphilosophie durch den Mord an Hatin S.7

Anmerkungen
1 Alles, was ich in meinem Beitrag über Frau S. und den Mord an ihr sage, beruht auf bloßen Vermutungen, denn zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Textes steht das Gerichtsverfahren noch aus, das hoffentlich mehr Klarheit über die Tatumstände bringen wird. Aber auch wenn ich mich in bezug auf diesen speziellen Fall irren sollte, finden sich in zahlreichen anderen Publikationen (z.B. Terre des Femmes, Tatmotiv Ehre, Tübingen 2004) Beispiele, mit deren Hilfe sich die Grundaussagen meines Textes ebenso gut illustrieren ließen.
2 Vgl. Richard Dülmen, Der ehrlose Mensch, Köln, Weimar, Wien 1999.
3 Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 1998, S. 102.
4 Vgl. Peter Heuer, "Schuld, Scham und Schmach", Dialektik 1 (2003).
5 Avishai Margalit, The Decent Society, Cambridge (Mass.), London 1996, Kapitel 7.
6 Ich habe dies ausführlicher getan in: "Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung", in: R. Stoecker (Hg.), Menschenwürde - Annäherung an einen Begriff, Wien 2003; "Selbstachtung und Menschenwürde", Studia Philosophica 63 (2004).
7 Dieser Beitrag ist als Vortrag entstanden, den ich im Juni 2005 an der Universität Dortmund gehalten habe. Ich danke vor allem Jens Kulenkampff und Thomas Spitzley für ihre hilfreichen Kommentare.

Prof. Dr. Ralf Stoecker, Philosoph, Universität Potsdam

aus: Berliner Debatte INITIAL 17 (2006) 1/2, S. 147-155