Von Helden, die auszogen, das Fürchten zu lernen

Israel, der Libanon-Krieg und das Diktat der militärischen Logik

Seitdem das geostrategische "große Spiel" im Mittleren Osten infolge der Zeitenwende von 1989 neu eröffnet wurde, haben sich die Koordinaten des israelisch-palästinensischen Konflikts ...

.... in Richtung einer stärkeren regionalen und globalen Vernetzung verschoben. Die Zuspitzung der Ereignisse in den vergangenen Jahren, in Israel/Palästina der Zusammenbruch des Oslo-Prozesses, die zweite Intifada und die militärisch durchgesetzte unilaterale israelische Politik gegenüber den PalästinenserInnen, im größeren Zusammenhang die Bush-Doktrin vom "Kampf gegen den Terror", der irakische Schlamassel und der Aufstieg Irans zum regionalen Akteur in expliziter Konkurrenz zu Israel - all diese Fäden scheinen sich zu einem schwer entwirrbaren Knäuel zu verbinden. Der neue Libanon-Krieg ist Teil dieses bedrohlichen Szenarios. Ob die Hisbollah mit der Eröffnung einer zweiten Front, parallel zur Eskalation in Gaza, durch die israelische Armee rechnete und diesen Krieg bewusst provozieren wollte, oder ob sie selbst von der Heftigkeit der israelischen Reaktion überrascht wurde, bleibt dahingestellt. Bis dato hatte die Hisbollah von militärischen Eskalationen mit Israel profitiert. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass der als strategischer Denker geltende Hisbollah-Chef Nasrallah einen Krieg mit Israel einkalkuliert hatte, als er grünes Licht gab für die Entführung zweier israelischer Soldaten innerhalb des israelischen Staatsgebiets. Aufgrund eigener Interessen haben die iranischen und syrischen Sponsoren der Hisbollah keine Einwände gegen ein solches Vorgehen geäußert. Auch in Israel war der neue Libanon-Krieg offenbar lange geplant worden. Die von der Hisbollah als Unterstützung der PalästinenserInnen in Gaza präsentierte Aktion war lediglich ein willkommener Anlass. Dort war zuvor ebenfalls ein israelischer Soldat von palästinensischen Guerillas verschleppt worden, woraufhin die Armee erneut im Gazastreifen einrückte und massive Vergeltungsaktionen durchführte, die bis heute andauern. Die israelische Antwort auf beide Herausforderungen folgt einer militärischen Logik, welche allein auf das Abschreckungspotenzial hochmoderner Waffen setzt und den Spielraum für politische Optionen drastisch einschränkt. Für die ZuschauerInnen arabischer Nachrichtensender unterscheiden sich Bilder aus Gaza nicht mehr allzu sehr von solchen aus Beirut oder Bagdad. Die US-amerikanische Rückendeckung für Israels Kriegsführung und die enge Kooperation beider Länder leisten ihren Anteil bei der Vernetzung der Konfliktfelder im regionalen Spiel. Doch welchen strategischen Sinn macht ein Krieg, in dem Israel sich mehr Feinde schafft, als es zu töten imstande ist? Die politische Legitimität der Hisbollah sowie ihr Nimbus als einzige "erfolgreiche" arabische Widerstandsbewegung gegen Israel ist in den vergangenen Wochen gestärkt worden. (siehe dazu Amira Hass, Haaretz, 9.8.06) Wie oft muss die Ideologie vom Krieg als kreativer Zerstörung sich als zynische Lüge und sich selbst besiegende Strategie erweisen, bevor auch Israel sich aus der für seine längerfristigen Überlebenschancen gefährlichen Allianz mit den US-amerikanischen Neocons und evangelikalen Fundis löst? Eine Folge der Dominanz ehemaliger Militärs in der israelischen Politik scheint die Fantasielosigkeit und der vorauseilende Gehorsam auch von Politikern mit zivilem Hintergrund gegenüber der militärischen Logik zu sein. So glänzt der zuvor als Taube verschrieene, als streitbarer Held der Unterschichten ikonisierte und als Retter der israelischen Sozialdemokratie hofierte Amir Peretz, kaum dass er den Sitz des Verteidigungsministers im Kabinett Ehud Olmerts eingenommen hat, mit martialischen Sprüchen und tumben Stammtischparolen - als ob er nie etwas anderes sein wollte als der Pudel des Generalstabschefs, Dan Halutz, jenes Luftwaffengenerals, der einmal auf die Frage, ob er denn nichts spüre, wenn er schwere Bomben auf dicht besiedelte Gebiete werfe, antwortete: Doch, er spüre einen kleinen Ruck im Flugzeug, wenn die Bombe sich aus der Halterung löst.

Sozialdemokratische Taube als Pudel des Generalstabs

Wer das Paradigma einer politischen Lösung verlässt, die den Interessen aller beteiligten Akteure Rechnung trägt, wird auf die Logik des Krieges zurückgeworfen. Dieser Strategiewechsel wurde bereits unter Barak eingeleitet und von dessen Nachfolger Sharon perfektioniert. Doch was unter den beiden Generälen Barak und Sharon anlässlich des israelischen Rückzugs aus Südlibanon im Jahr 2000, im Zusammenhang mit dem Bau des Sperrwalls um die und innerhalb der besetzten Gebiete oder der Räumung des Gazastreifens 2005 noch militärisch sachlich mit Hitnatkut Had-Zdadit ("einseitige Abtrennung") beschrieben wurde und im Grunde eine Frontbegradigung meinte, heißt beim Zivilisten Olmert nunmehr Hitkansut (im Sinne von "sich sammeln, in sich gehen, sich auf sich selbst konzentrieren"). Dieser schillernde Ausdruck bedient Sehnsüchte der Zivilbevölkerung nach Ruhe und Geborgenheit. Olmerts Spin-Doctors suchten in der Auseinandersetzung mit der extremen Rechten (Netanjahu, Liebermann etc.) nach einem positiv assoziierten Begriff, mit dem sich sein im Wahlkampf skizzierter Plan einer Teilräumung des Westjordanlandes besser verkaufen ließe. Diese semantische Spitzfindigkeit ermöglicht Rückschlüsse auf eine politische Kultur, welche in unschöner Regelmäßigkeit israelische Regierungen dazu verleitet, ihr Heil im Krieg zu suchen. Wenn es für politische Verhandlungen "keine Partner" gibt, wie das Regierungsmantra seit Baraks Bruchlandung in Camp David im Sommer 2000 unentwegt behauptet, dann schafft die sich ausbreitende Perspektivlosigkeit den Resonanzboden für eine Wagenburgmentalität in der israelischen Bevölkerung und Politik, die mit dem Begriff Hitkansut tatsächlich treffend beschrieben wird: Ein kleines hebräisches Dorf, umgeben von einem Meer fanatischer, klerikal-faschistischer Halsabschneider, sei gezwungen, seine Existenz mit allen Mitteln zu verteidigen. Insofern diese paranoide Weltsicht in historischen Erfahrungen begründet ist, wird die eigene Opfergeschichte hier zu einem Gefängnis, welches den nüchternen Blick auf die aktuelle Lage in der Region verstellt. Hitkansut könnte man daher auch als "Augen zu und durch" übersetzen, als Kapitulation vor den eigenen Traumata sowie vor aktuellen politischen Herausforderungen. Die Verantwortung für das eigene Handeln wird dabei routiniert verleugnet und auf den jeweils als solchen identifizierten "Wiedergänger Hitlers" abgewälzt, sei es nun Arafat, die Hamas, Hisbollah, oder demnächst vielleicht Iran. Israel erklärt sich praktisch gerade selbst für unzurechnungsfähig, beharrt aber zugleich auf seinem Status als aufgeklärte westliche Demokratie, die sich in einer feindlichen Umgebung unentwegt behaupten müsse, also gar nicht anders könne als den Arabern gelegentlich zu zeigen, wo der Hammer hängt. Des öfteren wurde in deutschsprachigen Medien betont, dass in der israelischen Öffentlichkeit auch in Kriegszeiten demokratische Meinungsvielfalt nicht zugunsten eines nationalen Schulterschlusses aufgegeben werde. Tatsächlich ist die israelische Presse weiterhin um Längen besser als etwa die US-amerikanische in der Zeit nach dem 11. September 2001. Die in derlei Meldungen transportierte beruhigende Botschaft lautet jedoch: Trotz irritierender Äußerungen aus dem Munde hoher Politiker und Militärs, trotz katastrophaler Bombenschäden und hoher ziviler Opferzahlen im Libanon, die offenkundig in keinem Verhältnis zu den durch Katjuscha-Beschuss der Hisbollah in Israel angerichteten Schäden stehen, sei Israel weiterhin eine stabile Demokratie und ein verlässlicher Partner des Westens in der Region. Was aber bleibt von einer Demokratie, die sich nicht nur als eine Heimat für Jüdinnen und Juden versteht, sondern sich auch universellen Werten wie den Menschenrechten verpflichtet hat, wenn ihr Regierungshandeln in Krisenzeiten die eigenen Geschäftsgrundlagen außer Kraft setzt? Ähnliche Tendenzen sind in den vergangenen Jahren infolge der Militarisierung der Sicherheitspolitik in den USA und Europa zu beobachten. Auch in Israel ist gegenwärtig eine weitgehend demobilisierte und im täglichen Überlebenskampf gebundene Bevölkerung nicht in der Lage, wirksamen Gegendruck oder gar politische Strategien zur Überwindung des militärischen Paradigmas zu entwickeln. Kriegsdienstverweigerer rekrutieren sich weiterhin aus einem elitären Kreis hochmotivierter Überzeugungstäter und gelten landläufig als Verräter. Auch wenn die konkrete Kriegsführung in der Öffentlichkeit keineswegs unhinterfragt bleibt und durchaus kontrovers diskutiert wird, gilt grundsätzliche Opposition gegen den Krieg weithin als illegitim. Praktische Versuche, Sand ins Getriebe zu streuen, wie etwa das Blockieren von Luftwaffenstützpunkten, bleiben Sache von ein paar Dutzend "Anarchists Against the Wall". (Haaretz, 8.8.06)

Wagenburgmentalität: "Augen zu und durch"

Dabei hat eine israelische Untersuchung zu den Bombardements im südlibanesischen Dorf Kana, bei denen Dutzende von ZivilistInnen getötet wurden, ergeben, dass sich in dem betreffenden Gebäude nach zum Zeitpunkt des Angriffs bereits vorliegenden Erkenntnissen des Militärs weder Hisbollah-Kämpfer noch Waffen befunden hatten. Wie konnte es dann dennoch zu diesem von Israel bedauerten "Kollateralschaden" kommen? Immerhin zitiert der Pressesprecher der israelischen Botschaft in Berlin in einem Leserbrief (taz, 9.8.06) aus den internen Richtlinien der israelischen Armee, "dass militärische Operationen nur gegen militärische Ziele gerichtet sein dürfen" und "dass eine Operation nicht ausgeführt werden darf, wenn das Risiko überwiegt, dass versehentlich Zivilisten verletzt werden könnten". Aus der erwähnten israelischen Untersuchung der Vorfälle in Kana geht allerdings hervor, dass beim Beschuss eines identifizierten militärischen Ziels routinemäßig auch dessen nähere Umgebung beschossen wird, in diesem Fall eben Gebäude, in denen sich ZivilistInnen vor den Bomben zu schützen suchten. (Tagesspiegel, 2.8.06) Die Einsatzregeln des israelischen Militärs scheinen demnach den vom Botschaftssprecher zitierten Richtlinien zu widersprechen. Zudem ist davon auszugehen, dass in der Hitze des Gefechts auch erfahrene Soldaten des öfteren die Nerven verlieren und schlicht auf alles schießen, was sich bewegt. Entsprechende Zeugenaussagen von israelischen Soldaten, die an der Unterdrückung der zweiten Intifada beteiligt waren, belegen dies eindrücklich und weisen Parallelen auf zu den Untersuchungsergebnissen bezüglich der Hintergründe des Massakers von Kana. Einige dieser Aussagen können auf der Website von "Breaking the Silence" (1), einer Organisation ehemaliger Soldaten aus Kampfeinheiten, eingesehen werden, die seit 2004 die israelische Öffentlichkeit mit den Einzelheiten ihres Militärdienstes konfrontieren. Bislang haben die Aktivisten von "Breaking the Silence" Aussagen von mehr als 300 ehemaligen Soldaten aus der Zeit der zweiten Intifada gesammelt.

Opposition gegen den Krieg gilt als Verrat

Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die Erlebnisse israelischer Soldaten in Libanon grundlegend von denen in Jenin 2002 oder in Gaza 2004 unterscheiden. Ein privates Therapiezentrum für Drogengeschädigte in der Nähe von Tel Aviv namens Kfar Izun ("Dorf des Gleichgewichts") ist Anlaufstelle für junge Israelis, die während ihrer an den Militärdienst quasi obligatorisch anschließenden Auslandsreisen nach Fernost oder Lateinamerika infolge exzessiven Drogenkonsums in psychotische Zustände abgleiten. Meine eigenen Recherchen im Jahr 2005 ergaben, dass die große Mehrheit der in Kfar Izun behandelten Menschen junge Männer sind, die in Kampfeinheiten der israelischen Armee gedient und an der Unterdrückung der zweiten Intifada mitgewirkt haben. Auch in nächster Zeit dürfte die Einrichtung sich vor Kundschaft kaum retten können. Wie lange wollen Israelis ihren Kindern derartige Erfahrungen zumuten? Wie wollen Israelis auf Dauer in einer Region leben, vor der sie sich verbarrikadieren und mit der sie nur durch Gewehrläufe zu kommunizieren bereit sind? Achim Rohde,9.8.06 Anmerkung: 1) www.breakingthesilence.org.il aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 508/18.8.2006