Sozialhilfe zweiter Klasse

Hartz IV bringt Leistungen für Erwerbslose unterhalb der Sozialhilfestandards

in (01.02.2004)

Gastautor Frank Jäger ist aktiv in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen, Frankfurt/Main.Kontakt: bagshi-frankfurt@web.de

Zur vollständigen Durchsetzung der Ergebnisse der Hartz-Kommission wurden im Oktober 2003 hektisch zwei Gesetzentwürfe durch den Bundestag gepeitscht - darunter der zur Regelung des so genannten Arbeitslosengelds II, das im Sozialgesetzbuch (SGB) II fixiert werden soll. Nachdem der von der CDU/ CSU dominierte Bundesrat den Gesetzesnovellen nicht zugestimmt hatte, befasste sich der Vermittlungsausschuss im Windschatten der Debatte um die Steuerreform mit dem Thema. In Kraft treten werden die Änderungen, auf die man sich nun verständigt hat, zum Januar 2005.

Politischer Zweck der Gesetzentwürfe zu den Sozialgesetzbüchern II und XII ist die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und eine Neuordnung der staatlichen Fürsorgeleistungen:
Im SGB II werden für erwerbsfähige BezieherInnen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und deren Angehörige die neuen Leistungen "Arbeitslosengeld II" (ALG II) und "Sozialgeld" geschaffen. Diese Leistungen liegen unterhalb der heutigen Sozialhilfestandards und sollten treffender als "Sozialhilfe zweiter Klasse" bezeichnet werden. Das Arbeitslosengeld II stand außerdem Pate für die neue Sozialhilfe im SGB XII, die künftig aufgrund von pauschalierten Leistungsanteilen noch niedriger ausfällt als bisher.

Da das ALG II unter dem heutigen Niveau der Sozialhilfe liegt, wird das unterste Netz unserer sozialen Sicherung zerstört. Wichtige Strukturprinzipien der heutigen Sozialhilfe stehen zur Disposition: die Sicherung eines Lebens in Würde durch den Anspruch auf ein staatlich anerkanntes soziokulturelles Existenzminimum, die Hilfe zur Selbsthilfe, die Gewährung der Leistung nach dem Prinzip der Bedarfsdeckung, und die Orientierung an der individuellen Lebenslage der Hilfeberechtigten. Zudem entfällt für BezieherInnen der neuen Leistungen ALG II und Sozialgeld der bislang geltende Anspruch auf wesentliche nachrangige Leistungen der Sozialhilfe, die im Bedarfsfall die Existenz absichern sollen, fast vollständig. Weitere Indizien für ein geringeres Leistungsniveau beim ALG II sind die Absenkung der Leistungen für Kinder zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr, weitreichende Pauschalierung von einmaligen Leistungen, das Fehlen der generellen Sicherung der Wohnung, verschärfte Anrechnung von Einkommen, härtere Sanktionierungsinstrumente sowie der fehlende eigene Rechtsanspruch auf Leistungen für die Kinder arbeitssuchender Eltern.

All dies bedeutet, dass Erwerbstätige und Bedürftige materiell und rechtlich enteignet werden. Zwingende Voraussetzung des ALG II-Bezuges ist der umfassende Einsatz der Arbeitskraft. Hilfe zur Arbeit nach heutigem Sozialhilferecht ist nicht mehr vorgesehen. Stattdessen müssen Erwerbslose bei Androhung von drakonischen Sanktionen, wie z.B. einer dreimonatigen Kürzung der Leistung um 30 Prozent oder bei jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren gar die komplette Streichung der Leistung für diesen Zeitraum, einen juristisch sittenwidrigen Eingliederungsvertrag mit der Agentur für Arbeit abschließen. Wenn sie "Glück" haben, können sie ein Einstiegsgeld und die Eingliederungsleistungen nach dem Arbeitsförderungsrecht (SGB III) erhalten - aber nur wenn der "Fallmanager" diese für notwendig hält.
Der Bezug der Leistungen "ALG II" und Sozialgeld ist dem Einsatz der Arbeitskraft um jeden Preis nachrangig. Es gilt:
"Keine Leistung ohne G e g e n l e i s t u n g ! " . Auf diese Weise entfallen die bisher noch einklagbaren Rechtsansprüche auf Sicherung der Existenz sowie jegliche rechtliche Verfahren zur Gegenwehr für
Erwerbslose und deren Familienangehörige gegen eine immer restriktivereÄmterpraxis. Eine Voraussetzung dazu schuf die Einführung der Beweislastumkehr zu Lasten der Erwerbslosen in § 144 (SGB III).

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Nach dem zynischen Motto "Fordern und Fördern" sind Leistungsberechtigte künftig gezwungen, alle Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhaltes vorrangig auszuschöpfen. Die so genannten "Reformen" sollen den Weg frei räumen zur Ausweitung des Niedriglohnsektors.
Ungeachtet ihrer Qualifikation und Neigungen werden Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, dazu gezwungen, sich als "working poor" mit dem Bedienen von Besserverdienenden, dem Putzen von Schuhen und anderen "niedrigproduktiven" Dienstleistungen über Wasser zu halten. Das haben die Arbeitgeberverbände bereits Mitte der 90er Jahre gefordert und rot-grün ist nun dabei, es umzusetzen. Aber die Strategie, die dahinter steckt, geht noch viel weiter: Über die Herabsenkung der unteren Lohngruppen sollen die Löhne am Standort Deutschland insgesamt in den Keller gedrückt werden, denn Leistungsdumping ist Lohndumping. Das sollte spätestens jetzt auch allen (noch) Beschäftigten klar werden.

- Dieser Text erschien in der Ausgabe 1/2004 der "Zündstoff" (Regionalausgabe der Tendenz für Rheinland-Pfalz& Hessen)