"Es liegt noch ein langer Weg vor uns"

Ein Interview mit dem israelischen Friedensaktivisten Jeremy Milgrom

Jeremy Milgrom ist ein israelischer Friedensaktivist und Rabbi. Er lebt in Jerusalem und Berlin.

Graswurzelrevolution (GWR): Du warst während eines Teils des Libanonkriegs in Israel. Wie war die Atmosphäre in Israel während des Kriegs?

Jeremy Milgrom: Es war sehr seltsam. Leute, die in unregelmäßigen Abständen die Alarmsirenen und die fallenden Bomben hörten, hatten eine Art von Leben und Leute, die außerhalb der Reichweite der Bomben waren, ein ganz anderes. Viele, die in sicherer Distanz waren, beherbergten Leute, die vor der Gefahr geflohen waren. Viele der Evakuierten wurden in Jerusalem in Hotels untergebracht, die leer standen, weil keine TouristInnen da waren.
Aber im Großen und Ganzen mussten wir den Krieg in den Medien verfolgen. Es gab ein Gefühl, dass wir nicht wirklich wussten, was los war, und dass wir von den Medien Halbwahrheiten oder Lügen gesagt bekamen.
Es gab aber auch einiges an Kritik an dem, was passierte. Es herrschte große Verzweiflung darüber, dass ZivilistInnen getötet wurden, dass die Hizballah offensichtlich stärker ist, als man die Israelis glauben gemacht hat, dass die Armee nicht in der Lage war, die Hizballah davon abzuhalten, Israel und seiner Bevölkerung Schaden zuzufügen, dass Soldaten starben, weil die Hizballah auch aus guten Kämpfern besteht. Ich glaube, es war eine ziemliche Überraschung, ein Schock, und es gab ziemlich viel Frustration, ein Gefühl, dass Israel nicht nur konkrete Verluste erlitten hat, sondern auch einen Prestigeverlust, dass sein Potential geschwächt ist, zukünftige Angriffe durch Abschreckung auf Grund seiner militärischen Macht zu verhindern.
Es gab nicht genug Empörung in Israel über die Verheerung, die Israel im Libanon angerichtet hat; darüber konnte man sich in der ausländischen Presse und im Internet weitaus besser informieren als in den israelischen Medien.

GWR:Du hast gerade erwähnt, dass Du fandest, dass es in Israel nicht genug Empörung über den Krieg gab. Nach Medienberichten war die Zustimmung in Israel zum Krieg sehr groß. Was waren die Gründe dafür?

Jeremy Milgrom: Es gibt immer noch eine Art Standardsetting, welches darin besteht, dass Israel auf Bedrohungen mit Gewalt reagiert.
Hier hat die Hizballah damit angefangen, Gewalt zu gebrauch-en, und Israel fand, dass es keine andere angemessene Reaktion außer dem Gebrauch überwältigender Gewalt gab. Was am Krieg unpopulär war, mal abgesehen von der Tatsache, dass Israel ihn nicht gewonnen hat, war nicht die Tatsache, dass unsere moralischen Standards Schaden nahmen oder der libanesischen Zivilbevölkerung schreckliche Verluste zugefügt wurden, sondern dass Israel nicht noch mehr Gewalt gebraucht hat, um den Krieg zu gewinnen. Das ist ein sehr klares Bild davon, wie es um die Moral in der israelischen Gesellschaft bestellt ist. Ich denke, das ist sehr bedauerlich.
Alle von uns, die für Frieden arbeiten und jüdische Moralstandards hochhalten, haben derzeit unglaublich viel zu tun. Es gibt nur einen möglichen Trost, nämlich, dass wenn Israelis realisieren, dass sie ihren Willen mit Gewalt nicht durchsetzen können, dass sie dann realisieren, dass es eine Alternative gibt, dass wir verhandeln können, dass wir ihre Leben und unsere Leben schonen können und eine bessere Zukunft haben können, dass es weniger kostet, wenn wir verhandeln, aber ich glaube, da liegt noch ein langer Weg vor uns.

GWR: Warst Du in letzter Zeit in den besetzten palästinensischen Gebieten und kannst eine Einschätzung dazu abgeben, welche Stimmung während des Kriegs und jetzt unter PalästinenserInnen herrscht?

Jeremy Milgrom: Ich kann dazu nicht soviel sagen, weil ich in letzter Zeit kaum in den besetzten Gebieten war. Eine Sache, die auf jeden Fall gesagt werden muss, ist natürlich, dass die Weltaufmerksamkeit sich auf den Libanon und die nördliche Grenze Israel konzentriert hat, aber Israel zur selben Zeit in den Gazastreifen einmarschiert ist und unglaubliche Mengen an Bomben auf Gaza geworfen und Angriffe in Gaza durchgeführt hat. Ungefähr 200 Leute wurden im Juli und August in Gaza getötet. Das wurde in der israelischen Öffentlichkeit nicht registriert, aber die PalästinenserInnen wissen es natürlich, und es gab viel Frustration darüber. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Hizballah in den Augen der PalästinenserInnen und der arabischen Welt im Großen und Ganzen gut abgeschnitten hat, dadurch wie sie den israelischen Angriffen Widerstand geleistet hat. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass PalästinenserInnen sich des Preises sehr bewusst waren, den der Libanon bezahlt hat durch die israelischen Gegenangriffe und Vergeltungsschläge. Ich weiß nicht, ob es eine feierliche Stimmung gab oder ein trauriges Bewusstsein darüber, welchen Preis dieser Krieg kostet.

GWR: Was sind die Perspektiven für die Zukunft? Was hältst Du von der internationalen Truppe im Libanon und die Art und Weise, wie die Krise bisher "gelöst" wurde?

Jeremy Milgrom: Hoffentlich bleibt alles ruhig, weil das Schlimmste ist das Blutvergießen auf beiden Seiten. Wenn die internationale Präsenz Israel davon abhält anzugreifen, die Hizballah davon abhält anzugreifen und Israel davon, zurückzuschlagen, das wäre gut. Es wäre auch wichtig, dass ein Gefangenenaustausch stattfindet, der noch verhandelt werden muss.
In größerem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, inwieweit Israels Angriff auf die Hizballah tatsächlich ein Versuch der USA war, Israel dazu zu kriegen, einen Verbündeten Irans anzugreifen. Wir müssen sehen, was auf dieser Ebene passiert, wie sehr internationaler Druck Irans Atomprogramm beeinflusst, wie sehr US-amerikanischer Druck auf Syrien und den Iran zusammen die Situation im Libanon beeinflusst - es ist ein kompliziertes Bild. Es schmerzt mich, dass Israelis nicht deutlicher gemerkt haben, wie sehr die USA wollten, dass Israel diesen Krieg führt. Ich glaube, das ist eindeutig der Fall. Die USA haben auf jeden Fall Israel nicht davon abgehalten, Krieg zu führen, und das ist für mich ein klares Zeichen, dass die USA wollten, dass der Krieg stattfindet. Es gibt eine klare Parallele zwischen dem, was Israel mit dem Iran machen sollte, und dem, was die USA mit dem Irak machen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die USA zu Israel gesagt haben, schaut, wir haben uns für Euch um den Irak gekümmert, jetzt wollen wir, dass ihr euch für uns um die Hizballah und den Iran kümmert. In Israel wurde viel darüber gesprochen, dass Israel den Iran und Syrien angreifen müsse. Ich bin über diese Dinge sehr besorgt. Viele Leute denken, und zwar nicht nur die Radikalen, dass wir keine wirkliche Ruhe an unseren Grenzen haben werden, solange es kein Ende der Besatzung gibt, und dass es die Besatzung ist, welches die muslimische Welt stark gegen Israel beeinflusst.
Ich glaube, dass Israel weit davon entfernt ist, im Nahen Osten akzeptiert zu sein, wegen seiner Behandlung der PalästinenserInnen. Es liegt in Israels kurz- und langfristigem Interesse, sich einem gerechten Frieden zu öffnen. Die öffentliche Meinung in Israel nimmt die PalästinenserInnen nicht ernst, die SiedlerInnen haben eine sehr starke Lobby, niemand spricht noch davon, weitere Siedlungen in der Westbank zu räumen, obwohl das das Programm war, mit dem Olmert und Kadima gewählt worden sind. Die Entwicklung geht rückwärts oder bewegt sich auf der Stelle, und nicht vorwärts in Richtung Frieden.

Interview und Übersetzung: Christiane Gerstetter

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 312, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 35. Jahrgang, Oktober 2006, www.graswurzel.net