Deutscher Euro-Imperialismus

in (20.10.2006)

Die neoliberale Wirtschaftspolitik stößt in immer mehr Ländern auf Ablehnung. Sie verlangt "Freiheit" für Waren und Kapital und damit den Abbau von Zoll-,

Währungs- und Handelsschranken im Interesse der großen Konzerne; soziale Schutzrechte, Bildungseinrichtungen und andere infrastrukturelle Errungenschaften sollen dem privaten Kapital ausgeliefert werden. Überall werden so die Lebensrechte der ärmeren Volksschichten geschmälert und die abhängig Beschäftigten einem Wettlauf um knapper werdende Arbeitsplätze und sinkende Löhne ausgesetzt, während die Besitzenden immer größere Reichtümer ansammeln können. Deutschland als industrielles Schwergewicht erweist sich als einer der Haupttäter dieser "Globalisierung" - ein Täter, der dem Fluch seiner Taten allerdings nicht entgehen kann.

Die hiesigen Regierungen, die Unternehmerverbände und selbst die großen Industriegewerkschaften waren und sind darauf fixiert, die exportorientierten, zumeist großen Unternehmen zu fördern; die kleinen und mittleren Betriebe und andere für den Binnenmarkt wichtige Wirtschaftsaktivitäten wie Verkehr oder sozialstaatliche und ökologische Infrastruktur gelten als nachrangig und müssen sich entsprechend den Anforderungen im globalen Wettbewerb zurichten lassen. Ausfuhrsteigerungen von mehr als zehn Prozent Jahr für Jahr waren das Ziel und wurden zur Regel. Seit Jahren ist die BRD Exportweltmeister, das heißt: Sie exportiert mehr als die weitaus bevölkerungsreicheren Industrienationen USA oder Japan. Was aber noch entscheidender ist: Der deutsche Exportüberschuß, also das Mehr an Ausfuhren gegenüber den Einfuhren, ist der höchste weltweit. Er lag 2005 bei 160 Milliarden Euro und schlug sich in der Leistungsbilanz (die neben dem Handel auch die Dienstleistungen ausweist) immer noch mit einem Überschuß von gut 93 Milliarden Euro nieder.

Interessierte Kreise möchten der Bevölkerung gern weismachen, dieser Überschuß gerate volkswirtschaftlich gesehen unserem Land zum Segen. Doch die fortwährend zu hohe Ausfuhr erweist sich als ein Unheil, national und international. Die 93 Milliarden Euro, gut vier Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, müssen von der hiesigen Volkswirtschaft erarbeitet werden, stehen aber im eigenen Land nicht für Konsumausgaben, für Soziales, für Bildung et cetera zur Verfügung. Dementsprechend ist Deutschland unter den Industrieländern der Europäischen Union keineswegs ein Hochlohnland (vgl. Ossietzky 19/06). Die Kaufkraft der Löhne sinkt hier seit Jahren, die Vollzeitarbeitsplätze werden um Millionen weniger und nur die Minijobber und working poor werden mehr. In der BRD wird der Sozialabbau in einem Tempo vorangetrieben, wie es bisher kaum woanders möglich ist. Selbst Großbritannien, einst unter Margaret Thatcher das europäische Musterland für neoliberalen Systemumbau, hat inzwischen die deutschen Durchschnittslöhne überholt und investiert in Soziales und Bildung einen größeren Teil des Bruttoinlandsprodukts als die BRD.

Das hierzulande durchgesetzte Programm zur Minimierung von Löhnen, Sozialabgaben und Steuern macht deutsche Waren konkurrenzlos billig. Die BRD fährt ihre Exportüberschüsse vor allem in den Euro-Ländern ein, allein im Handel mit Frankreich nehmen deutsche Exporteure 20 Milliarden Euro im Jahr mehr ein, als für Einfuhren aus Frankreich zu zahlen ist. Die gemeinsame Euro-Währung mit unveränderlichen Wechselkursen erweist sich als Hebel zur wirtschaftlichen Eroberung der Nachbarländer, weil diese jetzt nicht mehr mit Abwertung reagieren können. Sie sind gezwungen, ihre eigene Lohn-, Steuer- und Abgabenstruktur früher oder später deutschen Dumpingstandards anzupassen.

Denn was geschieht mit den im Export angesammelten überschüssigen Geldern? Es handelt sich dabei zunächst um Besitztitel im Ausland für die großen Konzerne und Banken mit Sitz in Deutschland. Diese Kapitalien in den deutschen Inlandsmarkt zu schleusen, wäre nur möglich mittels zusätzlicher Importe von Konsum- oder Investitionsgütern. Die Importe unterbleiben, weil hier infolge des Lohn- und Sozialabbaus die Binnenkonjunktur stagniert. Ein Teil der Exportüberschuß-Kapitalien geht daher als Anleihe in die USA und finanziert dort die globalen Kriege der imperialen Führungsmacht. Doch in letzter Zeit werden immer größere Summen auch zum Aufkauf von Firmen in den anderen EU-Ländern verwendet. In den neuen östlichen Beitrittsländern betreiben vor allen die deutschen und die österreichischen Konzerne eine strategische Landnahme: billiger Aufkauf ehemaliger Staatsbetriebe, Aufbau von Monopolstrukturen in der Medienlandschaft sowie in ausgewählten Industriesektoren.

Ganz ähnlich gehen die deutschen Großkonzerne seit einigen Jahren auch in den Ländern der alten EU vor. Die kapitalnahen überregionalen Zeitungen unterdrücken auf ihren Wirtschaftsseiten den deutsch-hegemonialen Stolz nicht mehr "Hurra, wir sind wieder wer. Deutsche Konzerne geben Milliarden für die Übernahmen aus", war zum Beispiel am 12. 3. 06 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Überschrift zu lesen. Die Welt titelte am 15. 3. 06: "Neues deutsches Selbstbewußtsein". Von "Übernahmefieber" (FAZ) wurde berichtet und daß für dieses Jahr Zukäufe im Wert von 84 Milliarden Euro angekündigt seien. Laut UBS-Investment-Banking waren Auslandsinvestitionen sogar im Wert von 103,5 Milliarden Euro vorgesehen.

"Investition" bedeutet in der Regel nicht die Neugründung von Firmen, sondern den Aufkauf bestehender Unternehmen, oft mit alten Namen. Solche deutsche Inbesitznahme weckt nicht immer Freude. Was als deutscher Hegemonieanspruch wahrgenommen wird, führt zu Gegenwehraktionen. Als die Deutsche Börse Frankfurt die Stock Exchange London aufkaufen wollte, kamen britische Manager schnell überein, dies zu verhindern; sie versuchten sogar die umgekehrte Inbesitznahme, die ebenfalls abgewehrt wurde. Inzwischen bemüht sich die Deutsche Börse um einen Zusammenschluß mit der in Paris, Amsterdam, Brüssel und Lissabon tätigen Vierländerbörse Euronext und hat angekündigt, sie werde noch einmal in einen Bieterwettkampf um den Londoner Geldplatz eintreten - offenbar zu jedem Preis.

Ähnliche deutsche Übernahmekämpfe spielen sich in diesen Wochen in Skandinavien und auf der iberischen Halbinsel ab. Der deutsche Lastwagenhersteller MAN, an dem VW große Anteile hält, versucht eine "feindliche Übernahme" in Schweden beim Konkurrenten Scania. Die dortigen Hauptaktionäre wollen nicht verkaufen und werden von ihrer Regierung "moralisch" unterstützt, die aber nach den EU-Verträgen nichts mehr abwenden kann. MAN hat jüngst sein Angebot auf 10 Milliarden Euro aufgestockt und will noch höher gehen. Was wollen die MAN-Manager mit Scania anfangen? Wohl kaum ihre eigene Produktion dorthin teilverlagern, die schwedischen Löhne sind höher als die deutschen. Eher geht es um Marktanteile und Marktbereinigung. Die Ängste der Arbeiter sind berechtigt. Einen ähnlichen Übernahmekampf liefert sich in diesen Wochen der deutsche Energieriese Eon um den spanischen Stromversorger Endesa. Um bald damit werben zu können, daß 50 Millionen Kunden Eon vertrauen, boten die Düsseldorfer zunächst 27 Milliarden Euro - weit mehr als den Börsenwert. In Spanien wollte zunächst die Regierung den Deal verhindern, wurde aber von der EU-Kommission zurückgepfiffen. Daraufhin stiegen heimische Konzerne in den Wettkampf ein. Eon hat jetzt auf 37 Milliarden Euro erhöht - Geld spielt offenbar keine Rolle, wenn es um Marktmacht geht.

Wenn das böse Spiel einmal umgekehrt läuft, dürfen sich die Gemüter hierzulande über die "Heuschrecken" (Müntefering) erregen. Doch auch bei der Übernahme deutscher Firmen sind die Akteure meist deutsche Großkonzerne: So wird AEG von Daimler übernommen und an Electrolux (Schweden) verkauft, um anschließend plattgemacht zu werden. Ähnliches widerfährt gerade der ehemaligen Siemens-Handyproduktion, die der Münchener Konzern vor einem Jahr mit einer Mitgift von 250 Millionen Euro der taiwanesischen Firma BenQ überlassen hat. Die Chinesen sind jetzt die Bösen, weil sie die Drecksarbeit machen.

Die in der EU als immer bedrückender empfundene Übermacht deutscher Großfirmen birgt erhebliche Gefahren, sie wird als altbekannter deutscher Imperialismus wahrgenommen. Das Zusammenwachsen aller Menschen in Europa gerät ins Stocken, die Angst vor Deutschland läßt sich populistisch schon heute in Polen, Frankreich und selbst in Holland politisch instrumentalisieren. Auch die gemeinsame Währung kann in Gefahr geraten, sobald die bisher noch willfährigen Regierungen das deutsche Konzern-Programm für Lohndrückerei und Sozialdumping ihren Völkern nicht mehr plausibel machen können. Wenn Kanzlerin Merkel sagt, Deutschland sei ein "Sanierungsfall", weiß sie nur leider nicht, wie recht sie hat.