Ergebnisse der "Föderalismusreform"

Mit den Stimmen der großen Koalition wurde im Bundestag und Bundesrat die Föderalismusreform verabschiedet. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in der Verfassung wurde damit neu ...

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geordnet. Das hört sich erst einmal harmlos an und die medialen Klagen über die Blockaden zwischen Bundesrat und Bundestag hat sich in die Ohren so eingebrannt, dass eine Reform des Föderalismus als Sachpolitik jenseits der politischen Ausrichtung erscheint. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass dem keineswegs so ist, die scheinbar sachliche und gerechte neue Machtverteilung zwischen Bund und Ländern ist ein Mosaikstein im neoliberalen Umbau der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Zustimmungsgesetze: Hindernisse für den Sozialstaat
Das wesentliche Ziel der Grundgesetzänderungen war es Entwicklungen aufzuhalten, die in der Begründung zum Gesetzentwurf so beschrieben werden: "Bei der Gesetzgebung des Bundes haben die ausgeprägten Zustimmungsbefugnisse der Länder über den Bundesrat bei unterschiedlichen politischen Mehrheitsverhältnissen in Bund und Ländern immer wieder zu Verzögerung oder sogar Verhinderung wichtiger Gesetzgebungsvorhaben oder zu in sich nicht stimmigen Kompromissen geführt, bei denen die jeweilige politische Verantwortlichkeit nicht oder kaum noch zu erkennen ist. Â… Auf der anderen Seite wurden die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder im Laufe der Zeit immer weiter zurückgedrängt."(1) Es ging also darum, einerseits die Anzahl der Zustimmungsgesetze zu reduzieren und im Austausch dafür den Ländern eine größere Zahl von eigenen Zuständigkeiten zuzugestehen - so jedenfalls die offizielle Begründung. Die Neuregelungen sollen hier kurz analysiert und politisch bewertet werden.

Die Zustimmungspflichtigkeit zu Bundesgesetzen besteht nur dann, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich bestimmt.(2) Das ist für eine Anzahl von Spezialmaterien der Fall. Verantwortlich für die Zunahme der zustimmungspflichtigen Gesetze - oder für den Eindruck einer Zunahme - war jedoch die generalklauselartige Vorschrift des Art. 84 GG, wonach Bundesgesetze, welche die Einrichtung von Behörden oder das Verwaltungsverfahren regeln, der Zustimmung des Bundesrates bedurften. Diese Regelung wurde in folgender Weise geändert: Bundesgesetze können nun auch die Einrichtung von Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, die Länder können aber durch ein zeitlich späteres Landesgesetz von dieser Bundesregelung abweichen (Art. 81 I i.V.m. 72 III) - also andere Vorschriften erlassen, als der Bund sich vorgestellt hat. Will der Bund eine verbindliche Verfahrensregelung, bedarf diese wieder der Zustimmung des Bundesrates. Auf der anderen Seite wurde die Zustimmungspflichtigkeit erweitert auf Bundesgesetze, über die Leistungen an Dritte zu erbringen sind. Bisher waren nach Art. 104 a III Bundesgesetze, nach denen Geldleistungen für Dritte gewährt wurden (Beispiel Wohngeld), zustimmungspflichtig, wenn die Länder mehr als ein Viertel der Ausgaben tragen sollten. Nun sollen solche Gesetze unabhängig von der Höhe der Länderbelastung zustimmungspflichtig sein - also auch dann, wenn die Länder weniger als ein Viertel der Kosten tragen. Außerdem werden außer den Geldleistungen auch Sachleistungen an Dritte von der Neuregelung erfasst. Die Gesetzesbegründung macht explizit klar, dass die Sachleistungen weit zu fassen sind, so dass auch Dienstleistungen der Länder an Dritte darunter fallen. Zu solchen weit gefassten Sachleistungen gehöre dann z. B. "die Verpflichtung der Länder zur Erbringung (3) von Schuldnerberatungen oder zur Bereitstellung von Tagesbetreuungsplätzen."(4)

Die Gewichte sind hier verschoben worden: Zunächst ganz formal von der Souveränität der Länder, ihre Verwaltung zu organisieren, also der klassischen Hoheitsbefugnisse, zur finanziellen Souveränität der Länder gegenüber dem Bund. Diese Schwerpunktverlagerung ist kennzeichnend für eine Situation, in der die Staatseinnahmen systematisch ausgetrocknet werden und dann ein Wettstreit um die Reste der vorhandenen Mittel beginnen muss, der politische Gestaltung faktisch leer laufen lässt. Diese Regelung zeigt genau in diese Richtung: Im Ergebnis wird es leichter möglich sein, ohne Zustimmung des Bundesrates Sozialabbau zu betreiben und zu deregulieren, schwieriger aber, neue Sozialleistungen einzuführen, sobald eine Kompetenz der Länder betroffen ist oder diese an der Finanzierung beteiligt werden. Die Neureglung ist eine verfahrensrechtliche und deshalb versteckte Entscheidung gegen den Sozialstaat.

Nachdem Merkel im Wahlkampf angekündigt hatte, die neue (geplante schwarz-gelbe) Bundesregierung werde "durchregieren" können, weil es dann gleiche Mehrheiten im Bundesrat und Bundestag geben werde, drängt sich die grundsätzliche Frage auf, ob es angesichts der z. Z. vorherrschenden neoliberalen Conter-Reform eigentlich wünschenswert ist, dass Gesetzgebungsvorhaben leichter verwirklicht werden können, ein möglicher sozialstaatlicher Ausgleich durch den Bundesrat wegfällt. Mit Blick auf die neue Verschiebung zur erweiterten Zustimmungspflichtigkeit bei Sozialgesetzen ist die Frage leicht zu beantworten: Die Vereinfachung als zentraler Teil der Föderalismusreform passt in die Strategie des sozialstaatlichen rollbacks und damit zur gegenwärtigen Umdefinition des Begriffs der Reform.

Abweichungsregel im Umweltrecht
Ein weiterer Schwerpunkt der "Reform" ist die Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Das so genannte Rahmenrecht (5) wurde abgeschafft und die dort bestehenden Kompetenzen zwischen Bund und Ländern verteilt. Teilgebiete der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (6) wurden in die Zuständigkeit der Länder verlagert. Der Bund erhielt aus dem Bereich der Rahmengesetzgebung u. a. die Bereiche des Naturschutz- und des Wasserrechts. Damit wird es nun möglich, ein einheitliches Umweltgesetzbuch einzuführen, das seit den Zeiten der Regierung Kohl auf Halde liegt, aber mangels umfassender Bundeszuständigkeit nicht eingeführt werden konnte. Im Umweltgesetzbuch werden die z. Z. auf verschiedene Gesetze verteilten Materien des Umweltrechts, Immissionsschutzes, Naturschutzes, Wasserrechts usw. in einem Gesetz zusammengefasst, ohne dass damit wesentliche inhaltliche Änderungen geplant wären. Diese Kompetenz im Bereich des Umweltrechts hat der Bund sich aber erkauft durch eine neu geschaffene Möglichkeit der Länder, vom Bundesrecht abzuweichen. Die Länder können (Art. 72 III Neufassung) in den dort aufgezählten Gesetzgebungsmaterien von den bundeseinheitlichen Regelungen abweichen, wobei es sich bei diesen Materien im Wesentlichen um umweltrechtliche, raumordnungsrechtliche und hochschulrechtliche Regelungsbereiche handelt, die allesamt aus dem Bereich der vormaligen Rahmenrechtskompetenz stammen. Insgesamt dürfte sich diese Art der Regelung als Kompetenzerweiterung der Länder auswirken, da das Bundesrahmenrecht regelmäßig so präzise gefasst war, dass Abweichungen der Länder oder landesspezifische Ausgestaltungen kaum möglich waren. Nur im Bereich des Hochschulrechts hat das Bundesverfassungsgericht in jüngster Zeit der Regelungsdichte des Bundesrahmenrechts Schranken gesetzt.

Die Abweichungsregel erlaubt auch eine Abweichung nach unten, und hieraus ergeben sich Befürchtungen, dass es zu einem föderalen Wettbewerb um niedrigere Umweltstandards kommt. Diese Befürchtung hat eine gewisse Substanz, weil die Länder zumindest glauben können, sich auf diesem Wege Standortvorteile zu verschaffen. Das Investitionsparadies ist dasjenige mit den niedrigsten Umweltstandards - so die bekannte Argumentation, die ein race-to-the-bottom bei den Umweltstandards auch auf der gesetzgeberischen Ebene erwarten lässt. Diese Erwartung lässt sich empirisch auf die Beobachtung stützen, dass die Länder, die für den Vollzug des Umweltrechts zuständig waren und sind, eben über den Vollzug bzw. Nichtvollzug bundesrechtliche Regelungen teilweise systematisch unterminiert haben.(7) Gleichzeitig ist aber das Umweltrecht stark europarechtlich überformt, d. h. es gibt viele europarechtliche Vorgaben, die von den Ländern gesetzgeberisch umgesetzt und auch verwaltungsmäßig vollzogen werden müssen. Das könnte die Kritiker der Abweichungsregel besänftigen. Schaut man sich jedoch die Materien an, in denen den Ländern ein Abweichungsrecht oder eine originäre Kompetenz zugestanden wird, so sind es genau diejenigen, denen das Europarecht weite Spielräume belässt. Dazu gehört auch das Naturschutzrecht, dessen Neuregelung besonders kompliziert ausfällt.(8)

Zentral getroffen von der Abweichungsregelung wird die Planungsgesetzgebung des Bundes. Diese wurde vorwiegend in den 1970er Jahren eingeführt und sieht neben der allgemeinen Raumplanung, über die die Bodennutzung auf Landesebene geplant werden soll, insbesondere im Naturschutzrecht und Wasserrecht spezifische Pläne vor, über die die Wasserbewirtschaftung organisiert und Erhaltungsmaßnahmen für die Natur räumlich geplant werden sollten. Diese Planungsaufgaben sind bis heute unzureichend umgesetzt worden - es gab nicht nur ein Vollzugsdefizit, sondern geradezu eine Vollzugsverweigerung. Gegenwärtig fordert der Europäische Gesetzgeber für die Wasserwirtschaft und die Luftreinhaltung (Feinstaub) besondere Pläne, denen sich auch die Länder und Kommunen auf Dauer nicht mehr entziehen können. Dennoch hat der Bundesgesetzgeber mit der Verfassungsänderung demonstrativ Zeichen gegen die Beplanung des Raumes gesetzt, die heute noch wichtiger wäre als in den 1970er Jahren, aber offenkundig nicht in das ideologische Konzept der großen Koalition passt.

Universitäten und Schulen in der Wettbewerbsordnung
Dieses Konzept wird auch in den Kompetenzverschiebungen zugunsten der Länder sichtbar und lässt sich knapp unter das Stichwort "Wettbewerbsföderalismus" subsumieren. Da ist zunächst die Hochschulgesetzgebung, die bisher auch in den Bereich der Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes fiel. Mit der Reform verbleibt beim Bund nur noch die Kompetenz zur Regelung der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse (Art. 74 I Nr. 33), und für diese Bereiche können die Länder wiederum abweichende Regelungen treffen. Das schließt es aus, bundeseinheitlich die Hochschulgebühren zu regeln und vor allem sie zu verbieten. Denn alle übrigen Fragen des Hochschulrechts, wie Organisationsform, Verwaltungsgliederung, Privatisierung usw. fallen nun in die Länderkompetenz. Zu erwarten ist - die Ansätze sind gegenwärtig schon sichtbar - eine Welle der Hochschulprivatisierung oder Teilprivatisierung, der wissenschaftsfremden Steuerung über Hochschulräte, die sich aus der Wirtschaft rekrutieren, und Ähnliches, unter anderem mit dem recht offen formulierten Ziel, die Hochschulen mit der regionalen Wirtschaft zu vernetzen, um so über einen Wissenstransfer direkte Standortvorteile zu generieren. Dazu passt es dann, dass der Hochschulneubau keine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Land mehr ist und die "frei werdenden Finanzierungsanteile des Bundes" den Ländern zugewiesen werden. Nach Protesten wird allerdings die "Mischfinanzierung" bei Vorhaben wissenschaftlicher Forschung beibehalten, wobei sie durch die Änderung in ein engeres Korsett als vordem gezwängt wird.

Gestrichen wurde wiederum das in neoliberalen Ohren unschöne Wort "Bildungsplanung" in Art. 91 b a. F., Bund und Länder können nur noch über "Vereinbarungen zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich" zusammenwirken (Art. 91 b II). Bei aller Konkurrenz zwischen den Ländern, im internationalen Pisa-Vergleich muss man wohl gemeinsam untergehen. Anders gesagt: Chancengleichheit oder Ganztagsschulen werden zukünftig nur noch Gegenstand einer Bund-Länder Vereinbarung sein können, wenn damit gleichzeitig die Leistungsfähigkeit des Bildungswesens betroffen ist - worüber man im Zweifel trefflich streiten kann. Anders gesagt: Ein Hardliner wie Koch erhält die Möglichkeit, ihm nicht genehme Vereinbarung zwischen dem Bund und anderen Ländern als verfassungswidrig zu brandmarken. Die SPD feiert die Änderungen als Erfolg gegenüber dem "ursprünglich vorgesehenen Kooperationsverbot"(9), das den Sozialdemokraten offenbar jenseits seines Zwecks als wünschenswert gilt: Bei der vorhandenen Inhaltsleere ist es nur noch wichtig sich durchzusetzen, nebensächlich erscheint dann womit.

Deregulierungsoptionen für die Länder
Aus der bundeseinheitlichen Regelung des Rechts der Wirtschaft (Art. 74 I Nr. 11) wurden die Bereiche "Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellung von Personen, der Messen, der Ausstellungen und Märkte" herausgenommen, die folglich nun in die Landeskompetenz fallen.(10) Hier wird über eine Verfassungsänderung auf den ersten Blick versucht, einen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Nonsens zu verwirklichen, nämlich endlich landesherrlich die Ladenschlusszeiten aufzuheben, weil man sich auf Bundesebene nicht einigen kann. Zunächst lassen sich Zweifel anmelden, ob dabei der hohe Rang der Verfassungsgesetzgebung angemessen berücksichtigt wurde - die Änderung erinnert an Brians Feilschen um den falschen Bart (11) -, weil ich auf Bundesebene die Ladenschlusszeiten nicht ändern will, gebe ich gleich die Verfassungsänderung obenauf. Auf den zweiten Blick passt die Änderung allerdings in das Programm des Wettbewerbsföderalismus, bei dem die Bundesländer auch über den Ladenschluss um Standortvorteile konkurrieren sollen. Das Ergebnis ist absehbar - auch hier ist ein race-to-the-bottom zu befürchten, weil niemand Opfer einer beggar-my-neighbour-Politik sein will und Schutzrechte für Arbeitnehmer auf der politischen Rangskala gegenwärtig ganz unten stehen. Die Ladenschlusszeiten stehen exemplarisch für Deregulierungspotenziale auch in den anderen oben benannten von der bundeseinheitlichen Wirtschaftsgesetzgebung ausgenommenen Materien.

Privatisierung des Strafvollzugs
Verloren hat der Bund seine Zuständigkeit in weiteren Bereichen, von denen nur noch drei herausgegriffen werden sollen, nämlich erstens das Strafvollzugsrecht, das Versammlungsrecht und das Beamtenrecht. Das Recht des Strafvollzugs war bisher Teil der konkurrierenden Gesetzgebung und wurde in Art. 74 I Nr. 1 zusammen mit dem Strafrecht so geregelt, dass der Bund hier einheitliche Regelungen erlassen konnte, was er denn auch getan hat. Diese Kompetenzzuweisung wurde zusammen mit dem Untersuchungshaftvollzug der Regelungskompetenz des Bundes entzogen und damit den Ländern zugewiesen. Im Bereich des Strafvollzugs wird seit längerer Zeit ebenfalls mit Möglichkeiten der Ausgliederung und Privatisierung experimentiert. Solchen Experimenten sind durch ein bundeseinheitliches Strafvollzugsgesetz inhaltliche Grenzen gesetzt, nämlich dort, wo verbindliche Ziele und Formen des Strafvollzuges geregelt werden, die privatrechtlich nicht organisiert werden können. Diese Begrenzungen entfallen nun, d. h. Schranken gegen die private Verwahrung und Ausbeutung der Strafgefangenen als billige Arbeitskräfte wird nun nur das Bundesverfassungsgericht ziehen können; die Grenzen liegen dort, wo die Eingriffe in die persönliche Freiheit nur hoheitlich geregelt und organisiert werden können. Im Bereich der Privatisierung des Strafvollzugs liegt ein Grund der Kompetenzverschiebung. Zudem treibt die Änderung heute schon Blüten, die dem erstaunten Publikum die Sprache verschlägt. Hamburgs Justizsenator Lüdemann (CDU) hat unmittelbar nach der Föderalismusreform angekündigt, im Hamburger Strafvollzug werde alsbald der Vorrang der Resozialisierung gestrichen, die Sicherheit werde zukünftig die erste Stelle einnehmen.(12) Das mögen starke Sprüche im Sommerloch sein, das Resozialisierungsgebot ist nämlich nicht nur im Strafvollzugsgesetz geregelt, sondern wurde vom Bundesverfassungsgericht, in Art. 1 GG verankert, als Teil der menschlichen Würde verstanden, die es gebiete, Strafgefangenen eine Perspektive zu eröffnen. Aber die Sprüche eines Aufmerksamkeit heischenden Justizsenators passen in die allgemeine Tendenz, den Strafvollzug zu privatisieren, um Kosten zu sparen - auf der Strecke bleiben die angeblichen "Kunden".

Zersplitterung des Versammlungsrechts
Das Versammlungsrecht, das bisher Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz war, gehört zu den Materien, die nun ausschließlich in die Kompetenz der Länder fallen. Das überrascht auf den ersten Blick. Das Versammlungsgesetz des Bundes ist in seinen Formulierungen so restriktiv, dass es vom Bundesverfassungsgericht bis zur Unkenntlichkeit verfassungskonform ausgelegt wurde. Das Versammlungsgesetz fordert beispielsweise, dass Demonstrationen zwingend anzumelden sind, was mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Die Regelung wurde aber nicht aufgehoben, sondern verfassungskonform in dem Sinne interpretiert, dass Spontandemonstrationen selbstverständlich auch ohne Anmeldung zulässig sind. Die Anmeldepflicht dürfe nicht als Restriktion verstanden werden, die es der Staatsmacht erlaube, das Demonstrationsrecht einzuschränken und Demonstrationen zu kontrollieren. Vielmehr diene die Anmeldepflicht den Demonstrationsveranstaltern, weil durch die Anmeldung die Polizei dafür sorgen müsse, dass die Demonstration nicht durch Verkehr oder auf andere Weise behindert oder gar verhindert werde. Kurz: Das Bundesverfassungsgericht hat die Demonstrationsfreiheit sehr liberal ausgelegt und Einschränkungen sehr konsequent zurückgewiesen. Das wurde in letzter Zeit insbesondere bei Neonazi-Aufmärschen zu einem Problem, weil das BVerfG gegen die Polizeipräsidien und Verwaltungsgerichte diese regelmäßig zuließ, um die Demonstrationsfreiheit als hohes Gut in der politischen Kultur einer Demokratie zu schützen. Das mag mit Blick auf rechte Aufmärsche ärgerlich sein, ist aber überzeugend, weil die Verfassung nicht unter taktischen Gesichtspunkten diskutiert werden sollte - schon deshalb ist die Föderalismusreform problematisch.

Wenn aber der Inhalt der Demonstrationsfreiheit in weiten Teilen nicht durch das Bundesversammlungsgesetz vorgegeben wird, sondern durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts konkretisiert und bestimmt wird, welchen Zweck hat es dann, fragt man sich, für diesen Bereich die Zuständigkeit der Länder zu begründen? In der harmlosen Variante könnten die Großkoalitionäre schlicht gedacht haben, das Versammlungsrecht liege nahe beim Polizeirecht, das in den Zuständigkeitsbereich der Länder fällt, so dass eine Vereinheitlichung sinnvoll ist. Weniger harmlos sind allerdings prozessuale Konsequenzen, die zumindest den juristischen Beratern nicht entgangen sein dürften. Landesrecht ist in vielen Ländern - nach den Verwaltungsgerichten - zunächst vor den Landesverfassungsgerichten anhand der Landesverfassung zu prüfen. Die Landesverfassungen gewährleisten ebenso wie das Grundgesetz regelmäßig die Versammlungsfreiheit und sind im Zweifel im Lichte des Grundgesetzes auszulegen. Zuständig sind dann aber zunächst viele unterschiedliche Landesverfassungsgerichte, die unterschiedliche Nuancen in das Versammlungsrecht bringen können, also die einheitliche liberale Auslegung der Demonstrationsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht unterminieren könnten. Die scheinbare Kosmetik wird unter diesem Gesichtspunkt zu einem gefährlichen chirurgischen Eingriff, der kaum noch unter Schönheitsoperation zu fassen ist.

Wettbewerb im Beamtenrecht
Das Beamtenrecht wurde aus dem Katalog des Rahmenrechts - für die Landesbeamten - weitgehend in die Kompetenz der Länder gegeben. Ausgenommen wurden nur Regelungen zu den Statusrechten und -pflichten der Beamten, womit die Voraussetzungen, Arten, Dauer, Rechtsform der Dienstverhältnisse sowie Abordnungen und Versetzungen einheitlich geregelt werden. Diese Bereiche fallen in die Kompetenz des Bundes zur "Sicherung der länderübergreifenden Mobilität der Bediensteten"(13). Und genau dies ist das mehr oder weniger explizite Ziel der Reform. Es wurde argumentiert, dass die Länder so in einen Wettbewerb um die effektivste Verwaltung und letztlich auch die besten Beamten eintreten können. Beamte sollen nicht nach "starren" Laufbahnregeln und einheitlich besoldet werden, sondern das Leistungsprinzip soll eingeführt werden, was letztlich auch den reicheren Ländern erlaubt, die "besseren" Beamten besser zu bezahlen. Der Wettbewerbsföderalismus (14) wird hier in seiner Konsequenz durchbuchstabiert.

Nun könnte man sagen, es sei doch nichts dagegen einzuwenden, das Leistungsprinzip auch bei den Beamten einzuführen. Abgesehen von der Unterstellung (15), die unerträglich ist, gibt es inzwischen Erfahrungswerte mit so genannten Leistungszulagen im öffentlichen Dienst, nämlich bei Hochschullehrern. Das Problem besteht darin, die Leistungen zu messen. Dabei zeigt sich, dass es allenfalls auf Marktwerte, nicht auf Leistung ankommt. Insgesamt wird das Entgeltniveau damit nach unten korrigiert - die Zulagen fallen bei autonomer Mittelbewirtschaftung regelmäßig geringer aus als das ursprüngliche Grundgehalt. Das zweite Problem, das verschärft werden könnte, ist das Gefälle zwischen Nord und Süd und noch stärker zwischen Ost und West. Die Landeskompetenz bei der Besoldung schafft die Voraussetzung, um die ungleichen Lebensverhältnisse in den Bundesländern zunächst im öffentlichen Dienst festzuschreiben. Die zweite Stufe der Föderalismusreform, die vom Bundesrat per Beschluss eingefordert wurde (16), wird dieses Problem in gesteigerter Schärfe auf die Tagesordnung setzen. Gefordert wird nämlich eine Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, womit nicht zuletzt der Länderfinanzausgleich und der Transfer an die Ostländer auf der Tagesordnung neuer Überlegungen zum Wettbewerb im Bundesstaat stehen. Dieser Euphemismus bedeutet nichts anderes als: Aufkündigung der Solidarität als Grundlage der Beziehungen zwischen den Ländern und dem Bund und damit folgt die Föderalismusreform nur der allgemeinen Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung - was nicht als Entschuldigung dienen kann. Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, in diese Richtung deutet die Föderalismusreform, wird als verfassungspolitisches Ziel aufgegeben. Bundespräsident Köhler hat explizit gefordert, auf dieses Ziel zu verzichten, denn damit zementiere man den Subventionsstaat (17). Mit dieser Äußerung erntete er lautstarken Widerspruch auch der großen Koalition, die sich wenig später mit der Föderalismusreform daran machte, die Weichen genau in diese Richtung zu stellen.

Karl Schiller warnte 1993 davor, auf eine wirkliche Integration des Ostens zu verzichten, ihn zum Mezzogiorno (18) in einer deutschen Variante werden zu lassen (19). Die Föderalismusreform und eine entsprechende zweite Stufe sind Schritte in diese Richtung. Die politische und kriminologische Geschichte Italiens zeigt allerdings, dass es sich eine Gesellschaft nicht leisten kann, einen ihrer Teile abzuhängen, die Solidarität aufzukündigen und die Starken stärker werden zu lassen. Es gibt einen Punkt, da wirken die ungleichen Verhältnisse auch auf die prosperierenden Regionen zurück.

Andreas Fisahn - Jg. 1960, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld

1 Bundestags-Drs. 16/813, S. 7.

2 Zustimmungsgesetze sind von Einspruchsgesetzen zu unterscheiden, bei letzteren kann der Bundesrat über die Anrufung eines Vermittlungsausschusses das Gesetz nur verzögern, weil der Bundestag die Ablehnung des Bundesrates in einer weiteren Abstimmung zurückweisen kann. Bei Zustimmungsgesetzen bedarf es einer Zustimmung der Mehrheit des Bundesrates.

3 Hier wiehert der Amtsschimmel im besten Bürokratendeutsch.

4 Bundestags-Drs. 16/813, S. 18.

5 Hier sollte der Bund nur einen allgemeinen Rahmen vorgeben, der die Länder verpflichtet, eigene Gesetze zu schaffen, die sich in diesem Rahmen bewegen und ihn gleichzeitig landesspezifisch ausfüllen.

6 Dabei dürfen die Länder nur das regeln, was der Bund nicht oder nicht anders geregelt hat.

7 Vgl. ausgführlich zu dieser Argumentation: H.-J. Koch: Naturschutz und Landschaftspflege in der Reform der bundesstaatlichen Ordnung, BfNSkript 109/ 2004, S. 15 ff.

8 Es sollte ein abweichungsresistenter Teil im Naturschutzrecht geschaffen werden, indem die "Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes" von der Abweichungsregelung ausgenommen wurden. Nicht erfasst von den Grundsätzen des Naturschutzes sollen sein die Landschaftsplanung, die Voraussetzungen für die Ausweisung von Schutzgebieten, die gute land- und forstwirtschaftliche Praxis und die Mitwirkung (Klagerechte) der Verbände. Das internationale und europäische Recht macht im Bereich des Artenschutzrechts und in einem Teilbereich der Schutzgebietsausweisung harte Vorgaben. Genau in diesen harten Bereichen sieht die Neuregelung keine Abweichungsregelung vor, dagegen in "weichen" Bereichen, in denen europarechtlich ein weiter Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten besteht, wie bei der Landschaftsplanung oder bei den Klagerechten der Naturschutzverbände. Das Gleiche gilt für das Wasserrecht, wo sich das Europarecht im Bereich der Wasserqualitätsplanung auf Rahmenrichtlinien zurückzieht, die der Verwaltung große Planungs- und Entscheidungsspielräume einräumt. Die stoff- und anlagebezogenen Regelungen fallen nach dem neuen Art. 73 III Nr. 5 nicht unter die Abweichungsregelung zugunsten der Länder. Das wäre - jedenfalls in großen Teilen - europarechtlich auch nicht zulässig.

9 http://www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_dok/0,,37087,00.html

10 Bundestags-Drs. 16/813, S. 3 und 8.

11 Aus Monty Pythons "Leben des Brian".

12 Frankfurter Rundschau 24. 7. 06; http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/?cnt=933962

13 Bundestags-Drs. 16/813, S. 14.

14 Dazu auch: M. Stock: Föderalismusreform: Mit der großen Koalition ins Abenteuer?, Zeitschrift für Umweltrecht 2006, S. 113 ff.

15 Das impliziert immer schon die Unterstellung, Beamte würden ansonsten ja nichts leisten - was zum bekannten Spiel des neoliberalen Sozialdumpings gehört. Es wird eine Gruppe nach der anderen gegeneinander ausgespielt: die Lehrer gegen die Arbeitslosen und die Beamten gegen die Hochschullehrer und der gesamte öffentliche Dienst gegen die "freie" Wirtschaft, bis man bemerkt, dass der Lohnstandard für alle nach unten gerutscht ist.

16 Bundesrat-Drs. 462/06, S. 16.

17 http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/10/0,3672,2191978,00.html

18 Der arme italienische Süden mit starken Mafia-Strukturen.

19 http://druckversion.studien-von-zeitfragen.net/Schiller%20Mezzogiorno.pdf

in: UTOPIE kreativ, H. 194 (Dezenber 2006), S. 1126-1133

aus dem Inhalt: VorSatz; Sprüche von Bacon. Bacon zum Nachdenken; Essay HELMUT BOCK: Napoleon Bonaparte. Von Widerspruch und Unfrieden eines bürgerlichen Hegemonialsystems; Gesellschaft - Analysen & Alternativen MICHAEL WOLF: Hartz IV: ausgrenzende Aktivierung oder Lehrstück über die Antastbarkeit der Würde des Menschen; RICHARD SORG: Kapitalismus und Soziale Arbeit; Informationskapitalismus HANS-GERT GRÄBE: Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft; PETER ULLRICH, ANDREAS MÜLLER: Wissenschaftlich Arbeiten mit freier Software; Rechtskritik ANDREAS FISAHN: Ergebnisse der "Föderalismusreform"; Standorte ELKE BREITENBACH, KATINA SCHUBERT: Auf den Inhalt kommt es an. Anmerkungen zur Programmdebatte für die neue Linke; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Siegfried Prokop: 1956 - DDR am Scheideweg. Opposition und neue Konzepte der Intelligenz (ANDREAS HEYER); Waltraut Schälike: "Ich wollte keine Deutsche sein". Berlin-Wedding - Hotel "Lux" - Dietz Verlag (WLADISLAW HEDELER); Paul Lendvai: Der Ungarn-Aufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen (JÜRGEN MEIER); Rosel Ebert: Rette sich wer kann! Ein wagemutiges Spiel mit Ärzten und anderen Heilkundigen in 14 Runden (URSULA SCHRÖTER); Lisa Jandi: Vom "roten Gürtel" zum "braunen Gürtel"? Rechtsextremismus in den Pariser Vorstädten (CHRISTOPH SCHAUB); Summaries