Imaginarien des (Trans-)Nationalen in den Amerikas

Zur Akkommodation des Nationalen in der transnationalen Kulturindustrie

Die Verhandlungen im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten und der Amerikanischen Freihandelszone veranschaulichen einen konstanten transnationalen Integrationsdruck.

Transnationale Integrationsprozesse in den Amerikas

Die Verhandlungen im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten und der Amerikanischen Freihandelszone, die nach dem ehrgeizigen ursprünglichen Zeitplan der USA noch im Jahr 2005 zu einer Einigung über eine weitreichende wirtschaftliche, politische und kulturelle Integration der Amerikas hätten führen sollen, veranschaulichen, auch wenn sie wiederholt aufgeschoben werden mussten, dass auf dem Gefüge der interamerikanischen Beziehungen ein konstanter transnationaler Integrationsdruck lastet. Wie sich die Transnationalisierung in diesem Bereich weiter entwickelt, wie weit sich die Interessen der transnationalen Akteure in der Wirtschaft werden durchsetzen können und welche Rückwirkungen dies auf die kulturellen Identitäten in den Amerikas zeitigen wird, ist hierbei noch keineswegs ausgemacht. So hat sich gegen die neoliberalen Globalisierungsimaginarien, die von Teilen der nationalen und transnationalen Hegemonien in Wirtschaft und Politik ausgehen, ein grenzüberschreitender zivilgesellschaftlicher Widerstand entwickelt. Dieser schlägt sich sowohl auf die transnationalen politischen Agenden nieder als auch in Umbrüchen in den nationalen politischen Feldern, wie u.a. die gegenwärtigen Entwicklungen in Bolivien, Venezuela und Argentinien zeigen. Nichtsdestotrotz wird die hemisphärische Verflechtung auch weiterhin zunehmen, wie allein schon die kontinuierlich wachsende Hispanisierung der USA (wo Latinos seit dem Zensus von 2003 die zahlenmäßig stärkste ethnische Minderheit stellen) sowie die stetige Ausweitung des Einflusses der US-amerikanischen Kulturindustrien auf Lateinamerika verdeutlichen. In diesem Zusammenhang zeichnet sich ab, dass im identitätspolitischen Feld in den Amerikas eine grundlegende Neuverhandlung jener identitären Narrationen stattfinden wird, über die die nationalen imaginären Gemeinschaften und das Gefüge der transnationalen Beziehungen austariert werden. Im Rahmen der Beschäftigung mit den neuen "postnationalen Formationen" stellt sich auch die Frage nach den Remodellierungen der weiter bestehenden Nationalkulturen (vgl. u.a. García Canclini 2001). Da in den jüngsten Diskussionen zu Transnationalität, Postnationalität, Transkulturalität, Weltgesellschaft u.ä. die Nation häufig als ein überholtes Relikt der Moderne fungiert, möchte die vorliegende Arbeit sich mit der Frage beschäftigen, ob nicht die transnationalen Integrationsprozesse in den Kulturen der Amerikas durch eine kontinuierliche Akkommodation des Nationalen begleitet werden, die statt auf eine binäre Opposition zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen auf ein dialektisches Verhältnis zwischen beiden Begriffen schließen lässt.

Krise der Nation, Transnationalität, Postnationalität

Eine große Bandbreite von Faktoren führte seit den 1980er Jahren zur Krise der Nation im okzidentalen Kulturkreis (Castells 1997: 27) und bewirkte den Übergang zu Paradigmen wie Transnationalität, Postnationalität und Weltgesellschaft. Die grenzüberschreitend operierende Wirtschaft mit einem steigenden Anteil an postindustriellen Produktionsverhältnissen und die damit zunehmende Entstofflichung der Warenkreisläufe fördern den allmählichen Bedeutungsverlust nationalstaatlicher politischer Kontrollmechanismen. Zugleich ist mit dem Ende des "Kalten Krieges" die Herausbildung transnationaler Zusammenhänge notwendig geworden, mit denen die Nationen auf die Herausforderungen des neuen geopolitischen Machtgefüges reagieren. Von ebenso zentraler Bedeutung sind die kulturellen Faktoren der Krise des Nationalen: Massenmigration, Multikulturalität und Multiethnizität haben in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Legitimation der "nationalen Pädagogik" (Bhabha 1994) in Frage gestellt, Nation und "Nationenvolk" ("nation-people") in ihrer vermeintlichen Homogenität repräsentieren zu können. In diesem Kontext hat sich insbesondere auch die Dekonstruktion der tradierten essentialistischen Identitätskonzepte des Nationalen ausgewirkt. Narrative und performative Identitätskonstrukte, die die Essentialismen allmählich transformieren und substituieren, lassen Raum für die Erkenntnis, dass die Nationalidentität nur noch ein mögliches Identifikationsangebot für das zeitgenössische Individuum in einem ganzen Feld von komplementären oder im Widerspruch zueinander stehenden identitären Referenzen darstellt. Ein weiterer wichtiger Faktor in der Krise der Nation besteht in den Rückwirkungen der neuen Medientechnologien auf die Formation der imaginären Gemeinschaften. Die Transnationalisierung der Medien und der Kulturindustrie hat in Lateinamerika die Möglichkeiten der nationalen Hegemonien, weiterhin die Nationendiskurse zu monopolisieren, stark eingeschränkt. Noch bis in die 1980er Jahre konnte für die heterogenen Gesellschaften Lateinamerikas über den Film und das nationale Radio- und Fernsehprogramm ein Bild dessen vermittelt werden, was konsensuell als Nationalidentität anzusehen war (García Canclini 2001: 150f). Von den 1990er Jahren an zieht jedoch die gegenwärtige Marktdurchdringung durch die US-amerikanische Kulturindustrie sowie die lateinamerikanischen global players wie TV Globo und Televisa ein Verwischen klar definierter und homogener nationaler Identitätsmodelle nach sich. Kulturelle Akteure und soziale Gruppen nutzen nun nach transnationalen Vermarktungslogiken ausgerichtete Imaginarien als Referenzrahmen für kollektive identitäre Narrationen. Hierfür kann das Manifest-Pastiche "Presentación del país McOndo" von Alberto Fuguet und Sergio Gómez als Beispiel dienen. Der postavantgardistische Flirt mit Positionen, die sich als homolog zu einer geistigen "Kolonisierung" Lateinamerikas durch die nordamerikanische Kulturindustrie erweisen, zeigt sich schon im titelgebenden "McOndo", das den Mikrokosmos Macondo aus Gabriel García Márquez' Schlüsselwerk der lateinamerikanischen Identitätsdebatte Hundert Jahre Einsamkeit (1967) zur Deckungsgleichheit mit der nordamerikanischen Konsumkultur - McIntosh und McDonald - bringt. Fuguet und Gómez erklären: "Lateinamerika ist unabänderlich [auch] Latin MTV, jener halluzinierende Konsens, jener Strom, der unser Bewusstsein durch das Kabel kolonisiert und der im Begriff ist, sich als das beste Beispiel der Umsetzung von Bolivars [panamerikanischem] Traum zu erweisen - konkreter und effektiver, wenn man über Einheit redet, als hunderte Verträge oder internationale Foren. Sagen wir mal: McOndo ist Latin MTV, aber auf Papier und in Printlettern. Fahren wir fort: Lateinamerika ist Televisa, ist Miami, sind die Bananenrepubliken und Borges und der Comandante [sic!] Marcos und CNN auf Spanisch und NAFTA [North Atlantic Free Trade Agreement] und Mercosur und die Auslandsschulden und - natürlich - Vargas Llosa" (Fuguet & Gómez 1996: 16). Der Text kritisiert in subversiver Art und Weise die Beschränktheit der Nationalkulturen Lateinamerikas und die mit ihnen verbundene Begrenztheit der Absatzmärkte für die nationale Kulturproduktion (vgl. Bergenthal 1999). Nach Fuguet und Gómez fehlt hierdurch der gegenwärtigen Schriftstellergeneration in Lateinamerika der transnationale Vertrieb im interamerikanischen Kontext, der eine Akkumulation symbolischen Kapitals auf internationaler Ebene ermöglichen würde. So erklärt sich, dass die transnationale Kulturindustrie und ihre Ikonen zum unverzichtbaren intertextuellen Referenzsystem einer Generation gehören, die sich zwischen den Konsumwelten der Mediengesellschaft und dem vergangenen internationalen Ruhm der lateinamerikanischen Boom-Generation zu verorten sucht. Die Generationen-Identität, die das Manifest beschwört, gründet neben der Transgression der beengenden Nationalkultur auch auf der Desakralisierung der bolivarischen Utopie der Gran Patria, die noch der Boom-Generation als Grundlage der lateinamerikanischen Identitätsdebatte gedient hatte. In einem postavantgardistischen Traditionsbruch stellen Gómez und Fuguet die Gleichung zwischen der geopolitischen Vision des Libertador Simón Bolívar und der Kulturindustrie der US-Hegemonie auf. Selbst wenn in diesem Tabubruch zugleich schon dessen Aufhebung in der Selbstironie liegt, gründet die Generationen-Identität, wie sie Gómez und Fuguet umreißen, auf einer Negation des kulturell Eigenen und auf einer Affirmation jener hybriden Kultur aus den Zentren der industriellen Kulturproduktion wie MTV Latina und CNN, die die Grenzräume im interamerikanischen Beziehungsgeflecht kommerziell zu nutzen wissen. Während die Fernseh-, die Verlags-, die Musik- und die Filmindustrien weitgehend so strukturiert sind, dass Produktion und Distribution von einigen wenigen Machtzentralen gesteuert werden, stellt das World Wide Web eine völlig andere Herausforderung für den Nationendiskurs dar. Durch seine dezentrierte Struktur der medialen Partizipation und die relativ geringen Kosten für die Produktion und transnationale Verbreitung von Diskursen und Kulturgütern ist das Netz ein zentraler Faktor in der Veränderung der Konzeptionen vom öffentlichen Raum - und damit auch der Nation. Wie Castells (1996) in seinem grundlegenden Werk zur Netzwerkgesellschaft im Informationszeitalter zeigt, schafft das Netz die Grundlage zur Formation sozialer Bewegungen, die sich zugleich lokal und transnational verorten und einen messbaren Einfluss auf die Formulierung der nationalen und internationalen politischen Agenden erreichen. Die "Medienguerilla" der neozapatistischen Bewegung und ihre internationalen Netzwerke von Unterstützern sind als eines der frühesten solcher Phänomene zu einem Paradigma dafür geworden, wie die organisierte Zivilgesellschaft eine militärische Repressionstaktik in einem sozialen Konflikt bremsen konnte, der nur einige Jahre zuvor noch als ein Fall von nationaler sozialer und ethnischer Heterogenität kaum eine transnationale Transzendenz erreicht hätte (Trejo Delarbre 1994; Cleaver 1998; Castells 1997: 72-83; Kastner 2004). Im Rahmen der gegenwärtigen Netzwerkgesellschaft hatte jedoch die politische Hegemonie die Kontrolle über die zuvor noch national ausgerichtete und stark zensierte Presselandschaft verloren, so dass der Neozapatismo zu einem wichtigen Faktor in der Zerstörung der siebzigjährigen "perfekten Diktatur" des Priismo in Mexiko und des damit verbundenen politischen Zentralismus werden konnte.

Akkommodation des Nationendiskurses im Kontext der Transnationalisierungsprozesse

Trotz der angeführten Faktoren, die zur Krise der Nation in den letzten Dekaden beigetragen haben, gibt es eine Reihe von Indikatoren dafür, dass sich das Verhältnis zwischen Nationalität und Transnationalität nicht in der Weise darstellt, wie es der grand récit einer neoliberalen Globalisierung glauben macht. So stellt Castells in seiner Diskussion der Thesen Gellners und Andersons heraus, dass sich der offenbare Widerspruch zwischen Nation und Globalisierung nur dann ergibt, wenn man Nation mit Staatsnation gleichsetzt, die in einer globalen Weltordnung tatsächlich an die Grenzen ihrer politischen Handlungsmöglichkeiten stoßen wird (Castells 1997: 27ff). Die Nation als imaginäre Gemeinschaft hingegen und die Diskursformationen des Nationalen, auf die sie sich stützt, haben im Gegensatz zur Staatsnation eine erfolgreiche Akkommodation in den letzten Jahren durchlaufen, die sich keineswegs auf das erneute Aufbrechen schon überwundener Ideologien an den vermeintlich unterentwickelten Peripherien der westlichen Weltordnung zurückführen lässt. Vielmehr ist in den Nachwehen des 11. Septembers 2001 im gesamten okzidentalen Kulturraum zu erkennen, dass die Nation als kulturelle und politische Ressource in den Rhetoriken von Politikern aller Couleur wieder einen vorrangigen Platz einnimmt: Von den neokonservativen Rechten in den USA mit ihren mächtigen Konsensfabriken bis hin zu deren linken Antagonisten wie dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ist die Nation eine zwingende Referenz. Der Nationendiskurs fungiert hierbei sowohl im Rahmen der Rechtfertigung des US-amerikanischen Unilateralismus und Expansionismus als auch in Teilen des linken Spektrums als letztes Bollwerk gegen eine US-gesteuerte zügellose neoliberale Globalisierung. Dies tut einer transnationalen Ausrichtung der jeweiligen politischen Praktiken keinen Abbruch, wie etwa u.a. das von Chávez mit großem medialen Aufwand initiierte Lieferprogramm von verbilligtem Heizöl für bedürftige US-Amerikaner im Winter 2005 zeigt. Hier wurde die Solidarität zwischen Nationen-Völkern in Szene gesetzt gegen den politischen Antagonismus zwischen National-Regierungen. So soll eine Verschiebung in den interamerikanischen Repräsentationsverhältnissen bewirkt werden - und zwar in Hinblick auf das Aufbrechen der postkolonialen Fremdrepräsentation von Nationenbildern im Rahmen der kontinentalen Deutungshoheit von US-Medien wie CNN. (1) Diese Situation zeigt, dass die Nation auch im Kontext eines transnational interagierenden hemisphärischen Machtgefüges ihre Funktion als Ressource zur politischen und kulturellen Legitimierung von Machtinstanzen nicht eingebüßt hat. Im Extremfall behält die Nation ihre Funktion als Herrschaftsinstrument selbst dort, wo es darum geht, jene neoliberalen Wirtschaftspolitiken durchzusetzen, die die Souveränität des Nationenstaates untergraben. Aufgrund dieser Ambiguität von Diskursen und Praktiken, die die nationale und transnationale Handlungsebene miteinander vereinen, kann eine Tradierung und Akkommodation von Diskursformationen erfolgen, die im Extremfall auch ohne Referenz auf reale Entsprechungen einer Staatsnation auskommen. Schon Mitte der 1980er Jahre konstatierte Smith, dass die Existenz der identitären Narrationen des Nationalen Faktoren geschuldet ist, die über die politische Krise der Nation hinausreichen: "Durch eine Kontinuität von Geschichte und Schicksal können Erinnerungen lebendig sein und Handlungen ihren Ruhm behalten. Denn nur durch die Generationenkette jener [Menschen], die eine historische und quasi familiäre Bindung teilen, können Individuen darauf hoffen, in Epochen rein irdischer Horizonte einen Sinn für die Unsterblichkeit zu erreichen. In diesem Sinne erscheinen die Nationenbildung und das Erwachen ethnischer Nationalismen mehr eine Institutionalisierung eines 'Religionsersatzes' zu sein, denn eine politische Ideologie; sie sind dementsprechend weit dauerhafter und mächtiger als wir zuzugeben bereit sind" (Smith 1989, zit. bei Castells 1997: 31). Trotz dieser offenbaren Kontinuitätslinien in der Tradierung nationaler Identitätskonstruktionen bleibt zu vermuten, dass sich die Funktion des Nationalen im Kontext der Transnationalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte substanziell verändert hat, da es sich den neuen Trägermedien und einem veränderten identitätspolitischen Feld anpassen muss. Die Vorstellung einer monologischen Diskursstruktur des Nationalen, die von der Spitze der sozialen Hegemonie ausgeht, hat weniger als je zuvor ein Korrelat in der sozialen Realität. Eine große Zahl von hegemonialen und nichthegemonialen Gruppen macht sich diesen Diskurs zunutze, um die eigenen politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Ansprüche zu legitimieren. Die Nation, die während zwei Jahrhunderten einen fast unhinterfragbaren Rahmen für die kulturellen Praktiken der Signifikation einer Gesellschaft geliefert hatte, wird im Kontext der Transnationalisierungsprozesse auf die Rolle einer politischen und kulturellen Ressource reduziert. Es ist dabei davon auszugehen, dass sich hierbei die Diskursformationen des Nationalen und Transnationalen derart überlagern, dass Widersprüche und Friktionen aufgehoben werden, ohne dass die Wirkmächtigkeit der Diskurse selbst eingeschränkt wird. Wenn man zum Beispiel die Vierte Erklärung aus dem lakadonischen Urwald des Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) daraufhin untersucht, zeigt sich eine komplexe Dialektik zwischen nationalen und transnationalen Ansprüchen politischer Repräsentation. Während sich Anfang 1996 der Kampf der EZLN durch die Verbreitungspraktiken der "Medienguerilla" für das linke Spektrum der Weltöffentlichkeit längst zum Paradigma einer globalen Strategie des Widerstands gegen das weltumspannenden Projekt des Neoliberalismus entwickelt hatte, zeigen die Diskurse des EZLN eine deutliche Orientierung an Diskursstrukturen des Nationalen: "Indem sie mit ihrem Indio-Herzen spricht, bleibt die Patria würdig und der Erinnerung bewusst. [...] Wir sind inmitten eines großen Kriegs, der Mexiko gegen Ende des 20. Jahrhunderts erschüttert hat. Der Krieg zwischen denen, die die Perpetuierung eines sozialen, kulturellen und politischen Regimes wollen, das gleichbedeutend mit dem Verbrechen des Vaterlandsverrats ist, und denen, die für einen demokratischen, freien und gerechten Wandel kämpfen. Der zapatistische Krieg ist nur ein Teil dieses großen Krieges zwischen der Memoria, die auf eine Zukunft hoffen kann, und einem vom Ausland angestifteten Vergessen" (García de León 1998: 81f). Die Rhetorik greift hier zwar strategisch identitäre Narrationen des Nationalen aus dem tradierten national-revolutionären Spektrum der mexikanischen Politik auf, um sie gegen die nationalen Hegemonien zu wenden. Gleichzeitig aber stellen Diskursstrategien wie der Repräsentationsanspruch der nationalen Memoria, die Metaphorik des politischen Körpers der Nation, die Ideologeme des Verrats an der Nation und des bedrohlichen Fremden beileibe keine Dekonstruktion bzw. Überwindung der Semantik des Nationalen dar. Bezeichnend hierbei ist, dass die Vierte Erklärung trotz alledem ihre Funktion in der transnationalen Netzwerkgesellschaft spielen konnte, da im Rahmen einer transnationalen Rezeption der kommunikative Akt der EZLN für linke Befreiungsideologien der 1990er Jahre aus ihrem spezifischen territorialen Kontext herausgelöst wurde und als eine Metapher für die Widerstandskultur an sich wahrgenommen werden konnte.

ImagiNationen im Kontext der transnationalen Kulturindustrien (2)

In seiner Studie Consumers and Citizens beschäftigt sich García Canclini mit der Rückwirkung, die die Transnationalisierung der Kulturindustrien und der Neuen Medien auf die identitären Narrationen des Nationalen zeitigen: "[...] nationale und lokale Identitäten werden in dem Maße weiter bestehen, dass wir sie in multikontextuellen Kommunikationsprozessen verorten. Wird sie auf diese Weise dynamisiert, ist Identität nicht einfach als eine ritualisierte Erzählung zu verstehen, als eine monotone Wiederholung, wie sie von bestimmten Fundamentalismen propagiert wird. Als eine Erzählung, die wir kontinuierlich erneuern, die wir in Zusammenarbeit mit anderen rekonstruieren, sollte Identität als eine Koproduktion verstanden werden" (García Canclini 2001: 95). Seine Argumentation verdeutlicht er am Beispiel der internationalen Erfolge des lateinamerikanischen Kinos wie Como agua para chocolate (Regie: A. Arau, 1992). Hier wird im Rahmen der transnationalen Marktlogik der global ausgerichteten Medienindustrien ein Kulturprodukt mit einem deutlich erkennbaren nationalen Referenzrahmen über den Vertrieb und das entsprechende Marketing "defolklorisiert" und somit auf eine internationale Vermarktung zugeschnitten: "Solche Filme zeigen, dass die Identität und die Geschichte - eingeschlossen lokale und nationale Identitäten - noch immer zu den Kulturindustrien und ihren Forderungen nach hohen finanziellen Renditen passen" (García Canclini 2001: 93). Auf diese Weise werden nationale Diskurse und die kulturellen Praktiken der Globalisierung kompatibel, indem die "Deterritorialisierung" der Kulturproduktion im Zeichen der Globalisierung auf einen Effekt der "Reterritorialisierung" setzt, um so eine Diversifizierung der Produktpalette zu erreichen. Die Problematik der Verortung von Diskursen des Nationalen im Umfeld einer transnationalen Vermarktung, die García Canclini hier anspricht, gilt um so mehr noch in Bezug auf die Filmindustrie Hollywoods, die einen Großteil des massiven Investitionsaufwands inzwischen auf internationalen Märkten - insbesondere in Europa und Lateinamerika - einspielen muss. Wie García Canclini (2001: 163f) zeigt, gibt es eine Reihe von Praktiken des interkulturellen streamlining, wie etwa über eine Abbildung der diversifizierten Absatzmärkte und über das Casting. So werden auf der Grundlage von Konsumgewohnheiten, die global in bestimmten sozialen Segmenten übereinstimmen, hybride und homologe Inhalte für die Nachfrage der internationalen Märkte produziert. Gleichwohl ist ein nennenswerter Teil der US-amerikanischen Film- und Fernsehproduktion - verstärkt in der heutigen Zeit - durch einen überzogenen Kulturnationalismus charakterisiert, der den obengenannten Praktiken des interkulturellen streamlining und damit einer transnational ausgerichteten Marktlogik konträr entgegenzustehen scheint. Solche Filme kennzeichnet eine dichotomische Weltsicht, eine minimalistische Ethik der Vergeltung und eine kognitive Kartographie, die die Welt in "die" Nation und ihre Anderen einteilt, was insgesamt mit offenkundig expansionistischen und neo-imperialistischen politischen Diskursen in den USA korreliert (Kaplan & Pease 1993). Die Tatsache, dass Filme wie U 571 (Regie: J. Mostow, 2000), Pearl Harbour (Regie: M. Bay, 2001), Black Hawk Down (Regie: R. Scott, 2001) und Windtalkers (Regie: J. Woo, 2004), um nur einen Teil der in den letzten Jahren vom Pentagon mitfinanzierten Hollywood-Filme zu nennen (Robb 2004), trotz allem einen internationalen Markt finden, lässt sich kaum mit einer vermeintlichen Diversifizierung der Produktpalette der ausländischen Kinovertriebe erklären. Ebenso wenig scheint überzeugend, den Vertrieb solcher Filme allein mit den monopolistischen Vertriebsstrukturen im kommerziellen Kinobetrieb zu erklären, die es ermöglichen, einem Rezipientenkreis in den Peripherien Hollywoods - i.e. in Europa und Lateinamerika - Diskurse des US-Nationalismus wider Willen aufzuzwingen. Eine Rezeption von solchen Filmen im Ausland spricht eher dafür, dass der amerikanische Nationalismus und seine Monomythen (Campbell 2004) inzwischen einen transnationalen kulturellen Code darstellen. Die US-Filmindustrie kann aufgrund ihrer international marktbeherrschenden Stellung die Interpretationsmatrix derart ausrichten, dass Nation und Nationalismus im Film von internationalen Rezipientengruppen als Projektionsfläche eigener nationaler Identifikationsbedürfnisse wahrgenommen werden. Die nationale Semantik, die für den US-amerikanischen Referenzrahmen konstruiert ist, wird so Teil eines Prozesses transnationaler Bedeutungskonstitution. Dies zeigt wiederum, wie bruchlos sich Nationalität und Transnationalität in den Diskursen der Kulturindustrie überlagern und ergänzen, solange die Habitualisierung von Praktiken der Rezeption auf Seiten des Publikums im Sinne García Canclinis eine Defolklorisierung und entsprechende Reterritorialisierung der Inhalte vollziehen kann.

Rituale der Grenzüberschreitung in den Borderlands

Die Bedingungen kultureller und politischer Fremd- bzw. Selbstrepräsentation in den Amerikas werden in einem transnationalen identitätspolitischen Feld ausgehandelt, in dem identitäre Narrationen als Ressourcen im Sinne der politischen Legitimation und der kulturellen Vermarktung eingesetzt werden. Aufgrund der asymmetrischen Vertriebsstrukturen und ungleichen Zugangsbedingungen bietet dieses identitätspolitische Feld kulturellen Akteuren aus Lateinamerika andere Zugangsbedingungen als jenen aus den USA. Wenn also Diskurse der Nation aus Lateinamerika erfolgreich transnationale Absatzmärkte erschließen und somit in diesem identitätspolitischen Kräftefeld der Amerikas verortet werden sollen, erfordert dies wesentlich komplexere Formen der Akkommodation des Nationendiskurses als zuvor beschrieben. Dies soll im folgenden am Beispiel des Videoclips Frijolero (2003, prod. von Paul Beck und Jason Archer) der mexikanischen Metal-HipHop-Band Molotov gezeigt werden. Lieder wie Voto Latino und Gimme All the Power, die als eine Art Hymnen des Empowerment Kultstatus im Rahmen der linken, globalisierungskritischen Gegenkultur genießen, machten aus Molotov eine der international erfolgreichsten mexikanischen Gruppen, die inzwischen Teil des Star-Systems von Latin MTV ist. Musikalisch steht Molotov in der Tradition der afroamerikanischen HipHop-Kultur aus den urbanen Ghettos, wobei sie mit dem Metal HipHop Vertreter eines provokativ harten Musikstils für eine jugendliche Gegenkultur sind. Wo sie jedoch das gesellschaftskritische Potenzial des Rap für Liedtexte mit einem antihegemonialen Inhalt nutzen, bedient sich Molotov melodischer Crossover zur lateinamerikanischen Volksmusik, um einem größeren Publikum in Mexiko, Lateinamerika und für die Latinos in den USA als Identifikationsfläche zu dienen. So zeichnet sich der Videoclip Frijolero, der den interkulturellen Dialog zwischen mexikanischen Migranten und einem prototypischen Gringo und Offizier der Border-Patrol als Vertreter der Ordnungsmacht in Szene setzt, durch musikalische Referenzen auf die populäre música norteña (3) und die Tigres del Norte (4) aus. Mit der Problematik der Migration und der Diskriminierung der mexikanischen Migranten in den Borderlands (5) an der Grenze zwischen Mexiko und den USA greift Frijolero aus der mexikanischen Perspektive eines der Kernthemen der Nord/Süd-Beziehungen auf, das mit seiner sozialen Sprengkraft auf beiden Seiten der Grenze Imaginarien des interamerikanischen Kulturkonflikts produziert. Die Inszenierung der Grenzüberschreitung im Videoclip schafft hierbei einen Rahmen dafür, die Aushandlung nationaler und transnationaler kollektiver Identitäten im mexikanisch-angloamerikanischen Kulturkonflikt performativ "durchspielen" zu können. Die Tatsache, dass Frijolero sowohl in Lateinamerika als auch in den USA äußerst erfolgreich vermarktet werden konnte und u.a. 2003 sogar einen Grammy für das beste Musikvideo erhielt, deutet hierbei darauf hin, dass durch die Strategie, wie hier identitäre Narrationen des Nationalen in die Imaginarien der transnationalen Integration eingeschrieben werden, verschiedene Bevölkerungsgruppen eine polyvalente Projektionsfläche für kollektive Identitäten geboten bekommen. Lied und Videoclip stellen hierbei eine äußerst komplexe und virtuose Komposition von Elementen der HipHop-Gegenkultur, des US-kritischen, antihegemonialen Diskurses, des mexikanischen Kulturnationalismus sowie der etablierten Erzähllogiken der transnationalen Musikindustrie dar. Dies lässt eine detaillierte Analyse lohnend erscheinen, um nachzuvollziehen, wie die MTV-Kultur die kulturellen Grenzräume besetzt, um mit ihren Politiken der Hybridität die Zukunft von nationalen und transnationalen Identitätskonstruktionen im Kontext der interamerikanischen Integration mitzubestimmen. Auf der inhaltlichen Ebene lässt sich der Videoclip wie folgt zusammenfassen: Als Bandmitglieder zu erkennende Comicfiguren fahren als Anhalter mit einem Pickup-Truck durch die Borderlands und fordern mit ihrer Kritik an der US-Hegemonie einen Offizier der Border-Patrol heraus. Dieser erwidert ihren Rap mit einem rassistischen Refrain und mit Repressionsgehabe. Nach einer Verfolgungsjagd werden die vor ihm flüchtenden Bandmitglieder gefasst und von der Border-Patrol abgefahren. Hier bricht die Erzählung um in eine Abfolge von onirischen Bildern, in denen die Bandmitglieder und eine Reihe von Tänzerinnen auf karnevaleske Weise zelebrieren, dass die hegemonialen Strukturen in den Borderlands außer Kraft gesetzt werden und sich ein Loch im Grenzzaun auftut. Frijolero bringt zwei im Ansatz konträre intertextuelle Referenzrahmen in Einklang: Zum einen das postkoloniale, trans- bzw. postnationale Diskurssystem, das auf eine Dezentrierung der kulturellen Praktiken bzw. auf die Dekonstruktion des Suprematsanspruchs der Kultur der WASPs (White Anglo Saxon Protestants) abzielt. Hierbei werden insbesondere die strategischen Diskurselemente jener an der US-amerikanischen Konzeption von Multikulturalität orientierten politics of location (Bhabha 1994) kreativ verarbeitet. Zum anderen greift der Videoclip auf die Diskurstradition des mexikanischen Kulturnationalismus zurück, der wiederum ein System mit eigenen Formen des Kulturzentralismus und der Vereinnahmung von ethnischen und sozialen Minderheiten darstellt. Die Brücke zwischen den beiden erwähnten Referenzrahmen wird über ein performatives Identitätskonzept geschlagen. Dieses ist eng mit den Grundlagen des HipHop verbunden (Menrath 2001) und hat zugleich im Rahmen der Chicano-Kultur (6) in den letzten zwei Dekaden zunehmend die Essentialismen des Kulturnationalismus abgelöst (vgl. u.a. Cristian 1997). Der offenbare Vorteil von performativen gegenüber den tradierten essentialistischen Identitätskonzepten in diesem Kontext ist, dass sie wandelbar sind und trotzdem gleichzeitig die Kontinuität in der Identitätskonstruktion erklären können. Hierbei spielt die Performativität von Ritualen eine zentrale Rolle: Ritualisierungen legen die Mechanismen der Konstitution kollektiver Identitäten offen und können so auch die Tradierung komplexer (trans-)nationaler Semantiken erklären. Da ihnen bei der Analyse des Videoclips ein Hauptaugenmerk gelten wird, soll im Folgenden ihre Funktion kurz resümiert werden: Das Ritual (vgl. u.a. Braungart 1992) ist eine kulturelle Praktik, deren gesellschaftliche Funktion in der Identitätskonstitution und -affirmation der Gemeinschaft der Beteiligten (der communitas) liegt. Es handelt sich um einen autoreferentiellen Kommunikationsakt, der das Befolgen einer reglementierten und sich wiederholenden Handlungsabfolge beinhaltet. Aufgrund seines Ursprungs im kultischen Bereich zielt das Zelebrieren der Ritualhandlung auf das Durchbrechen der Kontingenz des Alltagslebens. Um das Ritual vom Alltagsleben abgrenzen zu können, ist ein Ritualrahmen notwendig, der als symbolische Grenzlinie Raum und Zeit des rituellen Chronotopos definiert. Die Grenzüberschreitung und Passage - von einem sozialen Status zum nächsten, vom Leben zum Tod - ist stets konstitutiver Teil des Rituals. Hierdurch ergeben sich zwischen dem Thema der Migrationskultur und dem Ritual, das in Frijolero als Strategie der kulturellen Repräsentation gewählt wird, deutliche Übereinstimmungen, insbesondere wenn man den stets aufs Neue praktizierten Zyklus von Grenzüberschreitung, Ausweisung und Rückkehr der Migranten an der mexikanischen-US-amerikanischen Grenze vor Augen hat. Gerade da auf dem Rituellen gründende Erzählformen auf die Herausbildung einer kollektiven Identität zielen können, stellt sich im Zusammenhang des Videoclips die Frage nach den diesem Diskurs zugrunde liegenden Repräsentationsverhältnissen im Sinne Stuart Halls (2001): Wer stellt hier wen dar, und wo ist diese Erzählinstanz, die für die anderen spricht, institutionell verortet? Dient die Erzählform nicht gerade der Verdeckung der Tatsache, dass der Erzähler keinen direkten Zugang hat zur subalternen Lebenswelt der espaldas mojadas (7) und der sie treffenden Alltagspraktiken des Rassismus in den Borderlands? Molotov kann trotz der interkulturellen Zusammenstellung - das Bandmitglied Randy Ebright, der "Gringo Loco" ist Sohn eines in Mexiko stationierten DEA-Agenten - als Produkt der bürgerlichen Gegenkultur des mexikanischen Zentrums bezeichnet werden. Mit der Heterotopie des Grenzraums eignet sich die Band in ihrem Videoclip eine ihr fremde Lebenswelt an, um - ähnlich den testimonialen Erzählformen - Stimmlosen eine Stimme zu verleihen. Da diese Problematik der Repräsentation als "Für-sprechen" wiederum im Kontext der postkolonialen Theoriedebatte, die ja einen der Referenzrahmen von Frijolero bildet, ausführlich diskutiert wird (u.a. Spivak 1994), muss hierfür eine erzähllogische Lösung gefunden werden, die. wie im folgenden gezeigt wird, eng mit den Strategien der Ritualisierung und dem Rückgriff auf Imaginationen des Nationalen zusammenhängt. Die Analyse folgt hierbei der Formgebung der Ritualhandlung, um zunächst den Komplex der rituellen Rahmung, dann die Jagdrituale in den Borderlands als Inszenierung des transnationalen Kulturkonflikts und schließlich die karnevaleske symbolische Wiederaneignung der Borderlands durch die Migrationskultur abzuhandeln.

Rituelle Rahmung des heterotopen Grenzraums

Wie schon erwähnt, bilden die Borderlands in Frijolero einen heterotopen Raum, in dem der Kulturkonflikt zwischen Staatsmacht und "Illegalen", Gringos und Latinos, Hegemonien und ihrer Peripherie als Ritual inszeniert wird. Um Zugang zu diesem Grenzraum zu erhalten, müssen die Protagonisten des Videoclips, i.e. die durch das Rotoskopverfahren zu Zeichentrickfiguren stilisierten Bandmitglieder von Molotov, eine Reihe von Demarkationslinien überschreiten, die ihre Alltagswelt vom rituellen Chronotopos trennen. Der Videoclip beginnt mit einer parodistischen Referenz auf den sich öffnenden Vorhang, der den Blick auf einen weiblichen Körper als Bühne und Handlungsraum freigibt. Auf ihm finden sich die Bandmitglieder als Tatoo. Mit dem Einsetzen der Musik erwachen sie und schicken sich an, das geteilte Bett zu verlassen. Was zunächst nur als misogyne Ausdrucksform der männlich dominierten HipHop-Kultur anmutet, verweist als Handlungsrahmen bei näherer Betrachtung auf eine komplexe Reihe von Bedeutungszusammenhängen. Als Grenze zwischen Subjekt und Umwelt, auf der sich die Spuren der Herrschaft einschreiben, ist die Haut einer der zentralen metaphorischen Bedeutungsträger der Imaginarien der Postkolonialität. Das Tatoo der Groupiefigur als kultischer Funktionsträger stellt hierneben auch einen selbstironischen Verweis auf die quasi-parasitäre Rolle der Künstler im Starsystem der Musikindustrie dar, die auch im späteren Verlauf des Videoclips wiederholt parodiert wird. Der weibliche Körper als Projektionsfläche und Bühne eröffnet den zum Leben erwachten Bandmitgliedern nun die Möglichkeit, die subalterne Erfahrungswelt der illegalen Migration performativ zu erschließen und dabei eine Grenzüberschreitung von der Comic-Kunstwelt in den mit sozialer Realität konnotierten Grenzraum zu vollziehen. Das Rotoskopverfahren, auf dem die ästhetische Gestaltung des Videoclips basiert, schafft hierbei einen ästhetischen Zwischenraum zwischen einem realistischen und einem onirischen Darstellungsmodus. Der sich stets verändernde bildliche Abstraktionsgrad der Figuren und des Settings ermöglicht dabei ein Oszillieren zwischen tatsächlichem Durchspielen der Grenzüberschreitung und der Offenlegung einer "Als-Ob"-Handlung. Damit die Figuren der Bandmitglieder als Protagonisten tatsächlich Zugang zu der subalternen Erfahrungswelt der mexikanischen Wetbacks bekommen, muss eine weitere Schwelle zum Grenzraum überschritten werden. Diese wird mit Hilfe einer Kamerafahrt auf die Pupille eines der Bandmitglieder dargestellt, deren Kehrseite das Auge eines norteño ist, der mit seinem Pickup-Truck den Grenzraum durchfährt und Arbeitskräfte rekrutiert. Mit diesem identifizierenden Verschmelzen der Blicke des Eigenen und des Anderen zu einem einheitlichen Wahrnehmungssubjekt wird das Motiv eingeführt, das von der Erzähllogik her den Repräsentationsanspruch legitimiert, auf dem die von dem Videoclip konstruierte Narration der Nation gründet. Das zweite Erzählelement, auf das die Erzählung zurückgreift, um die Repräsentationsproblematik in den Griff zu bekommen, ist die nationale Semantik. In deren Rahmen wird die Identifikation des Erzählers mit den Objekten seiner Erzählung durch die Referenz auf die Homogenität der mexikanischen Nationalidentität gelöst. Dies zeigt sich an der bildlichen Figurengestaltung. Der allegorische Charakter dieser zunächst nur umrisshaft dargestellten anonymen Figuren wird durch die Farbgebung in den Nationalfarben und den sie als Kollektiv verbindenden schwarzen Schattenwurf herausgestellt. Es ist also Mexiko, das sich - als Teil seines eigentümlichen "Manifest Destiny" - auf den Weg zu den illegalen Arbeitsplätzen in den Norden begibt. Mit dem Einsetzen des ersten Sprechgesangs gewinnen die Figuren an individuellen Zügen und werden schließlich als Bandmitglieder erkenntlich, wobei die Durchsichtigkeit der Figuren sie zugleich als transparente Bedeutungsträger bzw. Medien der sowohl fremden als auch eigenen Lebenswelt andeutet. Der Rapper, in der HipHop-Kultur als MC (Master of Ceremony) bezeichnet, führt in die kulturelle und territoriale Konfliktsituation ein. Auf Spanisch mit einem überzogenen Gringo-Akzent hinterfragt er die Stereotypisierung der Mexikaner durch die "imperial eyes" (Pratt 1992) - durch den angloamerikanischen Norden und die Trägerfiguren der hegemonialen Machtdiskurse. "Yo ya estoy hasta la madre de que me pongan sombrero, escucha entonces cuando digo no me llames frijolero!" (8) Der Text transzendiert jedoch die Lebenswelt der marginalisierten Bewohner der Borderlands. Dollar-Bomben, Erdölfässer sowie Scherzpistolen mit US-Fahnen regnen auf den Grenzraum nieder und veranschaulichen über eine emblematische und allegorische Darstellungsebene die im Sprechgesang postulierten politischen Zusammenhänge zwischen der Rückzahlung der Auslandsschulden, den Erdöllieferungen und dem Irakkrieg. "Te pagamos con petroleo e intereses nuestra deuda, mientras tanto no sabemos quién se queda con la feria." (9) Auf die im Text unbeantwortete Frage, wer die Profiteure von diesen Geldflüssen sind, tauchen in einem Blumenregen idyllisch verklärt der mexikanische Präsident Vicente Fox in einer ikonographischen Parodie der Messiasfigur sowie - in Unterwäsche und somit mit homoerotischen Konnotationen - George W. Bush und der gehörnte Dick Cheney auf. Die karnevaleske Körperinszenierung der Mächtigen und die Form des politischen Diskurses verweist dabei ästhetisch auf die Agitprop-Tradition des Teatro Campesino der Chicano-Wanderarbeiter-Gewerkschaft in den 1960er und 1970er Jahren (Valdez 1990). Mit der anthropomorphen Landschaftsdarstellung greift der Videoclip auf das Klischee der Allegorisierung des fremden Raums durch den sich darbietenden weiblichen Körper zurück, der hier allerdings in seinem Ausdruck polyvalent bleibt. Im Kontext des kolonialen Diskurses verankert, verkörpert die weiblich konnotierte Territorialität den zivilisatorischen Anspruch des Kolonialherren auf das Gefügig-Machen der für die Gnaden der Zivilisation empfänglichen Barbarei. Verbunden sind diese sexuellen Herrschaftsphantasien mit der Grenzüberschreitung, die das koloniale Subjekt von "Zivilisation" zur "Barbarei" vollzieht. Insofern liefert die sexuelle Allegorisierung der Wildnis jenseits der US-Grenze im Süden der WASP-Kultur eine der Grundlagen für den in Frijolero angeklagten Diskurs rassistischer Diskriminierung. Zugleich aber bewegen sich die mexikanischen Figuren im Pickup selbst auf die verheißungsvollen anthropomorphen Hügel am Horizont zu, wodurch diese räumliche Allegorie auch auf die Fremdwahrnehmung der USA durch die mexikanischen Grenzüberschreiter verweist. Die Richtungsverkehrung des kolonialen Blicks - Verkehrung von Heimat und Wildnis, Verkehrung von Reisendem und Bereistem (Pratt 1992) - lässt sich so als eine strategische postkoloniale Positionierung gegenüber dem Hegemonie-Diskurs der USA werten, die sich allerdings als homolog zu den misogynen kulturellen Praktiken der HipHop-Kultur und dem mexikanischen Machismo erweist.

Jagdrituale in den Borderlands

Der Kulturkonflikt wird entfesselt, als der Pickup mit den Migranten auf einen Offizier der Border-Patrol trifft. Dieser reagiert aggressiv auf den Text des ersten Raps, mit dem die die Lebenswelt der illegalen Migration kennzeichnende alltägliche Unterwerfungshaltung durchbrochen wird: "Don't call me gringo you fucking beaner! Stay on your side of that goddam' river! Don't call me gringo, you beaner!" (10) Der Refrain beginnt auf Englisch mit dem Sprechtext des Grenzpolizisten "Don't call me Gringo, you fucking beaner!" als Reaktion der Staatsgewalt auf die "Grenzüberschreitung" - die Verletzung der zeremoniellen Sphäre der Macht -, die mit der sprachlichen Sanktion "fucking beaner" geahndet und mit der Absteckung der territorialen Ansprüche "stay on your side of that goddamn' river" verbunden wird. Hierzu baut sich der Offizier neben dem Attribut seiner Macht, dem Patrouillenwagen, zu einer von der Kameraperspektive überhöhten Drohkulisse auf. Diese sprachliche und gestische Körperinszenierung der Staatsgewalt wird durch die Bandmitglieder gekontert und unterlaufen. Auf unterdimensionierten Flucht-Fahrrädern, die in selbstironischer Überzeichnung als Symbole kindlicher Unschuld mit den Attributen der Staatsmacht kontrastiert werden, fordern sie den Offizier mit ihrer Replik "No me digas frijolero, pinche gringo puñetero" (11) und einem genüsslich zelebrierten phallischen Gestus heraus. Mit diesem für die HipHop-Kultur typischen Beschimpfungsritual - das Signifying - wird die Sexualisierung des "Grenzkonflikts" zwischen den "fucking beaners" und dem "Mister Puñetero" wieder aufgenommen, die zuvor in der weiblichen Anthropomorphisierung des Territoriums angelegt worden ist. In diesem Zusammenhang wird die stereotype identitäre Fremdzuweisung durch die WASP-Kultur, die von einer gesteigerten sexuellen Reproduktivität der mexikanisch-amerikanischen Bevölkerungsgruppe ausgeht, in Frijolero ins Positive verkehrt, um so die territorialen Herrschaftsansprüche der Hegemonialmacht zu konterkarieren. Die Szene kulminiert in einer weiteren Grenzüberschreitung, als die Figur des "Gringo Loco" sich in Form eines Code-Switching der Sprache der Ordnungsmacht bemächtigt, um sie gegen die rassistische Diskriminierung der mexikanischen Migranten in den USA zu wenden. Hier zeigt sich das postkoloniale Caliban-Motiv (Retamar 1979) des Sklaven, der die Sprache seines Herrn lernt, um ihn verfluchen zu können. Thematisch greift dieser Rap die an die Auseinandersetzung um die an das Territorium gebundenen Rituale der sozialen Marginalisierung und Diskriminierung an. "I'd be rich if I got a dime for every time I've been stared down at in the wrong part of town." (12) Dies geschieht, wie der Diskurs verdeutlicht, von einer Position aus dem Inneren des "wrong part of town", des Territoriums der Rassisten, in deren Sprache und in direktem Dialog an diese gerichtet. Ein weiterer phallischer Gestus in Richtung des Offiziers markiert den Übergang zu einem ritualisierten Handlungsverlauf, der über das Jagdmotiv die Figuren in ihren Täter- und Opferrollen stilisiert. Die skurrile Verfolgung über die gesamte Bildfläche der Kameratotale als Filmzitat der frühen Slapstickkomödien und die Emblematik der Bildelemente [u.a. die im Chevrolet vorbeifahrenden Calavera (13)] durchbrechen den zuvor annähernd realistischen Erzählmodus und verweisen auf den typisierten Verlauf der Handlung. Dies wird bei der Verhaftung und dem Abtransport der Bandmitglieder auch dadurch hervorgehoben, dass die Farbdarstellung in den Nationalfarben sie wieder entindividualisiert und allegorisiert. Durch das überdimensionierte Emblem "Caution" (als Hinweis auf spielende Kinder), vor dem die Gefangennahme der flüchtenden Bandmitglieder in Szene gesetzt wird, wird diese allegorische Figurendarstellung noch überhöht. Die Unausweichlichkeit der Gefangennahme rückt den Akt der Rebellion in die Nähe eines Selbstopferungsrituals, womit dem Handlungsverlauf eine tragische Transzendenz verliehen wird. Diese tragische Transzendenz des Latino im Kontext der Jagdrituale in den Borderlands ist ein literarischer Topos in der Repräsentation der Widerstandskultur der mexikanischen Migranten seit dem Kapitel von Octavio Paz über "El Pachuco y otros extremos" aus dessen volkspsychologischem Traktat Das Labyrinth der Einsamkeit (1950/1982). Im Zusammenhang mit der Gegenkultur der Pachucos, die in den 1940er Jahren eine Vorform der gegenwärtigen Jugendkulturen der Latinos in den USA darstellen und einer starken staatlichen Repression ausgesetzt waren, beschreibt Paz die Praktiken der selbstbeigebrachten Viktimisierung wie folgt: "Der Pachuco kehrt sich nach außen, doch nicht, um mit seiner Umgebung zu verschmelzen, sondern um sie herauszufordern. Eine selbstmörderische Geste, denn er fordert nichts und behauptet nichts als seinen verzweifelten Willen, 'nicht zu sein.' Es ist aber nicht sein Innerstes, das er nach außen kehrt, sondern eine offene Wunde, eine Verletzung, die er zur Schau stellt. Die Wunde ist ein barbarischer, laune-geborener, grotesker Schmuck; sie spottet ihrer selbst, 'putzt sich zur Jagd auf'. So ist der Pachuco die Beute, die sich schmückt, um die Aufmerksamkeit der Jäger auf sich zu lenken. Die Hetzjagd wird ihn erlösen; sie wird seine Einsamkeit sprengen. Denn sein Seelenheil hängt vom Zugang zur Gesellschaft ab, die er scheinbar ablehnt" (Paz 1982: 27). Frijolero nimmt diesen Topos der Viktimisierung auf und macht ihn zur Grundlage seiner identitären Narration der Mexikanität in den Borderlands. Dies wird insbesondere dadurch unterstrichen, dass die Szene mit einem Verweis auf die kriegerische Aneignung der Borderlands durch die USA im mexikanisch-US-amerikanischen Krieg (1846-48) schließt, in dem Mexiko rund die Hälfte seines Territoriums eingebüßt hat. Im Sinne des Kulturnationalismus wird hier geschichtlich die Legitimität des territorialen Anspruchs der USA in Frage gestellt: "If not for Santa Anna, just to let you know that where your feet are planted would be Mexico." (14) Diese Referenz auf der Textebene findet ihre visuelle Entsprechung dadurch, dass beim Abtransport der vermeintlich illegalen Migranten durch die Border-Patrol eines der Bandmitglieder als General Santa Anna kostümiert wird - jener mexikanische Oberbefehlshaber des Heeres, der im texanischen Unabhängigkeitskrieg gefangen genommen wurde und sich mit dem Verkauf eines Teils des nationalen Territoriums freikaufen konnte. Das "Selbstopfer" der Mexikaner im Jagdritual in den Borderlands wird somit historisch dimensioniert. Hierbei bestätigen die Plotstrukturen des Jagdrituals, vollzogen von der Herausforderung des Jägers bis zur Erlegung der Beute, letztendlich zwar die real existierenden hegemonialen Machtstrukturen an der Grenze zwischen Nord und Süd, US-Staatsmacht und Migranten, gleichzeitig wird jedoch deren historische Legitimität diskursiv unterminiert.

Karnevaleske Dekonstruktion der Machtstrukturen in den Borderlands

Die Handlung schließt mit einer Dekonstruktion der hegemonialen Positionen in den Borderlands. Hierzu trägt eine assoziative Sequenz von Bildern bei, die den Ordnungsstrukturen des Nordens und den impliziten Suprematsanspruch der WASP-Kultur in der karnevalesken Gegenkultur der Borderlands aufhebt. Im Grenzraum tauchen vor der Windschutzscheibe des Gefangenentransporters - aus dem Nichts und perspektivisch freischwebend - eine Gruppe von de-individualisierten CanCan-Tänzerinnen auf. Diese Einstellungen markieren den Übergang von der eher realistischen oder typisierten Darstellung der Erzählhandlung zu jenen eher onirischen Bildfolgen und Bedeutungskonstitutionen, die schon im einleitenden Teil der rituellen Handlungsrahmung zu finden sind. Zum Refrain "¡No me digas beaner, Mr. Puñetero!" (15) singen die Bandmitglieder vom Etikett einer Bohnendose mit dem Markennamen "Molotov Refried", die sich im Einkaufsregal eines Supermarkts ins Unendliche reproduziert. Die Konnotationen sind vielfältig: Zum einen wird die identitäre Fremdzuweisung des Bohnenfressers ironisch angenommen und strategisch gegen den kulturellen Mainstream der USA und dessen rassistische Diskurse gesetzt. Zudem wird noch einmal die identitäre Fremdzuweisung der sexuellen Reproduktion aus der Dialogsequenz mit dem Offizier aufgenommen, hier allerdings selbstironisch unterlaufen. Hierbei bedient sich das Musikvideo der Ikonographie der US-Popart, den "Campbell's Black Bean Soup"-Dosen von Andy Warhol. Auf die metatextuelle Ebene bezogen, werden in diesem Bild die Stimmen des antihegemonialen Diskurses redupliziert, vermarktet und nebenbei Popart eine politische Dimension verliehen. Zugleich wirft dieser selbstironische Verweis auf die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks im Zeitalter der Kulturindustrie auch die Frage nach dem künstlerischen Subjektbegriff auf. Ein mit Gasmaske und einem Helm versehener Konsument, dessen überdimensionierte Schutzkleidung auf die völkischen Reinheitsphantasien in der US-Kultur verweist, verfällt angesichts der dargebotenen Warenfülle in den Konsumzwang und stellt die Dose mit den "refried-beaners" in seinen Einkaufswagen. Referenzrahmen ist hierbei die Bigotterie der US-Bevölkerung in der Kontaktzone, die auf die illegalen Arbeitskräfte aus dem Süden setzt und gleichzeitig um ethnische Abgrenzung bemüht ist. Durch eine Verkantung des Bilds um 90 Grad wird die Gitterstruktur des Einkaufswagens zum Maschendrahtzaun. Die Präsenz des lonesome cowboy der US-Border-Patrol, der vor einer rasch versinkenden kondomförmigen Sonne an diesem Zaun vorbeireitet und dessen Autorität von einem Bandmitglied mit einem Luftgitarrensolo und dem Hahnenkammgestus untergraben wird, lässt den Zaun als Grenze erkenntlich werden. In ihr öffnet sich ein großes Fluchtloch, hinter dem abschließend die Bandmitglieder und CanCan-Tänzerinnen, nun zu einer tanzenden communitas geeint, die vollzogene Grenzüberschreitung und die Untergrabung der hegemonialen Machtstrukturen der US-Gesellschaft zelebrieren.

Ambivalenz identitärer Diskurse des (Trans-)Nationalen in der Kulturindustrie

Bevor der Vorhang für diese Darstellung "fällt" und das Ritual der Grenzüberschreitung abschließt, zeigt das Video, wie die Bandmitglieder in raschem Wechsel noch einmal alle Rollen annehmen, auf denen der Handlungskonflikt aufgebaut war, und sich am Ende noch einmal zur Pose des Rebellentums aufbauen. Die Beamten der Border-Patrol, Cheney, der enigmatische Blaumann - alle Figuren entpuppen sich hierbei als Verkleidungen, als gespielte Identitäten, hinter denen sich die Figuren der Bandmitglieder verbergen. Dies stellt einen Rückgriff auf die metanarrative Ebene dar, also jener Ebene, wo der identitäre Diskurs sich in der selbstironischen Relativierung bricht. Hiermit wird mit dem Videoclip auf der Ebene der filmischen Erzählung die Frage aufgeworfen, wie die vermittelten nationalen und transnationalen Identitätsdiskurse zu rezipieren sind. Hierbei lässt sich die Demaskierung zunächst einmal im Kontext der Aufhebung der rituellen Rahmung deuten, die die Mitglieder der Band wieder aus ihren in der Ritualhandlung eingenommenen Rollen schlüpfen lässt, um sich in das Alltagsleben zu integrieren. Durch diese erzähllogische Problematisierung wird die Aneignung der fremden Stimme, die während des Handlungsverlaufs durch die Selbstironisierung (Infantilisierung, Flucht-Fahrräder, etc.) in ihrem performativen Charakter ständig unterschwellig im Bewusstsein gehalten wird, noch einmal in ihrer Glaubhaftigkeit unterstrichen. In diesem Zusammenhang erweist sich die Ritualisierung im Rahmen der Identitätskonstitution als überaus polyvalenter identitärer Diskurs: Im Ritual steht die Performativität der Ritualhandlung und damit das Wissen um den "Als-Ob"-Charakter der vollzogenen Grenzüberschreitungen durch die Master of Ceremony des HipHop nicht im Widerspruch zum "Funktionieren" des Rituals in Hinblick auf die tatsächliche und bleibende Herausbildung der identitären Ritualgemeinschaft. Die Diskurselemente aus dem Kontext der nationalen Semantik, über die die Entindividualisierung der Figuren als Prototypen der Mexikanität vorgenommen wird und die für den mexikanischen Kontext die Möglichkeit einer bruchlosen Identifikation mit dem Volksganzen implizieren, werden in diesem Sinne nicht gemeinsam mit der rituellen Rahmung aufgehoben. Hierbei muss man davon ausgehen, dass über die nationale Semantik nicht nur eine Identifikation der Erzählinstanz mit den subalternen Peripherien stattfindet. Zugleich wird auch die Opferrolle der subalternen Positionen im transnationalen Kulturkonflikt zurückübertragen auf die Nation selbst, womit der antihegemoniale Diskurs auf der geopolitischen Ebene semiotisch unterfüttert wird. In letzter Konsequenz heißt dies, dass Frijolero trotz der performativen Identitätskonzepte, des postkolonialen Referenzrahmens, der postmodernen metanarrativen Brechung und Selbstironie, die den Videoclip im Kontext der US-amerikanischen multikulturellen politics of location ästhetisch innovativ und politisch korrekt erscheinen lassen, in einem mexikanischen Rezeptionskontext als affirmative Parabel eines antikolonialen Kulturnationalismus gesehen werden kann. Die politics of hybridity, die sich aus der transnationalen Vermarktung von Popkultur durch die Musikindustrie ergeben, beinhalten also, wie Frijolero zeigt, nicht die Aufhebung nationaler Semantiken, sondern deren Akkommodation an die Anforderung, auf transnational diversifizierte Rezeptionsgruppen zugeschnittene polyvalente Identifikationsangebote vorzuhalten. In diesem Rahmen stellen die Narrationen des Nationalen weniger eine Friktion im Kontext der kulturellen Transnationalisierungsprozesse in den Amerikas dar, denn eine ökonomische Ressource für die transnational operierende Kulturindustrie. Vorabdruck der englischen Version des Textes aus dem Tagungsband: Thies, Sebastian; Raab, Josef (Hg.): E Pluribus Unum? National and Transnational Identities in the Americas/Identidades Nacionales y Transnacionales en las Américas. Münster u.a.: Lit-Verlag, Frühjahr 2007.

Anmerkungen

(1) Vor diesem Hintergrund ist auch die von der Regierung Chávez' angestoßene Gründung des Fernsehsenders Telesur als integrationistischer lateinamerikanischer Gegenentwurf zu CNN zu sehen (Pignotti 2005). (2) Der Begriff der Kulturindustrie wird hier im Anschluss an die lateinamerikanischen Estudios Culturales verwendet. Insbesondere Néstor García Canclini löst sich hier von der rigiden kulturkritischen Position der Frankfurter Schule zur Kulturindustrie durch die Herausstellung der Grenzüberschreitungen zwischen Massen- und Populärkultur, womit ein Blick sowohl auf die hegemonialen Diskursstrukturen wie auch auf die subversiven Potenziale innerhalb der Kulturindustrien gelenkt werden kann. (3) Musikstil texanischen Ursprungs, der aus der Mischung mexikanischer Volksmusik und europäischen Salon-Tänzen (Polka, Walzer) hervorgegangen ist. (4) Mit mehr als 30 Jahren Bühnenpräsenz eine der populärsten Musikgruppen der Borderlands, deren Bedeutung gerade auch von kritischen Texten zur Politik und zur Diskriminierung der mexikanisch-stämmigen Bevölkerung der USA herrührt. (5) Der mit Borderlands bezeichnete Grenzraum zwischen den USA und Mexiko hat neben einer sehr fruchtbaren Kulturproduktion eine rege Diskussion innerhalb der postnationalen American Studies (u.a. Kaplan und Pease 1993, Saldívar 1997, Gómez Peña 1996), den Estudios culturales auf mexikanischer Seite (u.a. García Canclini 2003) sowie auch allgemein der Transnationalitätsforschung hervorgebracht (u.a. Hess 2005). (6) Kultur jenes Teils der mexikanisch-amerikanischen Bevölkerungsgruppe, der seine Ethnizität identitätspolitisch einsetzt. (7) Engl. Wetbacks (nasse Rücken). Ausdruck für die "illegalen" Einwanderer, die den Grenzfluss Rio Grande durchqueren. (8) "Ich hab es satt, dass man mir einen Sombrero aufsetzt. Hör zu, wenn ich Dir sage: Nenn mich nicht 'Bohnenfresser!" (Ü. d.V.). (9) "Wir bezahlen unsere Schulden mit Öl und Zinsen, aber wir wissen nicht, wer davon profitiert." (Ü. d.V.). (10) "Nenn mich nicht Gringo, verfickter Bohnenfresser! Bleib auf deiner Seite dieses gottverdammten Flusses! Nenn mich nicht Gringo, du Bohnenfresser!" (Ü. d.V.). (11) "Nenn mich nicht Bohnenfresser, blöder Gringo-Wichser!" (Ü. d.V.). (12) "Ich wär' reich, wenn ich einen Groschen bekäme für jedes Mal, dass man mich im falschen Teil der Stadt von oben herab anstarrt." (Ü. d.V.). (13) Karnevaleske Karikaturen von Skeletten in Verkleidungen aus der mexikanischen Volkskultur. (14) "Wenn Santa Anna nicht gewesen wäre - nur damit ihr es wisst -, dann wäre der Grund, auf dem eure Füße stehen, Mexiko." (Ü. d.V.). (15) "Nenn mich nicht Bohnenfresser, Mister Wichser!" (Ü. d.V.).

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Aus: PERIPHERIE Nr. 103: "Kultur und Macht", 26. Jg. 2006, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 456-477

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