Hamburger SPD in der offenen Krise

Die Mitgliederbefragung der Hamburger SPD zur Spitzenkandidatur für die Bürgerschaftswahl 2008 ist gescheitert.

"Wir haben die Wahl abgebrochen, weil Briefwahlstimmen fehlten, und für uns nicht erklärbar war, warum", sagte SPD-Chef Mathias Petersen. Insgesamt sind nach SPD-Angaben 1.459 Briefwahlstimmen abgegeben worden. In der Urne befanden sich aber nur rund 500 Wahlzettel. Ungefähr 1.000 Briefwahlstimmen waren nicht auffindbar.

Die rund 11.500 Sozialdemokraten in der Hansestadt haben am Sonntag, den 25. Februar, darüber abgestimmt, ob der Landesvorsitzende Petersen oder seine Stellvertreterin Dorothee Stapelfeldt gegen Hamburgs CDU-Bürgermeister Ole von Beust (CDU) antreten soll. Es hat eine hohe Wahlbeteiligung gegeben, worauf auch die beträchtliche Anzahl von Briefwahlstimmen hindeutet. Ob die verschwundenen Briefwahlstimmen ein mögliches Endergebnis entscheidend beeinflusst hätten, ist völlig unklar.

Die beiden KandidatInnen fürs Bürgermeisteramt haben ihre politisch-programmatischen Vorstellungen in gut besuchten Wahlkampfveranstaltungen in den Stadtbezirken präsentiert. Nach übereinstimmenden Einschätzungen hat Petersen bei diesen Versammlungen eine deutlich größere Resonanz gefunden, so dass ein für ihn positives Abstimmungsergebnis keine Überraschung gewesen wäre.

Personalpolitisch zerrissen und konzeptionslos

Schon die Ansetzung der Mitgliederbefragung über einen Spitzenkandidaten für die Bürgerschaftswahl im Februar 2008 war ein eindeutiges Symptom der Krise der Partei. Der Grundkonflikt in der Hamburger SPD besteht in ihrer politischen Zerrissenheit. Nach heftigen personellen und konzeptionellen Auseinandersetzungen im Vorstand wurde dem Landesvorsitzenden mit 13 gegen 10 Stimmen ein deutlicher Vertrauensverlust bescheinigt. Petersen hatte in einer Reihe von personalpolitischen Entscheidungen andere Funktionsträger herausgefordert und mit unabgesprochenen Initiativen breiten innerparteilichen Widerstand hervorgerufen. Sein Vorschlag etwa, verurteilte Sexualstraftäter im Internet anzuprangern, führte bei einem Teil der regionalen Mandatsträger wegen des rechtspopulistischen Tons zu hellem Entsetzen. Der Landeschef war innerparteilich immer gut für einen konfrontativen oder mindestens eigensinnigen Führungsstil und eigenwillige inhaltliche Initiativen. Dass es Petersen in den letzten zwei Jahren auf diese Weise nicht gelungen ist, die Partei aus ihrem politischen Tief herauszuführen, ist unbestreitbar.

Mit der gescheiterten Mitgliederbefragung hat sich die Krise der Hamburger SPD erheblich verschärft. Zunächst wurde der für die formelle Nominierung geplante außerordentliche Landesparteitag abgesagt und eine neue Mitgliederbefragung erwogen. Selbst wenn sich der Verlust der verschwundenen Briefwahlstimmen unspektakulär aufklären sollte, dürfte der politische Schaden für die SPD bis zum Wahltermin nicht beseitigt werden können. Die CDU verhöhnt die stärkste Oppositionspartei wegen ihres politischen Dilettantismus.

Petersen hat sich in der Mitgliederbefragung erneut als "Mann der Basis" präsentiert. Er gehört nicht zum etablierten Führungspersonal in der Partei und in der Hamburger Bürgerschaft. Seine Kampagne zielte teilweise auf eine Wiederaneignung der Partei durch ihre einfachen Mitglieder. Schon zweimal hat der Seiteneinsteiger eine Front gegen die Funktionärs- und Mandatsträger angeführt. 2003 erreichte er im Rennen um die Spitzenkandidatur gegen den früheren Wirtschaftssenator Thomas Mirow einen Achtungserfolg. Im Frühjahr 2004 siegte er in einer Mitgliederbefragung über Knut Fleckenstein, als es um den Parteivorsitz ging.

Dorothee Stapelfeldt ist nicht chancenlos in der innerparteiliche Auseinandersetzung, weil sie mit einer gemäßigt linken Reformkonzeption sowohl beim linken als auch beim rechten Parteiflügel akzeptiert wird. Sie ist seit mehr als 25 Jahren in der Hamburger SPD aktiv, gut vernetzt und betont ihre Fähigkeit zur integralen politischen Arbeit.

Ein Problem liegt in den Führungsfähigkeiten des Landesvorsitzenden Petersen. Die Hamburger SPD ist durch eine typische Stadtkultur geprägt; zugleich haben die Parteiflügel seit Jahren ihre Terrains und Einflusszonen abgesteckt. Bundesweit vertritt der Hamburger SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs den rechten "Seeheimer Kreis" und ist wegen seiner Nähe zur Militärindustrie und einem entsprechenden Spendenaufkommen bestens beleumundet. Nils Annen, gleichfalls Hamburger Bundestagsabgeordneter, agiert auf dem linken Flügel als Frontmann. Logischerweise ist in einem solchen Klima großer personeller und konzeptioneller Gegensätze die parteiintegrale Führungsarbeit nicht einfach.

Hamburg war in den letzten Jahrzehnten eine Hochburg der Sozialdemokratie. Seit 1990 hat die Landespartei fast 50% ihrer Mitglieder verloren und liegt damit bei den Mitgliederverlusten noch deutlich über den negativen Trends der Bundespartei. Anfang der 1990er Jahre erreichte die Hamburger SPD bei den Bundestagswahlen noch knapp 44% und bei den Bürgerschaftswahlen 48% der abgegebenen Stimmen. 2005 konnte sie bei den Bundestagswahlen mit knapp 39% noch ein relativ gutes Ergebnis erzielen, während ihr Anteil bei den Bürgerschaftswahlen 2004 nur mehr bei gut 30% lag. In den letzten Meinungsfragen wird die Partei mit Blick auf die Bürgerschaftswahlen 2008 bei 32% gehandelt. Damit liegt der Hamburger Landesverband zwar leicht über den entsprechenden Werten auf Bundesebene - von einer Mehrheitsfähigkeit ist die Sozialdemokratie damit allerdings auch in dieser Stadt weit entfernt. Nicht zuletzt wegen ihrer personalpolitischen Grabenkämpfe und ihrer politischen Konzeptionslosigkeit bringt es die SPD in ihrer einstigen Hochburg Hamburg nur noch auf rund ein Drittel der Wählerstimmen.

"Linksblinken" als Ausweg

Strömungsauseinandersetzungen, politische Kosmetik und Postenschacherei führen Hamburg gewiss nicht aus der gesellschaftspolitischen Sackgasse. Durch die Urabstimmung unter den Parteimitgliedern über die Spitzenkandidatur zur Bürgerschaftswahl suchte die SPD einen Ausweg aus dieser Konstellation: Dorothee Stapelfeldt fordert - mit Unterstützung einiger Kreisvorstände - eine Neuorientierung der SPD. In ihren "Zehn Punkten, die Hamburg voranbringen" heißt es:

"Mehrfach hat der amtierende Bürgermeister den Bürgerwillen ignoriert und das Ergebnis von Volksentscheidungen in ihr Gegenteil verkehrt:
- Die Krankenhäuser wurden verkauft, obwohl 2001 fast zwei Drittel der Hamburgerinnen und Hamburger dagegen waren.
- Die vom Volk 2004 beschlossenen Wahlrechtsänderungen hat die CDU mit ihrer Mehrheit wieder zurückgedreht. Wir wehren uns dagegen vor dem Verfassungsgericht.
- Die Hürden für Volksentscheide wurden so weit angehoben, dass es kaum noch eine Chance auf erfolgreiche Volksinitiativen gibt. Das ist Arroganz der Macht - die allen Parteien und der gesamten Politik schadet. Daher unterstütze ich den neuen Volksentscheid der Bürgerinitiative für mehr Demokratie und sammle auf der Straße persönlich Unterschriften dafür. Als Bürgermeisterin werde ich deshalb umsteuern."

Frau Stapelfeldt betont, sie werde die Rechte der BürgerInnen, Gesetze durch Volksentscheide zu beschließen, vollständig wieder herstellen. "Hamburg soll in Sachen Bürgerbeteiligung in Deutschland vorbildlich sein."

Die Botschaft ist eindeutig: Die Politik des Hamburger Senats unter der Führung des Bürgermeister Ole von Beust ist für den sozialen Zusammenhalt und die demokratische Kultur in der Stadt eine veritable Katastrophe. Das entscheidende Problem ist allerdings: Auch der Landesvorsitzende Petersen lehnt die Modernisierungspolitik der CDU, die unter dem Etikett "wachsende Stadt" vermarktet wird, entschieden ab. Die politischen Differenzen unter den potentiellen Spitzenkandidaten sind also keineswegs so überzeugend, dass die Mitglieder über eine klare Alternative entscheiden könnten.

Die CDU ist nach zwei Jahren absoluter Mehrheit von Machtarroganz befallen. Sie will von der offenen Krise der Sozialdemokratie profitieren. Wenn die politische Arena weiterhin von den überlieferten Kräften beherrscht wird, droht eine weitere Verfestigung der sozialen Spaltung.

Die rigorose Spar- und Privatisierungspolitik der CDU ist in einem Großteil der Bevölkerung auf breite Ablehnung gestoßen. Ihr "politischer Erfolg" besteht zum einen in einer boomenden Ökonomie, zum andern aber in wachsender sozialer Ausgrenzung, massiver Beschleunigung von Prozessen der Verarmung und der Vertiefung sozialer Spaltung.

Selbst die Bertelsmann Stiftung kommt in einer Studie an einer kritischen Gesamtbilanz nicht vorbei: Die Hansestadt Hamburg habe zwar viele Weichen für ein solides Wirtschaftswachstum gestellt, Kernindikatoren wie Wachstumsrate, Einkommensentwicklung, Produktivität, die Zahl der Patentanmeldungen und die Erwerbstätigenquote belegen den wirtschaftlichen Aufwärtskurs. Hamburg hat im Jahr 2006 mit 2,9% das beachtliche Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik Deutschland noch übertroffen.

Die Wissenschaftler der Bertelmann-Stiftung sehen aber zugleich die Gefahr, dass in Hamburg nicht alle Bevölkerungsteile an diesem Prozess beteiligt und mitgenommen werden. So sind der Studie zufolge in Hamburg gut 15% aller Kinder von Sozialhilfe abhängig - etwa doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Alarmierend sei zudem die große Zahl von Jugendlichen, die die Schule ohne jeden Abschluss verlässt. Ihr Anteil liegt bei über 11%, deutschlandweit "nur" bei 8,3%. Ein Warnsignal sollte zudem der hohe Anteil ausländischer Jugendlicher sein, die keinen Hauptschulabschluss machen.

Die gescheiterte Konzeption der "wachsenden Stadt", die die CDU mit ihrem Regierungsantritt 2001 zum Leitgedanken ihrer Politik gemacht hat, ist kurzfristig um ein Programm mit dem Namen "lebenswerte Stadt" ergänzt worden. Mit (über vier Jahre verteilten) 90 Millionen Euro will man die Fehlentwicklungen der letzten Jahre vergessen machen. Gleichzeitig hat der von Beust-Senat aber den Mehrheitswillen der Hamburger Bevölkerung, keine Privatisierung der Krankenhäuser durchzuführen, schlicht ignoriert. Zudem wurden die Bedingungen für Bürgerbegehren und Volksbefragungen drastisch verschlechtert. Durch Änderungen des Wahlrechtes hat der Senat die demokratischen Beteiligungsrechte zurückgefahren und die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten in öffentlichen Sektoren beschnitten.

Aus Angst vor einem drohenden Machtverlust propagiert die CDU nun einen "Paradigmenwechsel" und blinkt links: "Keine Bürgerin und kein Bürger soll auf Grund seiner sozialen Lage Chancen für sein Leben verbaut bekommen." Das politische Kalkül wird offen ausgesprochen: Die Regierungspartei besinnt sich darauf, dass es nicht die gut betuchte Klientel in den Elbvororten oder in den Waldörfern war, die ihr 2004 zur Mehrheit verholfen hat, sondern die enttäuschten SPD-StammwählerInnen in den Vierteln der "kleinen Leute".

Neben den personalpolitischen Einflusszonen geht der tiefe Graben, der die Hamburger Sozialdemokraten durchzieht, auf die Unklarheit über eine politische Alternative zur CDU-Politik zurück. Auch der jüngste Beschluss der Hamburger Enquete-Kommission Bildung läuft faktisch auf ein Arrangement mit der CDU-Politik und nicht auf eine kritische Korrektur der bisherigen bildungspolitischen Praxis hinaus. Auf dem Weg zu einer Schule für alle soll es - ganz nach dem Willen der CDU - ein Nebeneinander von Stadtteilschulen und Gymnasien geben.

Die CDU konzentriert ihre Politik schwerpunktmäßig auf herausragende Projekte ("Kathedralen"): Hafencity, Elbphilharmonie, Gartenbauausstellung, Sprung über die Elbe und Innenstadtmodernisierung. Sie sollen auf die Hamburger Ökonomie "ausstrahlen", bedienen faktisch aber nur die kulturellen Interessen der sozial gehobeneren Schichten.

Die Konzentration der öffentlichen Investitionen auf diese Projekte bei gleichzeitigem Kahlschlag in der Sozial- und Bildungspolitik sowie im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, verschärft die Spaltung in der Stadt massiv. Die Mehrheit der Hamburger Bevölkerung kann von der strategischen Konzeption der wachsenden Stadt keine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse erwarten.

Anders als der CDU-Senat möchte die SPD "den Menschen (wieder) in den Mittelpunkt" stellen, ohne dabei die Fehler sozialdemokratischer Umverteilungspolitik der Vergangenheit zu wiederholen. Wie das erfolgen soll, ohne in letztlich oberflächlichen Korrekturen der sozialen Spaltung stecken zu bleiben, haben weder die Partei noch ihre KandidatInnen bisher deutlich machen können.

Chancen für die Neue Linke

Die Neue Linke hat in Hamburg gute Chancen, die politische Konzeption eines entschiedenen Politikwechsel voranzubringen. In Übereinstimmung mit der sich bildenden Bundespartei kann die soziale Verankerung einer neuen Linken gelingen. Dabei muss sie deutlich machen, dass es um eine "Ökonomie des ganzen Hauses" geht. Die ersten Schritte dorthin bedeuten:
- Aussetzung der Förderung für die Großprojekte. Anstelle das viele Geld in Renommierprojekte zu stecken und an Stellen zu sparen, die für die wirtschaftliche Zukunft der Stadt und ihre sozialen Gestaltung entscheidend sind, müssten Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut und öffentlich geförderter Beschäftigung auf den Weg gebracht werden;
- Stopp des Verkaufs oder der Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen;
- Wiederherstellung der demokratischen Beteiligungsrechte der Bevölkerung und der Beschäftigten in öffentlichen Einrichtungen.
- Schließlich geht es um eine klare Schwerpunktsetzung bei den öffentlichen Finanzen: Ausbau einer gebührenfreien Kinderbetreuung, Vorschulerziehung und Verbesserung der Ausbildungs- und Bildungssituation in Hamburg.