Eine Schule für alle - nicht ohne Integration behinderter Kinder!

Pädagogische, psychologische und sozialwissenschaftliche Aspekte

Die Schule muß ein Ort der Integration behinderter Kinder sein, ein Ort des Kampfes gegen die gesellschaftlich verhängte Dummheit und die ihr geschuldeten Narben im Selbst von Schülern und Lehrern.

Eine Schule für alle – nicht ohne umfassende Integration behinderter Kinder! Pädagogische, psychologische und sozialwissenschaftliche Aspekte Wolfgang Jantzen „Aber der Mensch soll Verhängtsein hinter sich lassen, das Licht wahrhaft erfahren, das in ihm ist, sinnlich, greifbar, als verwandelte Welt. Den Weg der beleuchtet werden soll, der aus dem Dunkeln ins das Helle führt, hat Amos Comenius bezeichnet. Bildung ist „educatio“, Hinausführung.“ (Heydorn 1979, 337)

Einleitung

Mit diesen vorweg gestellten Sätzen beschließt Heinz Joachim Heydorn, marxistischer Bildungsphilosoph, Professor für Erziehungs- und Bildungswesen sein Hauptwerk „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft.“ 1) Bildung ist für Heydorn kein Zustand, Bildung ist antizipatorische Vorwegnahme des Menschseins, in den Bildungsinstitutionen gerät sie jedoch als verobjektivierte Macht „in den äußersten Widerspruch zur Mündigkeit“. „Bildungsfragen sind Machtfragen; die Frage der Bildung ist die Frage nach der Liquidation der Macht. Sie baut auf das Handeln des Menschen, das niemand für ihn übernimmt.“ (ebd.) Es ist deutlich, Comenius (tschechisch: Komenský), der als erster eine Schule für alle denkt und praktiziert, ist für Heydorn mehr als ein historischer Vorläufer. „Comenius war noch ein Mensch des Mittelalters; er war ein Mensch der Forderung seines Tages, er war schon Bürger einer Welt, zu der wir uns auch heute erst auf den Weg machen.“ (Heydorn 1973, 38) Die Rekonstruktion seiner Pädagogik der Aufklärung legt Zusammenhänge frei, die auch heute weder realisiert noch vollends erfasst sind, eröffnet einen Blick auf Bildung für alle als Forderung des heutigen Tages und eröffnet ihn gerade unter den Bedingungen der Krise, der tiefgehenden Schwäche der humanistischen Kräfte gegenüber einem Feind, vor dem wenn er siegt, so Walter Benjamin in seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“, auch die Toten nicht sicher sein werden. „Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ (Benjamin 1965, 82, These 6). „Indem Bildung Repetition ist, Wiederholung vergangener Stadien, um die Stunde der eigenen Freiheit zu erkennen [so Heydorn], einen nächsten möglichen Schritt, ist sie Gespräch mit den Toten in einem unbetretenen Land. Dies ist nur möglich, weil der ganze Mensch schon anwesend ist, ohne in seiner Geschichte wirklich zu sein, weil er ihre Grenze überschreitet.“ (Heydorn 1979, 26) Vertrauen wir Heydorn, dass Comenius, ähnlich Spinoza, an der Grenze der Neuzeit auch heute noch Unabgegoltenes denkt und formuliert (ebd. 25). Welche Zeit ist dies, wer ist Comenius? Und welches Verständnis von „Schule für alle“ und Bildung eröffnet uns für die „Jetztzeit“ der „Tigersprung ins Vergangene“ unter dem freien Himmel der Geschichte einer dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung, die sich „am Bild der geknechteten Vorfahren und nicht am Ideal der befreiten Enkel“ orientiert, so nochmals Walter Benjamin (ebd. 90, 88)? Comenius lebt in einer Epoche, wo die verschiedenen militanten plebejischen Bewegungen der Ketzer und Wiedertäufer, unter den beteiligten Personen an vornehmster Stelle Thomas Münzer, blutig gescheitert sind im Versuch, die „bürgerliche Periode zu überspringen und das Gottesreich ohne Rücksicht auf die Bedingung auszurufen. [...] Die materielle Schranke der gesellschaftlichen Verfassung wird durch die chiliastische Erwartung abgetan. Der Antichrist ist nun in der Gesellschaft selbst, als corpus mysticum in der Wohnstatt der Herrschenden.“ (Heydorn 1973, 16) 2 Zwei Anstöße sind in dieser Gesamtbewegung zentral. Sie prägen Comenius ebenso wie die Aneignung der hussitischen Niederlage und das Fortführen der Erinnerung ab jenem Punkt, „an dem die reale Demokratie ins Bewusstsein der Massen“ drang und zugleich die Liquidation ihre „grausamste Gestalt“ annahm (ebd. 23). Diese Fortführung erfolgt durch die „Böhmischen Brüder“, gegründet 1458 im fünften Jahr nach dem Vernichtungskampf, deren Bischof Comenius (1592-1670) zu Zeiten des 30jährigen Krieges sein wird. Diese geistigen Anstöße sind introspektiver und objektivierender Art: introspektiv die Lehre von der inneren Erfahrung, vom inneren Licht, objektivierend das sich herausbildende Naturrecht (ebd. 20). Und in beides zunehmend und immer reicher einbezogen wird der Humanismus des aufsteigenden Bürgertums (ebd. 22). Diese große Hinterlassenschaft ist über Comenius hinaus wirksam. Ernst Bloch wird beide Pole, ausgehend von Thomas Münzers antilutherischem Credo (1985 a) erneut thematisieren, die Bedeutung des Naturrechts ebenso (1985 b) wie den Wärmestrom eines von chiliastischer, eschatologischer Hoffnung erfüllten inneren Lichts der Möglichkeit einer realen Humanität im und durch den Marxismus (1985 c). „Das intellektuelle Objekt des Lichts ist der Geist des Menschen, in ihm sind die Spuren der Ewigkeit. Dieses Licht umfasst alle und macht alle gleich; gerade an diesem Punkt ist die Auseinandersetzung des Comenius mit Descartes von außerordentlicher Bedeutung“, so Heydorn (1973, 25), der uns allerdings über den Kern dieser Auseinadersetzung im Unklaren lässt. In der Comenius-Biographie von Kratochvíl finden wir Aufklärung: Descartes behauptet, dass außer dem Denken „nur eine einzige Vorstellung [existiere], die nicht dem Menschen entstammt, sondern ihm eingegeben wurde, weil sie schon in sich selbst die volle Wirklichkeit enthält – die Idee Gottes, des vollkommensten Wesens mit unendlichem Sein.“ (Kratochvíl 1984, 127) Mit dieser Trennung Gottes von der Wissenschaft, die zugleich uneingeschränkte Anerkennung eines himmlischen und ewigen Gottes ist, entzieht sich Descartes nicht nur dem Schicksal von Bruno oder Galilei, er vermag auch zugleich ein neuzeitliches Wissenschaftsverständnis zu begründen, das Wissenschaft um der Wissenschaft willen betreibt. Diese formalistische Tendenz in der Wissenschaft, welche Toulmin (1993) in Kriegszeiten im Gegensatz zu einer humanistischen Tendenz in Friedenszeiten obsiegen sieht, ist jedoch nicht unabdingbar und zwangsläufig, dies zeigt die Position des Comenius, wiedergegeben anhand seiner vierstündigen Disputation mit Descartes in Leiden im Jahr 1642. Wissenschaft, so Comenius, dient in erster Linie als Mittel der Vervollkommnung des Menschen, „zur Verbesserung und Erleichterung des Lebens, zur Erzielung des Glücks. "Das Wissen, das nicht zu Taten führt, mag zugrunde gehen!"“ (Kratochvíl 1984, 130). Und auch das Gottesverständnis ist ein anderes als jenes des Descartes: Denn die Ebenbildlichkeit Gottes bliebt nicht als unvollendet gesetzt, immer erneut durch die Erbsünde verunmöglicht, sondern wird als „wiedergewonnenes Menschsein verwirklicht, wenn der Kampf des Menschen mit der Natur gewonnen ist, seine neue Herrschaft errichtet wird.“ (Heydorn 1973, 32) „Ohne den Menschen, der seine Welt vermenschlicht, kann Gott nicht Gott sein.“ (ebd. 42) Dies bedeutet aber vor allem auch die Herrschaft über sich selbst und den Verzicht auf Gewalt, wo immer es möglich ist. Entsprechend die Idee der Einheitsschule: „gegenseitige Hilfe wird früh geübt, Selbsttun. Aus dem Unterricht soll alle Gewalt entfernt werden [...] Bildung ist eine lebenslange Aufgabe [...] In jedem Augenblick beginnt die neue Freiheit, Freiheit zum Anfang, Freiheit zur eigenen Veränderung.“ (ebd. 36). Niemals aber ist Erziehung außerhalb der gesamten gesellschaftlichen Aktion zu denken. Die antideterministische Fassung dieses Realismus schließt jeden „feigen Versuch“ aus, „eine menschenfeindliche Verfügung zu unterlaufen, sich zur Menschlichkeit gleichsam durchzunagen, allein auf die List der Vernunft zu bauen.“ So wird die Pädagogik zur „gesellschaftsverändernden Kraft, indem der Pädagoge damit beginnt, die Gesellschaft zu verändern, sich selbst zu verändern und die ihn umgebende Welt.“ (ebd. 43). In dieser kategorischen Fassung von Bildung leuchtet bereits Marx auf: Ebenso die 3. These über Feuerbach: Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ (MEW 3, 6f, 8), wie der Kategorische Imperativ aus der Einleitung der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385), und nicht zuletzt die berühmte Passage aus dem Manifest, dass „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung aller ist.“ (MEW 4, 482) Letzteres allerdings und zu Recht bei Comenius gänzlich anti-eschatologisch gedacht, denn „Die Stunde läuft durch die Sanduhr [...] Die Verwirklichung des Menschengeschlechts ist eine unendliche Aufgabe; sie will jetzt getan sein.“ (Heydorn 1973, 37). An dieser kategorischen Fassung von Bildung ist jede moderne Bildungstheorie zu messen. Und nicht jede besteht so gut wie die von Wolfgang Klafki, welcher Bildung als den Zusammenhang der Grundfähigkeiten der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität bestimmt (Klafki 1991, 52). Kann Schule für alle jedoch auch Schule für alle behinderten Kinder und Jugendlichen sein?

Integration behinderter Kinder in einer Schule für alle – ein Beispiel

Ich will und kann hier nicht einen Überblick über eine Unzahl von Fakten geben noch kann ich meine ausführliche theoretische Begründung für eine Pädagogik geben, die systematisch alle Schüler, schwer geistig behinderte ebenso wie schwer verhaltensgestörte aufnimmt, anerkennt und bildet. 3 Doch denke ich, dass ein kurzes Beispiel aus einem Schulversuch in der Sekundarstufe I, den ich mehrere Jahre wissenschaftlich begleitet habe, alles Notwendige ausdrückt. 4 Notwendiges? Ja, als das, was die Not wendet und Gleichheit realisiert, Gleichheit als „die verwirklichte Möglichkeit des Menschen.“ (Heydorn 1973, 42). Der junge Mann, von dem ich kurz berichte, hatte Diagnosen in beiderlei Hinsicht: schwer geistig behindert und schwer verhaltensgestört, autistisch. Zunächst ein Ausschnitt aus dem Bericht seiner Mutter über die Ausgangssituation: „Und Harry war von Anfang an ein Kind, das irgendwie anders war. [...] Harry nahm keine Flasche. Und Harry ist bei 33 Grad mitten im Sommer [...] geboren. Und er war nach einem Tag so weit, dass man ihn wirklich dann, ach, alle hilflos waren, also er verdurstet, wenn jetzt nicht was passiert. [...] Und eigentlich hat es, hat es 6 Tage also gedauert, bis Harry überhaupt bereit war, Stillen zu lassen. [...] Am auffälligsten war für uns war, dass Harry von Anfang an keinen Schlaf-Wach-Rhythmus hatte. Also er schlief manchmal am Tag acht Stunden, meldete sich auch gar nicht. Also, wo man permanent in der Unruhe war, lebt er noch. Und schrie ganze Nächte durch. Also ich habe, wir sind fünf Jahre noch mit Harry in H.-Stadt gewesen. In fünf Jahren dann in nächtlichen Touren von H.-Stadt nach M.Stadt und zurück ein Auto kaputt gefahren. Also weil dieses Kind in einer Unruhe war. [...] Das muss seine [...] Sensorik angesprochen haben, ihn in einen Autositz zu setzen und auf der Autobahn mit monotonen Geräuschen hin und her zu fahren. Und irgendwann schlief Harry. Und sobald wir das Auto dann vor dem Haus aufstellten, schrie Harry wieder. [...] Und dann haben wir in H.-Stadt wohl über die Neuropädiatrie und dann über ein sonderpädagogisches Institut, [...] ein unheimliches Diagnostikprogramm ist dann losgegangen, eigentlich zu gucken, was hat dieses Kind. [...]. Es hat einen immensen Anfang mit den fantastischsten Diagnosen ergeben, wo man irgendwann sagte, „Ich kann nicht mehr. Ich ...“ [...] Wir haben dann [...] einen Kinderarzt in H.-Stadt gefunden, so etwa zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr, nachdem wir auch so eine Diagnose dann von den Sonderpädagogen bekamen, dass Harry ein schwerstbehinderter Junge ist: geistig behindert, mit einer autistischen Verhaltensproblematik, mit einer schweren sensomotorischen Integrationsstörung, Störungen des Wach-Schlaf-Rhythmus, hypermotorisch, die haben ihn ja oft auch so gesehen in diesem Fitzeln gesehen und in diesem Nesteln ... und damals auch sehr autoaggressive Anfälle hatte, also er knallte also 50mal gegen die Tür, dass dieses Kind nicht bildungsfähig sei, ein Schwerst-Pflegefall werde. Dass wir keinerlei Möglichkeiten hätten, dieses Kind in irgendeiner Weise zu fördern. [...] Und das Ganze uns Eltern so nahe gebracht wurde, dass wir als Laien nicht in der Lage seien, ein so schwerst behindertes Kind zu erziehen, dazu bräuchte man Fachleute. [...] Und dass ich dieses Kind abgeben sollte. Und in diesem Gespräch [...] habe ich eine so immense Wut in meinem Bauch gespürt. [...] Aber irgendwann war dann auch klar: „Ich bin die Mutter. Und es ist mein Kind. Und ich möchte dieses Kind erziehen. Und ich lass es mir nicht wegnehmen. Nur weil es anders ist. Anders als die, die man so meint, wo man so meint, die sind normal.“ Und meinem Mann ging das ganz klar genauso. Irgendwann also. Doch auf keinen Fall kommt er dorthin.“ Die Eltern „flüchten“ nach Bremen. Harry kommt in einen integrierten Kindergarten und besucht dann ab 1993 eine Integrationsklasse, zunächst an der Grundschule, dann in der Orientierungsstufe, die als einzige Klasse in Bremen in Sekundarstufe I weiterarbeiten darf. Obgleich er immer wieder ein Ausgangspunkt von Unruhe im Unterricht ist, findet er Freunde in der Klasse, ist anerkannt, spielt mit den anderen Jungen Fußball. In der Pubertät kommen bei ihm wie bei den anderen die großen Umbrüche des Selbst. Der Abschlussbericht der beiden Lehrerinnen hält fest: „Sein zeitlich begrenzter, seit Ende der OS immer wieder zu beobachtender Rückzug in die Innerlichkeit ist eine „normale“ Erscheinung in der Entwicklung seines Selbst. Auf den Wunsch „Ich möchte so sein wie die anderen, aber ich kann nicht so sein wie sie“ kann er nur so reagieren, wie er reagiert hat. Er versetzt sich in Trance, begibt sich in eine eigene Welt, um überhaupt noch den Alltag bestehen zu können. Schon vorher reifte in ihm das Bild: „Ich bin der am schwersten behinderte Junge, der nichts kann und der keine Freunde mehr hat“ (schwere Erkrankung in der 6. Klasse; Sonderbetreuung durch Zivis, Verlust von Freizeitmöglichkeiten mit anderen Klassenkameraden [Angeln gehen in der OS, Fußballspielen in der 8. Klasse]).Ein monatliches Gespräch zwischen uns Lehrerinnen und den Eltern der behinderten Schüler, ihr solidarischer Kontakt untereinander, ließen uns diese Konflikte meistern. Parallel entwickelte Harry immer mehr Ehrgeiz im kognitiven Bereich. Er begann zu lesen und zu schreiben und nahm an jedem Test teil, um möglichst ein „sehr gut“ zu schreiben. Die beruflichen Perspektiven innerhalb der Praktika ließen ihn reifen.“ In den auf Film verfügbaren Szenen erleben wir gegen Ende der Schulzeit einerseits einen Harry, der bei Nacherzählungen dicht am Text „klebt“, keine eigenen Urteile über den Text formulieren kann, und andererseits einen hoch reflektierten jungen Mann, der im Interview über seine Situation den Verlust der Beziehungen im pubertären Umbruch reflektiert, wie es kaum einer von uns besser vermöchte. Dieser Verlust von Freunden „tut in der Seele weh“. Was waren die Grundlagen dieses Unterrichts, der in der Tat Gleichheit als die verwirklichte Möglichkeit des Menschen hervorbrachte? Neben „Team-Teaching und differenzierten didaktischen Strukturen (innere und äußere Differenzierung), in deren Kern Projektunterricht steht“ hebt der Abschlussbericht „die Herstellung einer pädagogischen Situation vielfältigen sozialen und emotionalen Austauschs“ hervor. „Wichtig ist es, die besonderen psychischen Probleme der Pubertät bei allen Schülerinnen und Schülern wahrzunehmen und vielfältigen sozialen Kredit vorzuhalten.“ Dahinter verbergen sich von Anfang an eingeübte und habitualisierte basisdemokratische Umgangsformen bei den gemeinsamen Problemlösungen von Konflikten in der Sofaecke. In einer filmisch festgehaltenen Re-Inszenierung eines in der Pubertät aufgebrochenen Konflikts stockt dem Betrachter nahezu der Atem ob der Härte der Auseinandersetzung und dem zugleich disziplinierten basisdemokratischen Umgang der Schülerinnen und Schüler. 5 Nur wer sich meldet darf reden, und nur der oder die, welche(r) vom zuletzt Redenden das Wort erteilt bekommt. Und es stockt der Atem ob des Mutes der Lehrerinnen, diese Diskussion ohne Eingreifen zuzulassen. Was aber heißt sozialer Kredit? Hierzu in weiteres Beispiel: Eine Schülerin, geriet in eine schwere Krise, da ihre Mutter sich umgebracht hatte. Über Wochen fehlte sie immer wieder in der Schule. Die Lehrerinnen berichten: „Unsere Unsicherheit war groß: Braucht Helga mehr Druck, z.B. durch das Einschalten fremder Hilfen - Amt für soziale Dienste, Schulermittlungsdienst, Jugendpsychiatrischer Dienst? Mit allen diesen Dienststellen haben wir Gespräche geführt, sie aber noch nicht eingeschaltet, sondern nur damit "gedroht".“ Entscheidend war für sie, so der Abschlussbericht, meine Unterstützung: „Überlegt mal, sie muss den Tod der Mutter so wahrnehmen, dass es letztlich auch an ihr gelegen hat, dass sie die Mutter nicht schützen konnte. Und wenn diese Zweifel im Selbst sind, sie es auch nicht richtig mit der Schule hinbekommt, immer wieder wegbleibt, dann erlebt sie ein Karussell von Zweifeln und Selbstanklagen und sie hat keinen Grund und keine Möglichkeit in sich, über diese Zweifel hinwegzukommen.“ (So zitieren sie mich). Die Lehrerinnen haben durchgehalten. Eines Tages stand Helga vor der Tür. Eine Freundin holte sie in die Klasse. Sie holte in wenigen Wochen das Versäumte nach, erreichte ihre erfolgreichen Hauptschulabschluss und den Ausbildungsplatz, den sie sich erwünscht hatte. Helga selbst: „Ich brauchte so viel Zeit, mehr Druck hätte mich wahrscheinlich nicht erreicht, denn ich hatte einen vollen Kopf und ich wäre noch mehr ausgewichen.“ Der Bericht fasst zusammen: „Die Garantie von Sicherheit und Bindung in altersspezifischer, dem neuen Denkniveau (begriffliches Denken, innere Position des Erwachsenen) angemessener Form ist die zentrale Bedingung für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung in diesem Alter.“ Aber natürlich gilt dies für jedes Alter. Dieses Beispiel, das ohne Zweifel dem oben entwickelten kategorischen Begriff von Bildung nahe kommt, bedarf seiner Erläuterung und theoretischen Einordnung. Alle Kinder alles lehren heißt in integrierten Klassen und Schulen keineswegs, das alle das Gleiche tun und das Gleiche lernen. Immerhin waren gegen Ende der Orientierungsstufe etliche Schüler mit Gymnasialempfehlung abgegangen und in der neu zusammen gesetzten Klasse 6 erreichten Schüler/innen Realschulabschlüsse, Hauptschulabschlüsse aber auch Sonderschulabschlüsse und alle bis auf Harry, wo sich eine feste Zusage kurzfristig zerschlug, bekamen unmittelbar nach der Schule einen Ausbildungsplatz. Wie aber lässt sich diese Vielfalt in der Differenz pädagogisch denken und das Ausgehen von einem kategorischen Bildungsbegriff ebenso entwicklungspsychologisch wie sozialwissenschaftlich wie erziehungswissenschaftlich neu begründen? Ich beginne mit Bemerkungen zum Konzept der entwicklungslogischen Didaktik und des entwickelnden Unterrichts.

Entwicklungslogische Didaktik und entwickelnder Unterricht

Bildung hat nicht nur eine pädagogische und philosophische Seite, Bildung ist auch das Resultat von Entwicklungsprozessen und ist unter Berücksichtigung dieser darzustellen und zu denken. Wenn sich die Menschen von den Tieren durch Arbeit und Sprache unterscheiden, wenn es also mit Marx (MEW 23, Kap. 5) die entscheidende Differenz ist, das Produkt vorher im Kopf zu bauen (und dies jeweils mit den historisch vorgefunden Mitteln), so bedeutet dies auch, dass Menschen diese sozialhistorische Kompetenz in psychologischer Hinsicht in ihrer Individualentwicklung, ihrer Ontogenese erst aufbauen. Sève (1973) diskutiert dies als Juxtastruktur, als seitliches Hineinversetztsein der Persönlichkeit in die Gesellschaft. Der Mensch hat sein Wesen (als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse) „außermittig“. Er ist gesellschaftlich in seiner Einmaligkeit und einmalig in seiner Gesellschaftlichkeit, dies ist der Widerspruch, der zu bewältigen ist. Ähnlich Helmuth Plessners Begriff der „exzentrischen Positionalität" 7. Innerhalb der entwicklungspsychologischen Debatte wurde diese Problematik vor allem in der kulturhistorischen Psychologie Vygotskijs aufgegriffen. Das zentrale Entwicklungsgesetz lautet, dass alle höheren psychischen Funktionen sich zunächst als Verhältnisse zwischen den Menschen realisieren, um dann interiorisiert, zu psychischen Verhältnisse in den Menschen zu werden. Nichts jedoch liegt Vygotskij ferner als eine soziologistische Auflösung. Die psychischen Funktionen haben von unten nach oben, in ihrer je gegebenen „rudimentären Form“ ihre Eigenlogik, einen sinnhaften und systemhaften Aufbau, der sich Ebene für Ebene neuropsychologisch, entwicklungs- ebenso wie persönlichkeitspsychologisch mit der „idealen Form“ vermittelt, dem sozialen Erbe in Kultur und Gesellschaft. Diese Vermittlung von Entwicklung und Lernen, so Vygotskij findet in einer Zone der Möglichkeiten statt, die er „Zone der nächsten Entwicklung“ nennt. Entwickelnder Unterricht (insbesondere durch die Arbeiten von Davydov und Elkonin entwickelt; vgl. Siebert 2006, aber auch durch die Arbeiten von Joachim Lompscher oder Mariane Heedegard) versucht die Einheit von Entwicklung und Lernen in dieser „Zone der nächsten Entwicklung“ herzustellen. Dies verlangt jedoch einen Bildungsbegriff, der entwicklungspsychologisch selbst diese Thematik problematisiert. Einen solchen hat in unserem Arbeitskontext Wolfgang Stegemann (1983) entwickelt, damals noch vorrangig rückbezogen auf die entwicklungspsychologische Konzeption von Jean Piaget: Bildung das ist die Bewegung der Tätigkeit auf höheres Niveau und auf höherem Niveau. Die von meinem Kollegen Feuser entwickelte Konzeption der „entwicklungslogischen Didaktik“, entstanden im Kontext der Integration behinderter Kinder in Kindergarten und Schule, geht hiervon aus (Feuser 1989). Was aber ist das jeweilige Entwicklungsniveau, von dem aus sich im Bildungsprozess die optimale Verbindung von Lernen und Entwicklung erschließt? Diese Frage stellt sich u.a. auch anhand eines offensichtlichen Widerspruchs in der oben geschilderten Entwicklung von Harry. In seiner Wiedergabe eines Hemingway-Textes in der Filmdokumentation eines Unterrichtsprojektes nacherzählt er im besten Fall diesen Text, ohne irgendeinen Punkt der reflexiven Befassung erkennen zu lassen. Dies spricht für eine kognitive Organisation auf dem späten Vorschul- bzw. frühen Grundschulniveau mit noch nicht hinreichend konsolidierten Oberbegriffen. Eine Klassenkameradin aus dem Realschulbereich erklärt in der filmischen Dokumentation eines anderen Projektes in nicht allzu großem zeitlichem Abstand hierzu die Bewegungen von Flut und Ebbe anhand eines selbst erarbeiteten Modells mit Hilfe der Begriffe Schwerkraft und Fliehkraft. Harry also doch „geistig behindert“? Und zu „fördern“ statt zu „bilden“? Andererseits zeigt Harry in der Reflexion seiner selbst ein Entwicklungsniveau, das weit darüber liegt (von Freunden verlassen zu werden, „tut in der Seele weh“). Seine auf sich bezogene Reflexionsfähigkeit steht der seiner Klassenkameraden hier in keiner Weise nach. Die Lösung dieses Widerspruchs ist für die Bestimmung eines entwicklungsbezogenen Bildungsbegriffs ersichtlich von höchster Bedeutung. Übersetzen wir dies in die Entwicklungspsychologie von Piaget, auf die Stegemann sich bezieht, so erreicht Harry im Deutschunterricht das anschauliche Niveau des späten Vorschul- /frühen Schulalters, hat noch keine „Erhaltungsfunktion“ für die Auswirkung nicht unmittelbar sichtbarer Bestimmungen auf die Existenz der Dinge entwickelt, wie z.B. den Begriff des Volumens (vgl. Rieger 2004). Andererseits zeigt er in der Selbstreflexion jedoch abstraktes, formallogisches, oberbegriffliches Denken. Der wichtige Übergang in die im Schulalter vorausgesetzte logische Kompetenz ist einerseits noch nicht richtig erfolgt, andererseits entspricht das Denken höchsten Voraussetzungen. Es spricht alles dafür, dass diese Differenz kulturellen und nicht biologischen Ursachen entspringt. Vergleichbare Unterschiede im Aufbau der Erhaltungsfunktion zeigen sich in der Pubertät zwischen europäischen Kindern mit Schulbesuch und afrikanischen Kindern ohne einen solchen. Und auch die moderne Entwicklungsneuropsychologie unterstreicht sehr deutlich, dass es ersichtlich gewisse Universalien der neuropsychologischen Entwicklung in Kindheit und Jugend gibt, die nur bei schwersten Hirnverletzungen partiell außer Kraft gesetzt sind. Ersichtlich durchlaufen nahezu alle Kinder und Jugendlichen in ihrem Entwicklungsprozess alle Niveaus der begrifflichen Entwicklung bezogen auf den Pol ihres Selbst, doch gibt es erhebliche und gravierende (kulturell determinierte) Differenzen bezogen auf die Möglichkeit, soziale und gegenständliche Zusammenhänge begrifflich zu denken 8. An sich selbst gemessen, das heißt an den je gegeben persönlichen und kulturellen Ausgangsbedingungen, ist auch Harrys Entwicklung optimal, gemessen an den Notwendigkeiten, auf seine je gegebenen Lebensverhältnisse so einwirken zu können, wie seine Mitschüler, ist sie deutlich beschränkt. Es kommt hinzu, dass in sein Selbst die scheinbar unwiderrufliche Gewissheit eingegangen ist, dass er der am schwersten behinderte Schüler ist. Umso bewundernswerter sein Kampf um die Aneignung kultureller Inhalte in den letzten Schuljahren – und umso verständlicher der tiefe depressive Einbruch, als er aufgrund kurzfristiger Absage eines Ausbildungsplatzes nochmals zwei Jahre in einer Schule für Körperbehinderte „zwischen geparkt“ wird. Die danach erfolgende nahezu blitzartige Rehabilitation durch einen endlich verfügbaren Arbeitsplatz zeigt, welcher Natur die so genannte „geistige Behinderung“ tatsächlich ist. Es ist die Aneignung des eigenen Selbst, die einerseits das höchste Denkniveau gewährleistet und andererseits jegliches Lernen außer Kraft setzt, wenn dieses Selbst als gedemütigt oder von Schuld gezeichnet, so bei Helga, anzueignen und auszuhalten ist. Und eine derartige Selbstentwicklung findet unter scheinbar psychopathologischen Bedingungen nahezu immer statt (vgl. Schore 1994, Fischer 1997). In diesem Sinne ist für Vygotskij (1993) ebenso wie für uns, die wir dies unabhängig von ihm erneut aufgegriffen haben, das zentrale Problem „behinderter“ Kinder die soziale Isolation und der wichtigste Faktor der Rehabilitation ist, so Vygotskij, Kommunikation, sozialer Verkehr, oder sagen wir es mit unseren eigenen Begriffen, Vertrauen in die Entwicklung jedes Schülers und jeder Schülerin, Anerkennung, sozialer Kredit. Wir sahen, wie bei Harry bereits der frühe soziale Umgang mit seiner tiefgreifenden angeborene Entwicklungsstörung 9 diesen Prozess nahezu außer Kraft setzte, bei Helga waren es die sozialen Verhältnisse: u.a. der Drogenmissbrauch ihrer Schwester hatte ihre Mutter in den Suizid getrieben. Und für beide war ihr jeweiliges Verhalten sinnvoll und systemhaft, auch wenn es nach außen hin pathologisch erschien und ihre soziale Isolation verstärkte. Eine entwicklungslogische Didaktik – und dies geht über den von Georg Feuser bisher publizierten Ansatz hinaus – hat daher zugleich für jedes Kind, jeden Jugendlichen und natürlich auch für jeden Erwachsenen eine Situation der Anerkennung zu realisieren, welche den Weg aus diesen Sackgassen öffnet. Die Didaktik ordnet sich in einen kategorischen Begriff von Pädagogik ein. Makarenko hat dies mit dem Grundprinzip seiner Pädagogik ausgedrückt: Höchste Achtung vor der Persönlichkeit bei höchsten Anforderungen an diese. Und die genaue Rekonstruktion von Vygotskijs Konzept der Zone der nächsten Entwicklung ergibt ähnliches. Die Emotionen als aller niedrigste, uralte, primäre Systeme und gleichzeitig aller höchste, späteste, in ihrer Ausbildung nur dem Menschen eigene Systeme öffnen und schließen das Gehirn. (Vygotskij 2001, 162) Diese Öffnung des Gehirns verlagert sich nach innen – wer sich missachtet fühlt, kann sein Gehirn für neues Lernen nicht öffnen. Wer mit sich selbst ob der möglichen Mitschuld am Tod seiner Mutter hadert, kann sich nicht auf schulisches Lernen einstellen. Schulisches Lernen selbst kann, ausgehend von diesen Überlegungen, ebenfalls völlig anders organisiert werden. Häufig gleicht es einem vom Lehrer organisierten Marionettentheater, an dessen Ende sich durch Einlassen auf den Lehrer und fleißiges Pauken die Früchte wie von selbst einstellen. Und oft ist sein Bezug auf die je einzelnen Schüler nach Maßgabe des Modells eines Durchschnittschülers organisiert. Denn innere Differenzierung, wenn überhaupt angedacht, wird in inhaltlicher Hinsicht fast regelmäßig als inhaltliche Vorstrukturierung durch den Lehrer und nicht als unterstützende Organisation des kollektiven Lernprozesses von Schülern verstanden. Organisiert man die soziale Seite des Lernens anders (z.B. Projektunterricht, Basisdemokratie, gegenseitige Unterstützung, offener Unterricht), so zeigen sich ebenso höchst positive Effekte wie bei Neuorganisation der wissenschaftlichen Seite. Entwickelnder Unterricht hat sich jedoch an allen drei Polen der Entwicklung zu orientierten. Zunächst und vorrangig ist Anerkennung vorausgesetzt, um die Bedingung der Möglichkeit einer positiven Aneignung des eigenen Selbst zu schaffen. Dies wird aber nur möglich, wenn Schülerinnen und Schüler sich auch zunehmend sozial und inhaltlich als bedeutsam und kompetent erfahren. Zur wissenschaftlich fundierten Neuorganisation einer Schule für alle einige Worte. Zunächst einmal: Lernen findet von oben nach unten statt, nicht als Anhäufung von Fakten, sondern sinnvoll handelnd in der Verknüpfung verschiedener Aspekte zu neuer Kompetenz. Es ist insofern zyklisch organisiert, kehrt am Ende auf höherem Niveau zu sich selbst zurück (vgl. Fischer und Yan 2002). Dies bedeutet aber, dass alle Formen des Übens, die lediglich reines Pauken sind, aus dem Unterricht auszuschließen sind. Übung ist ein Prozess der Vervollkommnung einer ab irgendeinem Punkt erstmals – und wenn noch so unsicher – realisierten neuen Fähigkeit. 10 Dieser zyklischen Organisation tragen insbesondere die im Ausstrahlungsbereich von Vygotskijs Theorie entwickelten didaktischen Ansätze Rechnung. Sie sind hier vorrangig mit dem Namen von Davydov, andererseits mit Galperin und Talysina verbunden. In ihrem Zentrum steht Herausbildung von Orientierung, von Handlungsmodellen jeweils vor Eintritt in die Handlung, Vorklärung der wissenschaftlichen Struktur des Gegenstandes, denn oft beinhalten Lehrbücher in sich widersprüchliche oder unvollständige Definitionen. Herausarbeiten von fraktalen, selbstähnlichen Zellen der sich entwickelnden Begriffstruktur, also Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten (Davydov, Lompscher), experimentell und wissenschaftlich orientierte Unterricht sind Hauptbestandteile dieser Konzeption. Und natürlich gehört – knüpft man direkt an Vygotskij an – soziales und solidarisches Lernen dazu. Höchst bedeutsam sind auch die diesem Denken verpflichteten und im skandinavischen wie angloamerikanischen Bereich einflussreichen Ansätze von Yrjö Engeström (Finnland) und Mariane Hedegaard (Dänemark). Hier erscheint mir für unsere Diskussion einer Schule für alle die Konzeption eines radikal lokal rückgekoppelten wissenschaftlichen Lernens von Seth Chaiklin und Mariane Hedegaard besonders bedeutsam. Ich kann auf all dies hier nur verweisen. 11 Um zum Ausgangspunkt eines kategorischen Bildungsbegriffs zurückzukommen: Anerkennung ist nicht alles, aber ohne Anerkennung ist alles nichts. Dies gilt auch für die Situation der Lehrer, die eine solche Schule entwickeln oder zu entwickeln hätten. Wie aber soll diesen Lehrern selbst Bildung möglich werden, Bildung als „educatio“, Hinausführung „aus dem Dunkeln in das Helle“?

Abschließende Bemerkungen zur Situation der Lehrer und zum Widerspruch von Bildung und Herrschaft

Bemerkungen von Adorno zur Situation der Gymnasiallehrerstudenten kennzeichnen eine Ausgangssituation von Lehramtsstudenten, die auch heute noch so oder schon wieder so existieren dürfte. Ähnlich wie Hobsbawm dies für die Situation der Geschichtswissenschaft feststellt 12, gibt es auch für den Lehrerberuf historisch unterschiedliche Situationen der Bewusstwerdung seiner Aufgaben. „Herein spielt jene schmähliche, nicht nur in Deutschland verbreitete Missachtung des Lehrerberufs, die dann wieder die Kandidaten dazu bewegt, allzu bescheiden Ansprüche an sich zu stellen. Viele haben in Wirklichkeit resigniert, ehe sie auch nur anfangen, und sind sich selbst so wenig gut wie dem Geist.“ So Adorno in Auswertung seiner Erfahrungen in der frühen Bundesrepublik (1966, 47). Und Heydorns (1979) kritische Rekonstruktion der Geschichte der Pädagogik als Geschichte des Widerspruchs von Bildung und Herrschaft unterstreicht nicht nur diese Anpassung sondern auch Adornos weitere Beobachtung: „Dem verdinglichten Bewusstsein ist eigentümlich, sich in sich selbst einzurichten, bei sich selbst, bei der eigenen Schwäche zu beharren und sich um jeden Preis ins Recht zu setzen. Immer wieder staune ich über den Scharfsinn, welche noch die Stumpfesten aufbringen, wenn es gilt, schlechtes zu verteidigen.“ (Adorno ebd. 51) Aber ebenso wie die „geistige Behinderung“ von Harry in einer bestimmten historischen und sozialen Situation – trotz aller bisherigen positiven Entwicklung – dem Widerspruch von menschlicher Natur als Vernunftnatur und den sozialen, den kulturellen Verhältnissen geschuldet ist, ebenso wie der „Schulabsentismus“ von Helga, so ist auch die Stumpfheit von Lehrern das Resultat historischer Verhältnisse und vielfältiger Kränkungen ihrer selbst. Denn „Dummheit ist ein Wundmal“ so Horkheimer und Adorno (1986, 274f.) in der Erörterung der „Genese der Dummheit“ am Beispiel des Fühlhorns der Schnecke. „Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenen Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken“ [...] „Wie Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, dass alles Lebendige unter einem Bann steht.“ (ebd.; Hervorh. W.J.) Dass eine Lehrerbildung, die sich der Tendenz nach unter die kategorischen Bedingungen des von Heydorn bei Comenius herausgearbeiteten Begriffs von Bildung stellt, anderes vermag, zeigt die über dreißigjährige Geschichte unseres Studiengangs Behindertenpädagogik an der Universität Bremen, nunmehr im Zeichen neoliberaler Transformation zu einer „Elite-Universität“ von der Abwicklung bedroht. Aber dies zu erörtern, wäre schon ein anderes Thema. Und ebenso ein anderes Thema wäre es, dies systematisch an den Bedingungen und Möglichkeiten der Lehrerausbildung und Lehrertätigkeit darzustellen. Auf jeden Fall kann und muß eine Schule für alle ebenso ein Ort der Integration behinderter Kinder sein, wie ein Ort des Kampfes gegen die gesellschaftlich verhängte Dummheit und die ihr geschuldeten Narben im Selbst von Schülern ebenso wie Lehrern.

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Und wo nicht, so ist dieses zu erzwingen und verlangt ihre Änderung und notfalls ihren Sturz. „Misstraut jeder Obrigkeit, die Gewalt über Euch hat“, denn diese Obrigkeit kann eine des Satans und nicht Gottes sein (vgl. Bloch 1985a). back 3) Vgl. W. Jantzen: Identitätsentwicklung und pädagogische Situation behinderter Kinder und Jugendlicher In: Sachverständigenkommission 11. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.): Gesundheit und Behinderung im Leben von Kindern und Jugendlichen. Materialien zum Jugendbericht, Bd. 4. München: DJI 2002, 317-394. back 4) Der Auswertungsbericht über den Schulversuch ist zugänglich über: http://www.basaglia.de/Forschung/Forschungsprojekte/Forschungsprojekte_Index.htm Ab dem 2. Schuljahr existiert eine filmische Dokumentation von insgesamt mehr als 100 Std. Videomaterial durch einen professionellen Filmemacher, die erst zum Teil ausgewertet ist. Eine erste Auswertung ist darüber hinaus erfolgt durch Cora Ditter „Persönlichkeitsentwicklung in Pubertät und Adoleszenz als Kernproblem von inklusivem Unterricht in der Sekundarstufe“, Examensarbeit in der Sonderpädagogischen Fachrichtung, FB 12, Universität Bremen 2005. Die weitere Bearbeitung des Materials in einer Dissertation ist vorgesehen. back 5) „Ist doch cool, oder?“ Kamera Jörg Streese, http://www.streese-film.de/ back 6) Aus der OS gingen insgesamt 3 Mädchen und 6 Jungen mit hinüber in die neue Klasse; die restlichen Schüler wechselten zum Gymnasium oder zogen in einen anderen Schulbezirk. 11 Schüler mussten für die neue Klasse gefunden werden. back 7) Dieser Begriff „bezeichnet die Stellung des Menschen und seine wechselseitige Beziehung zu seiner belebten und unbelebten Umwelt. Positionalität bezeichnet dabei die Eigenschaft lebender Körper, ihre Grenze zur Umwelt zu erhalten, „exzentrisch“ bezieht sich auf die dem Menschen eigene Reflexivität in Bezug auf seine Stellung als Körper in der Welt.“ (zit. nach „Exzentrische Positionalität“, http://de.wikipedia.org) back 8) Zu näheren Details vgl. Jantzen 2002, 2004a, 2006 back 9) „Tiefgreifende Entwicklungsstörung“ ist der Oberbegriff für eine Gruppe früher Entwicklungsstörungen, deren prominentester Vertreter der frühkindliche Autismus ist. back 10) Diese Aussage stützt sich auf eine Reihe von Argumenten: u.a. auf Bernsteins (1996) allgemeine Theorie zum Aufbau von Bewegungen und Geschicklichkeit im Bereich der Motorik, Kurt Fischers „Dynamic trait theory“, siehe , sowie G. Edelmans (1993, Kap. 8) neurowissenschaftliche Überlegungen zur Begriffsbildung durch Selektion von Gesten. back 11) Vgl. Jantzen (2004b) zur heutigen Situation der Didaktikdiskussion in der Tradition von Galperin und Talysina, Siebert (2006) zur Erschließung des Ansatzes von Davydov sowie Chaiklin und Hedegaard (2005) und Engeström (1999) back 12) „Man könnte sogar behaupten, dass gerade die Ablehnung gegenüber theoretischer Arbeit und Verallgemeinerungen, die einen Großteil der orthodoxen akademischen Geschichte während der lagen Periode kennzeichnete [...] die geistig wenig Unternehmungslosen anzog, die häufig auch die intellektuell Anspruchslosen waren. Auf der anderen Seite hat es Länder und Perioden gegeben, in denen die Geschichte gerade die Vertreter einer entgegengesetzten Geisteshaltung anzog.“ (Hobsbawm 2001, 85) back

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