Meine Beziehung zu Brecht

Vortrag auf dem Kongress "er ist das einfache, das schwer zu machen ist - Brecht und der Kommunismus" im Oktober 2006 in Berlin (aus dem Sonderheft der Marxist. Blätter; dort alle Kongressbeiträge)


Meine Beziehung zu Brecht

Von Julio Garcia Espinosa (Havanna)

1898 wurde Bertolt Brecht geboren. 1898 endete auch der Kampf Kubas gegen die spanische Kolonialherrschaft. Zwischen 1918 und 1945, d. h. zwischen den beiden Weltkriegen, schuf Brecht einen Großteil seiner Werke und seiner theoretischen Schriften. 1951 hörte ich das erste Mal von Brecht. In dem Zeitraum zwischen 1951 und 1954 studierte ich am Zentrum für Experimentelle Filmkunst in Rom. Zusammen mit Filmemachern wie Rosselini,Visconti, de Sica, Sabatini entdeckt ich die von Stanislawski und Brecht. Diese beiden Theatermenschen sprachen aber von Methoden des Rollenspiels. Die Theorie von Stanislawski könnte man beim Film anwenden, die von Brecht aber wahrscheinlich nicht gleichermaßen.

Damals war Rom der Mittelpunkt des Films. Die Bewegung des italienischen Neorealismus hat weltweit die Kinematographie beeinflusst. Für mich wie auch für die armen Länder war der Neorealismus eine ideale Möglichkeit, um eine nationale Kinomategraphie zu entwickeln. Auf jeden Fall war das Theater nichts Neues für mich. In den 1940er Jahren, während des Zweiten Weltkriegs, als ich noch ein Halbwüchsiger war, machte ich meine ersten Schritte beim Theater. Ich hatte es geschafft, eine kleine Volkstheatergruppe von Jugendlichen ins Leben zu rufen, bei der ich Regie führte und auch selbst als Schauspieler wirkte. Das Volksund Sittentheater in Kuba hatte eine lange Tradition und die Komiker genossen großes Ansehen unter der Bevölkerung. Es war komisches Theater mit politischem Touch, wo die Musik, der Tanz, die Pantomime so wichtig waren wie die sehr deftigen volkstümlichen Dialoge. Für mich, für jeden Jugendlichen, der aus einem einfachen Viertel stammte, bedeutete diese Art von Theater einen legitimen Platz in unserer Kultur.Trotzdem, es war nicht ganz so. Mir wurde klar, dass die wahre Kultur mit diesem Volks- und Sittentheater nichts zu tun hatte. Die wahre Kultur entwickelte sich auf der Grundlage von tiefgründigen Werten und wurde von gebildeten Minderheiten gepflegt. Bach oder Mozart zu genießen, hinderte mich nicht am Genuss der Großen unserer Volksmusik. Aber alles führte mich dazu, dass wir uns mehr von außen nach innen entwickelten als von innen nach außen.Auf diese Weise kam ich auf den Gedanken, dass der Film vielleicht dazu bestimmt wäre, diese unglückliche Dichotomie zu überwinden.Trotzdem fühlte ich mich dem nationalen Theater gegenüber schuldig.

Die 1950er Jahre waren für uns noch keine Brecht-Jahre, es waren die Jahre, in denen wir unbewusst den Weg vorbereiteten, der uns in den 60er Jahren dazu führen würde, Brecht zu finden. In diesen 50er Jahren war der italienische Neorealismus unser großes kulturelles Banner. Obwohl Kuba noch unter einer harten Diktatur stand, sind wir 1954 aus Italien zurückgekehrt.Wir schlossen uns der Gruppe an, die unter Leitung von Vicente Revuelta gebildet worden war. Diese Gruppe hatte die Absicht, eine Theaterbewegung mit tiefen volkstümlichen Wurzeln zu schaffen. Vicente ist der bedeutendste Theaterschaffende unseres Landes gewesen.

Das Erste, was die Gruppe tat: sie widmete sich dem Studium des Marxismus.Wir wollten unbedingt unsere Realität, unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Beziehung zur Welt kennen. Und es gab nichts Besseres als den Marxismus, der uns sagte, es geht nicht nur darum, die Welt zu verstehen, sondern es geht darum, sie zu verändern. Brecht sagte, dass dies nicht selbstverständlich sei. Alles hätten die Menschen geschaffen, und demzufolge wäre alles veränderbar. Er war tief davon überzeugt, dass das Theater mit einem neuen sozialen Inhalt nicht nur als ästhetischer Kampf, sondern auch als politischer Kampf vorangebracht werden sollte. Er forderte ein Theater der Ideen. Er sagte, die Ideen sind wie das Geld, das da ist, um genutzt zu werden und nicht, um es zu lagern.

In diesen schwierigen Jahren hat man sowohl beim Theater als auch beim Film einiges geschafft. Beim Theater hat Vicente „Juana de Lorenca“ von Maxwell Anderson inszeniert. Seine Schwester Raquel, eine der größten Schauspielerinnen unseres Landes, die auch durch ihre Arbeit im Fernsehen sehr bekannt war, spielte die Juana. Ich schrieb die Bearbeitung für die kubanische Version und Vicente machte eine sehr schöne Inszenierung, wobei der Kampf der Barbudos von Fidel Castro in der Sierra Maestra zur Aufführung kam.

Beim Film habe ich zusammen mit Tomas Gutias Alea, der auch in Rom Film studiert hatte, und Alfredo Guevara, der Jahre später der Vorsitzende des Instituts für kubanischen Film wurde, „El Negano“ realisiert. Dieser Film zeigt das armselige Leben der Bauern südlich von Havanna. Wie erwartet, waren weder das Theaterstück noch der kleine Film der Diktatur angenehm. Ich wurde verhaftet und musste das Filmnegativ von „El Negano“ abgeben. Es war offensichtlich, dass wir auf anständige Weise nicht erreichen konnten, was uns auf unanständige Weise verweigert wurde.Wir haben uns dann dem Untergrundkampf in der Stadt gewidmet. Es war die konkrete Form, uns mit denen zu solidarisieren, die in der Sierra Maestra gegen die Diktatur kämpften. 1959 – Sieg der kubanischen Revolution. Das erste Gesetz im Bereich der Kultur betraf die Gründung des kubanischen Instituts für Kunst und Filmindustrie. Die Revolution lehrte uns, dass der Krieg gegen Spanien ein unvollendeter Krieg war. Die Vereinigten Staaten hatten Spanien abgelöst, aber als gute Demokraten verkleidet über fast ein halbes Jahrhundert ein Neokolonialsystem errichtet, das unsere Entwicklung hemmte und unser Land noch ärmer machte.

Noch heute, noch 50 Jahre danach, konzentriert sich die Revolution darauf, dass sich die USA Kubas nicht wieder bemächtigen und uns ihre Annexionspolitik nicht wieder aufzwingen können. Beim Film macht sich diese Situation auch bemerkbar. Es ist unmöglich, eine nationale Produktion zu entwickeln, wenn man nicht mit dem eigenen nationalen Markt rechnen kann. Dieser Markt war offensichtlich nicht reif. Er war durch die großen nordamerikanischen Filmgesellschaften kontrolliert. Wir sprachen mit den Kinobesitzern. Im Prinzip ging es darum, dass sie ihre freie Auswahl von Filmen mit den kubanischen Filmemachern teilen sollten. Sie haben es aber nicht akzeptiert. Die Kinos wurden dann verstaatlicht und nun konnten wir Filmemacher über unseren eigenen Markt verfügen.Wie es zu erwarten war, haben die nordamerikanischen Filmgesellschaften das Land verlassen. Danach geschah etwas Eigenartiges. Diese Freigabe unserer Leinwände für die Filmschaffenden der ganzen Welt hat die Zuschauer nicht vertrieben, sondern es wurden immer mehr. Zum ersten Mal wurden Filme aus Lateinamerika, aus Europa und Asien gezeigt, und natürlich auch weiterhin Filme aus den Vereinigten Staaten, die uns gute Freunde zukommen ließen. Die besten Kinosäle öffneten ihre Türen für gute Filme, egal aus welchem Land sie kamen.Außerdem, Filme aus allen Teilen der Welt zu sehen, garantierte den Zuschauern das Recht der Wahl. Ohne die Freiheit der Auswahl durch die Zuschauer existierte keine wirkliche Freiheit für alle Filmschaffenden.

Die 60er Jahre waren für uns die Bertolt- Brecht-Jahre. Vicente Revuelta konsolidierte seine Gruppe und es entstand das Teatro Estudio. Dieses Experiment auf der Bühne ging Hand in Hand mit den Klassikern des Welttheaters. Selbstverständlich nahm Brecht im Repertoire eine besondere Stellung ein. Es wurden nicht nur seine Theorien studiert und verbreitet, sondern auch einige seiner bekanntesten Stücke inszeniert: Mutter Courage, Der gute Mensch von Sezuan, Galileo Galilei waren große Zuschauer- und Kritikererfolge. Dadurch wurde endlich erreicht, dass die Theorie von Brecht bei uns diesen hervorragenden Platz einnahm, den sie schon in der Weltkultur innehatte.

1967 habe ich meinen Film „Die Abenteuer des Juan de Quin Quin“ realisiert. Es war mein dritter Film.Vorher hatte ich zwei andere Filme nach den Grundsätzen des italienischen Neorealismus gedreht. Diese Filme gingen nicht mit der Zeit und bieten außerdem eine dürftige, glanzlose und unwirksame Art auf, soziale Geschichten zu erzählen. Erst mit den „Abenteuern des Juan de Quin Quin“ fand ich meine eigene Art zu erzählen. Der Film wurde eine Art Schauspiel über die Zerstörung des Schauspiels. Ich hatte verstanden, dass eine neue Dramaturgie nicht aus dem Nichts entstehen konnte, sondern aus der Asche der alten Dramaturgien hervorgehen musste. Die politische Botschaft verlangte eine neue Ästhetik, wenn sie nicht als Pamphlet enden sollte oder im besten Falle in einem Lehrstück. Diese Überlegung kam à priori, denn man realisiert keinen Film oder irgend ein anderes Kunstwerk mit der Idee, eine bestimmte Theorie anzuwenden.

Diese Brechtsche Atmosphäre, die Vicente zustande gebracht hatte, sowie meine eigenen Überlegungen brachten mich dazu, eine Art Manifest mit dem Titel „Für ein nichtperfektes Kino“ zu schreiben. Im Grunde ging es mir darum, dem perfekt reaktionären Hollywoodfilm entgegenzutreten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sich die nordamerikanischen Filme als echt populäre Filme gezeigt und haben die Herzen des Publikums erobert. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat das Geschäftsfieber, außer einigen beachtenswerten Ausnahmen, zu einem raffinierten Populismus geführt, einer Ideologie der Mittelklasse, die die Kraft und den Reichtum der Charaktere durch den Glamour der Filmstars ersetzte. Der Geschäftserfolg wurde künstlerisch ein Misserfolg. Beim Verlassen der Kinosäle sprachen die Zuschauer immer mehr über die Schauspieler als über die Schönheit der Fotografie. Sie haben die Form vom Inhalt getrennt. Das ästhetische Vergnügen wird nicht mehr in den Ideen, sondern in der Form der Erzählung einer Geschichte gefunden. Die befremdlichste Folge dieser Ästhetik besteht darin, dass der kritische Geist der Zuschauer neutralisiert wird.

Je mehr ich Brecht las, umso näher war mir seine Theorie. Es ging nicht darum, ihn zu imitieren, den Künstler nachzuahmen. Jeder wahre Künstler ist unwiederholbar! Seine Theorien zu übernehmen, war für mich eine Begegnung mit den Forderungen seines dramaturgischen Vorschlags. Es gab eine Schwierigkeit: Seine Werke brachten die Realität einer kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck. Dazu kam noch, dass diese für das Theater gedacht waren. Bei uns ging es um Filme und wir lebten in einer sozialistischen Gesellschaft. Um alles noch komplizierter zu machen, konnten wir uns mit dem von der UdSSR produzierten sozialistischen Realismus identifizieren. Wir integrierten uns in die Bewegung des neuen lateinamerikanischen Films, die ihre Kraft aus dem Kampf um die endgültige Befreiung unseres Kontinents schöpfte.

Im Sozialismus verschwinden die Gegensätze nicht. Es gibt Konflikte, aber weniger antagonistisch. Unsere Gesellschaft entwikkelte sich im Innern unter widersprüchlichen Situationen. Aber sie muss gleichzeitig antagonistischen Situationen von außen widerstehen. In unserem Fall sind Reibungskämpfe keine Machtkämpfe. Brecht behauptete: Theater ist Theater. Wir dürfen auch sagen: Film ist Film. Bei beiden Medien handelt es sich nicht um die Realität, sondern um Fiktionen, die uns helfen, die Realität besser zu verstehen. Vorzugeben etwas zu sein, was sie nicht sind, erscheint befremdend. Man muss den Naturalismus ablehnen, um eine vom ästhetischen Standpunkt her produktive Beziehung zu dem Zuschauer zu schaffen. Es hat überhaupt keinen künstlerischen Wert, wenn man für einen Film Millionen Dollars ausgibt, um eine Epoche darzustellen, wenn es der dahinter stehenden Idee zum Nachteil gereicht. Denn der Naturalismus hat sich auch in der Darstellung bzw. Rolle bemerkbar gemacht. Die Schauspieler, meinte Brecht, ahmen Gefühle nach, wie der Naturalismus die Wirklichkeit nachahmt. Wenn im Leben Fühlen und Denken nicht getrennt sind, können sie auch in der Darstellung nicht getrennt sein. Er behauptete auch, wir erfinden keine Charaktere, um sie in einer Geschichte unterzubringen, sondern wir machen eine Geschichte mit den Charakteren.

Brecht verlangte bei der Darstellung den berühmten V-Effekt, die Verfremdung. Im Unterschied zu Stanislawski, der die Identifizierung mit den Charakteren vorschlug. Diese Verfremdung trug dazu bei, den kritischen Geist der Schauspieler zu aktivieren. Der Schauspieler vergisst niemals, dass er Schauspieler ist und nicht die gespielte Person. Bei Stanislawski werden alle Faktoren der Hauptidee, dem Hauptziel des Werkes untergeordnet. Darstellung, Szenografie, Kostüme, Schminke, Musik sollen nicht dem Regisseur dienlich sein, sondern – genau wie dieser selbst – ihren Sinn in der Hauptidee finden. Diese Mittel sollen keine dekorative Funktion erfüllen, sondern Bestandteil der Dramaturgie sein. Das schließt ihre Eigenständigkeit nicht aus. Eine neue Dramaturgie beim Film, eine nicht entfremdete, belebt den kritischen Geist des Zuschauers wieder, indem er Freude verspürt, nicht nur, weil sie ihn seine Emotionen empfinden lässt, sondern vor allem, weil sie ihm zu einem Erwachen seiner Intelligenz verhilft.

Das ist die Dramaturgie, die die Lehren von Brecht benutzen kann, auch wenn einige Brecht für altmodisch halten. Es ist die traditionelle Haltung derer, die künstlerische Bewegung immer als Mode betrachten. Brecht ist aber keine Mode. Er ist nie in Mode gewesen, weil er nie eine Mode war. Seine Kunst, seine Ideen, seine Gedanken markieren einen Wendepunkt in der Weltkultur. Und wie alle Klassiker wird er immer gewärtig sein, wenn es rechtmäßig von ihm gefordert wird.

Theater ist das Produkt eines langen kulturellen Prozesses. Das ist nicht der Fall beim Film. Versklavt durch ein unerbittliches Geschäft. Der Film hat nicht dieses künstlerische Experimentierniveau wie das Theater. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass heutzutage der Film unter den Künsten am meisten zurückgeblieben ist. Das verdient der Film nicht. Der Film ist als neue Technologie entstanden durch die Erschütterung des traditionellen Kunstbegriffs. Potentiell bleibt der Film immer noch der Träger einer Verbindung zwischen gebildeter und populärer Kunst. Die Theorien von Brecht können noch viel dazu beitragen, dass der Film die technologischen Neuheiten nicht mit den künstlerischen Neuheiten verwechselt. Seine Theorien können eine positive Auswirkung auf eine größere Zukunft des Films haben. Brecht sagte in unvergesslichen Versen:

„Wir, die wir den Weg bahnten für Freundlichkeit, konnten nicht freundlich sein unter uns. Ihr jedoch, wenn die Zeiten kommen, wo der Mensch der Freund des Menschen sei, denkt an uns mit Nachsicht.“

An Bertolt Brecht zu denken heißt an einen Künstler zu denken, der nicht aufgehört hat, ein politisch denkender Mensch zu sein. Der die Idee ablehnte, dass die Kunst mehr sei, wenn sie sich nicht in die Politik mischt. Der nie akzeptierte, gestückelter Mensch zu sein. In seinem unerschöpflichen Kampf für den Frieden, seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus, gegen dieses Naziregime, das nicht wenige begeisterte Freunde in Europa hatte, verarmte seine Kunst nicht. Im Gegenteil: Sie wurde für immer bereichert.

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