Müde, matt, marode?

Interview mit Andrea Nahles zur Lage der SPD

spw: Die Medien analysieren die SPD derzeit in der Dauerkrise. In den Umfragen tut sie sich schwer, die 30 % -Hürde zu überspringen. Hat sich die SPD müde regiert?
Andrea Nahles: Wir diskutieren auch hier in der spw seit Jahren über Mitgliederschwund, Verlust der Landesebene und programmatische Mattigkeit in der SPD. Das mediale Totenglöckchen wurde uns während dieser Zeit immer mal wieder geläutet. Das sollten wir nicht überbewerten. Aber es stimmt doch nachdenklich, wenn sich die SPD eine Serie von Pannen in Wiesbaden, Hamburg, Düsseldorf leistet, das klappt der Wissenstransfer nicht mehr , da stellt sich Burgkoller ein und da verliert die Partei den Draht zur Mehrheitsfähigkeit. Das sind mehr als Symptome. Wir müssen die SPD vor Ort wieder beackern und verlinken mit der Landes- und Bundesebene. Wir brauchen Aufbruch, Perspektive und Identifikation für eine gemeinsame Politik. Ich sehe aber in den letzten Monaten, dass die Landesvorsitzenden stärker auf der Bundesebene eingreifen, wir haben die höchsten Eintrittszahlen bei den Jusos seit Jahrzehnten. Damit kann ein neuer Anfang versucht werden.
spw: Auch beim Thema Familienpolitik lässt sich die SPD von der CDU die Butter vom Brot nehmen.
Nahles: Da wollen wir erstmal abwarten. Eine von der Leyen macht noch keinen familienpolitischen Sommer. Bei der Kita-Finanzierung wird es zum Schwur kommen - und ob sich von der Leyen da gegen die konservativen Kräfte auch in den Ländern durchsetzen wird, ist lange nicht entschieden. Es sieht offen gesprochen nicht so aus als ob sie wirklich Erfolg hat.
Wer ein klares Profil will, darf dem Streit nicht ausweichen!
spw: Aus der Programmdebatte, die jetzt mit den Regionalkonferenzen in die entscheidende Phase tritt, kommen auch nur matte Impulse.
Nahles: Naja, der große, alle überwältigende Impuls wird nicht allein über uns kommen wie der Weltengeist. Da müssen wir schon selber ran. Ich finde es übrigens bemerkenswert, dass auf der einen Seite - sowohl von innen aus auch außen- kritisiert wird, dass das programmatische Profil der Partei unklar bleibt, gleichzeitig der Programmdebatte aber mit so etwas wie Verachtung begegnet wird nach dem Motto: da wird nur geredet und gestritten, wo aber bleibt die politische Entscheidung?
Wer ein klares Profil will, darf dem Streit nicht ausweichen, weder innerhalb noch außerhalb der Partei. Das scheint in der politischen Arena manchmal etwas unter zu gehen. In der Programmdebatte zeigt sich, ob die Sozialdemokratie noch über eigene Ziele und Ideen verfügt, im Alltag der Regierungspraxis beweist sich, ob wir den Mut und die Kraft haben, sie auch konkret im Interesse der Menschen umzusetzen.
spw: Was sind die Themen, von denen Du Dir neue programmatische Kraft für die SPD wünscht?
Nahles: In den Regionalkonferenzen ist an vier Punkten deutlich geworden, wo wir besser und präziser werden müssen:
(1) Unsere Vorstellung vom "Vorsorgenden Sozialstaat" muss noch klarer heraus gearbeitet werden. Es geht hier auch um die Klärung materieller Ansprüche, um die gerechte Finanzierung des Sozialstaats. Das Modell der Bürgerversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung steht dabei für ein neues Sozialstaatsverständnis, das sowohl alle an der Finanzierung beteiligen soll, als auch stärker auf Prävention und Beteiligung der Betroffenen setzt.
(2) Es ist völlig richtig, dass wir die Bedeutung der Bildung stärker in den Mittelpunkt rücken. Da müssen wir dann aber auch konsequent sein und uns für die strukturellen Veränderungen in der Kinderbetreuung und der Bildung stark machen: z.B. Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung im ersten Lebensjahr, flächendeckender Ausbau der Ganztageseinrichtungen nicht nur in der frühkindlichen Betreuung, sondern auch im Schulwesen. Wir müssen die Aufteilung in verschiedene Schulformen überwinden. Wir müssen die Übergänge in die berufliche und wissenschaftliche, in die lebensbegleitende Bildung verbessern. Das sind nur einige Beispiele - und sie kosten viel Geld.
(3) Der SPD fehlt die Idee einer neuen "Wachstumskonstellation". Ich bin davon überzeugt, dass wir auch künftig mehr gesellschaftlichen Reichtum produzieren müssen, wenn wir alle gleichberechtigt an diesem Reichtum teilhaben lassen wollen. Aber Wachstum dekliniert sich in Zeiten von Globalisierungsdebatte oder Klimawandel natürlich anders als vor dreißig Jahren. Im Berliner Grundsatzprogramm gab es die Vorstellung von sozial und ökologisch ausgewählten Wachstumsfeldern. Ich will den Begriff der "Nachhaltigkeit" nicht überstrapazieren, aber ich glaube, dass wir etwa eine Industriepolitik brauchen, die auf energetische Nachhaltigkeit ebenso setzt wie auf die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das wird aber nicht gelingen, wenn wir dies allein den Marktprozessen überlassen. Überhaupt - Marktwirtschaft habe ich bis jetzt noch nie als sozialdemokratisches Ziel gesehen. Das will ich auch künftig nicht.
(4) Die internationale Dimension unserer Politik darf sich nicht allein in der Frage erschöpfen, ob und wo militärisch eingegriffen werden soll. Hier hat sich die Linke immer zu Recht der Herausforderung gestellt, zivile Instrumente zur Konfliktbewältigung in den Vordergrund zu stellen. Wir sollten uns nicht vor den Knoten schieben lassen, das eine gegen das andere auszuspielen. Wir müssen wieder stärker das ökonomische und kulturelle Auseinanderdriften zwischen den Weltregionen in den Blick nehmen. Und wir müssen die Europäische Union zu einem handlungsfähigen Akteur weiter entwickeln, dazu braucht sie m. E. auch eigenständige Finanzquellen.
Der Bremer Programmpunkt greift zwar vieles auf, es mangelt aber an der notwendigen Präzision, was das in Politik übersetzt bedeutet. Ursächlich dafür ist, dass die Autoren des Entwurfs sich gescheut haben zu benennen, was die aktuellen gesellschaftlichen Konfliktlagen sind. Das beginnt bei einer notwendigen Kritik des finanzgetriebenen Kapitalismus und endet bei der Benennung, wen wir für unsere Politik gewinnen wollen. Darauf aber kann eine linke Volkspartei wie die SPD nicht verzichten.
spw: Eine derart skizziert Politik braucht aber auch personelle Träger. Wie ist es damit bestellt?
Nahles: Wie gesagt: Die personelle Erneuerung der SPD vollzieht sich derzeit vor allem in den Ländern und auf der lokalen Ebene. Das geht nicht immer ohne Probleme. Aber auch hier gilt: nur wer sich auch in einen inhaltlichen Konflikt begibt, kann eigenes Profil entwickeln und dann andere überzeugen. Austauschbare Gesichter hat die Politik zu Genüge, sie werden auf Dauer nicht überzeugen.
Spw: Vielen Dank für das Gespräch.

Andrea Nahles, MdB (SPD), Mitglied im SPD-Präsidium und Vorsitzende des Forum DL21 e.V., lebt in Weiler.
Das Gespräch führt für spw Reinhold Rünker.

aus: spw 154 v. 16. März 2007