Vollbeschäftigung bleibt unser Ziel!

Die Sozialdemokratie muss Partei der Arbeit bleiben!

"Vollbeschäftigung" und "Normalarbeitsverhältnis" sind keine Ergebnisse marktwirtschaftlichen Wirkens. Sie mussten und müssen der kapitalistischen Verwertungslogik abgerungen werden.

"Die Integration aller Menschen in den Arbeitsmarkt ist Ziel sozialdemokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik" heißt es im Bremer Entwurf für ein neues SPD-Grundsatzprogramm. Auch wenn eingeschränkt wird, dass Brüche in der Erwerbsbiografie verstärkt auftreten werden, gibt die SPD das "Ziel der Vollbeschäftigung in Deutschland auch nach Jahrzehnten hoher Arbeitslosigkeit nicht auf. Uns geht die Arbeit nicht aus, im Gegenteil. Unsere Zukunft liegt in innovativen, hochwertigen Gütern und in mehr Angeboten und Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich. Je mehr Menschen in Arbeit sind, desto höher ist unser Wohlstand."
Diese programmatische Aussage ist insoweit bemerkenswert, als dass auch in der Linken jüngst wieder eine Debatte verstärkt stattfindet, die zu einer Abkehr vom Ziel der Vollbeschäftigung rät.
Das Ende der Arbeitsgesellschaft?
Die Debatte ist jedoch nicht neu, sondern seit bald 30 Jahren wird die These diskutiert, unserer Gesellschaft ginge die Arbeit aus. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Argumenten, die diese Behauptung stützen: die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sinkt in der Tendenz, die der offiziell als arbeitsuchend gemeldeten Personen hält sich trotz verbesserter Konjunktur bei 4 Millionen Menschen, nicht dazu gerechnet diejenigen, die sich in sozial-, arbeitsmarktpolitischen oder familiär bedingten Warteschleifen bewegen - die also einer eigenen Erwerbstätigkeit nachgehen würden, wenn sie ein entsprechendes Angebot hätten.
Das "Normalarbeitsverhältnis" der Nachkriegsjahrzehnte erodiert, Berufsbiografien verlieren an Kontinuität, Phasen intensiver und (selbst)ausbeuterischer Erwerbstätigkeit wechseln sich ab mit Phasen von Bildung und Arbeitslosigkeit. Das auf Grundlage des Normalarbeitsverhältnisses aufgebaute Sozialversicherungssystem scheint diesen Veränderungen nicht Schritt halten zu können.
Aber ist es angesichts der Fülle von Überstunden und unbezahlter Mehrarbeit, Schließung eigentlich rentabler Produktionsstätten im Zuge von Unternehmensfusionen, offensichtlicher Vernachlässigung öffentlicher Bauten und Einrichtungen, nicht erfolgter technischer Innovationen, unbefriedigter privater und öffentlicher Bedürfnisse in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Bildung und Umwelt, usw. usf nachvollziehbar, warum es nicht möglich sein soll, auch in Zukunft so viel Arbeitsplätze zu haben, dass Massenarbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft werden kann?
Im Kern haben wir es m.E. heute weniger mit einer Krise der Arbeitsgesellschaft zu tun, der die Erwerbsarbeit ausgehen würde, sondern mit einer Krise des klassischen "Normalarbeitsverhältnisses": auch wenn heute noch die Mehrheit der Beschäftigungsverhältnisse eine mehr oder weniger geregelte 5-Tage-Woche mit auskömmlicher Vergütung unter an Tarifverträgen orientierten Bedingungen auszeichnet, sind die "Ausfransungen" v.a. für berufliche NeueinsteigerInnen und Beschäftigte über 50 Jahre so gravierend, dass prekäre Beschäftigung zunehmend den Erwerbsalltag bestimmt.
"Vollbeschäftigung" und "Normalarbeitsverhältnis" sind keine Ergebnisse marktwirtschaftlichen Wirkens. Sie mussten und müssen der kapitalistischen Verwertungslogik abgerungen werden, sie waren Ergebnisse gewerkschaftlicher und politischer Kämpfe. Arbeit unter den obwaltenden Bedingungen ist immer auch entfremdete und ausgebeutete Arbeit. Das gesellschaftspolitische Wirken der Sozialdemokratie war jedoch immer darauf ausgerichtet, Entfremdung und Ausbeutung in der Erwerbsarbeit - dem gesellschaftlichen Austausch der Reichtumsproduktion - zu überwinden, Dies ist auch der gesellschaftsüberwindende Impetus - nicht die Überwindung der Erwerbsarbeit und Schaffung eines Paradieses, in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Wer diesen gesellschaftspolitischen Anspruch aufgibt, gibt den gestalterischen Anspruch der Sozialdemokratie insgesamt auf.
Grundeinkommen, Bürgergeld und Teilhabergesellschaft
In den letzten Jahren gewinnen Diskussionen an öffentlicher Wahrnehmung, die durch die Einführung eines Grundeinkommens oder Bürgergeldes den sozialpolitischen Knoten durchschlagen wollen und die Gesellschaft der "Freien" und "Gleichen" bereits unter kapitalistischen Verhältnissen verwirklichen wollen. Die Beweggründe der Akteure sind sicherlich unterschiedlich. Während früher viele VertreterInnen des Konzeptes eines bedingungslosen Grundeinkommens aus einer kapitalismuskritischen Tradition kamen und das Ziel verfolgten, durch das Grundeinkommen dem Einzelnen mehr Autonomie zu ermöglichen, sich gegen die kapitalistische Ausbeutung zu wehren und für eine lebenswertere Umwelt einzutreten, versammeln sich heute öffentlich wahrnehmbarer Apologeten des freien Marktes unter dem Motto: bedingungsloses Grundeinkommen für alle. Letztlich verbirgt sich dahinter aber ein Abbau des Sozialstaats durch Stilllegungsprämie für diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, derzeit auf dem Arbeitsmarkt keine Aussicht auf eine auskömmliche Beschäftigung haben.
Gerne wird die Gewährung von "Bürgergeld" damit garniert, dass sich seine EmpfängerInnen künftig - dem Zwang zur Erwerbsarbeit enthoben -gesellschaftlich nützlichen Aufgaben widmen können: der Pflege kranker Angehöriger etwa, der Betreuung gemeinnütziger Einrichtungen, etc. Proklamiert wird die Befreiung von der Erwerbsarbeit durch das bedingungslose Grundeinkommen und die Freiheit in einer selbstbestimmten Eigenarbeit, die doch im Grunde oft nichts anderes ist als die Privatisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Aufgaben.
Unterschätzt wird oft auch, dass über Erwerbsarbeit nicht nur eine finanzielle Zuweisung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfolgt, sondern auch das Selbstwertgefühl und die Respektabilität des eigenen Lebens vermittelt wird. Wer etwas mit seiner eigenen Hände Arbeit (seiner Intellektualität, seiner Kreativität, etc.) schafft, was für Dritte einen auch materiellen Wert hat, verfügt über ein anderes Selbstbewusstsein und kann sich eine andere Lebensperspektive eigenständig aufbauen als jemand, der über die Zahlung eines bedingungslosen Grundeinkommen zwar nicht unbedingt materiell verarmt, aber diese Zahlung eben nicht durch einen eigenen Austauschprozess mit seiner Umwelt erhält. Selbstwertgefühl und Respektabilität sind keine Attribute, die im stillen Kämmerlein entstehen, sondern nur in der erfolgreichen Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umfeld.
Durch den Verzicht auf bedarfs- und lebensphasengerechte Sicherung sozialer Risiken würde zudem ein wichtiger gesellschaftspolitischer Gestaltungsanspruch jenseits der Marktmechanismen aufgeben. Die vorgeblich transparente und gerechte, weil einheitliche, Transferzahlung an alle gleicht bei weitem nicht aus, dass viele mit schlechteren Ausgangsbedingungen "in den Markt" entlassen werden, als diejenigen, die bereits in einem materiell und kulturell starkem Umfeld aufwachsen. Dieses Missverhältnis wird durch die Zahlung eines Bürgergelds oder die Verzinsung aus einem "Bürgerstartgeld" ("Teilhabergesellschaft") nicht aufgelöst.
Und schließlich nicht zu vergessen: Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens fördert natürlich die Ausdehnung eines Niedriglohnsektors und wird einen erheblichen Druck v.a. auf die unteren Lohngruppen haben. Dann profitieren aber nicht in erster Linie erwerbsarbeitslose Personengruppen, sondern die Arbeitgeber, die keine auskömmlichen Löhne mehr zahlen müssen, da sie darauf verweisen werden, dass ihre Beschäftigten aufgrund des bedingungslose Grundeinkommen lediglich eine zusätzliche Verbesserung ihres doch bereits gesicherten Lebensstandards anstreben.
Das Ziel bleibt "Arbeit für alle"
Arbeit ist die zielgerichtete, dauerhafte Tätigkeit zur Schaffung gesellschaftlichen Reichtums und zum Austausch zwischen den Menschen Die Sozialdemokratie war und ist die politische Partei dieser arbeitenden Menschen. Sie ist nicht die Besitzstandswahrerin derjenigen, die für ihre Arbeit ein auskömmliches Einkommen erzielen, sondern tritt auch für die Menschen ein, deren Arbeitskraft nicht genutzt wird, obwohl sie einen Beitrag zur gesellschaftlichen Reichtumsproduktion leisten möchten. Die Sozialdemokratie ist auch eine Bewegung, die auf die Gemeinschaft setzt. Die sozialdemokratischen Grundwerte "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" sind nicht lediglich ideelle Werte, die sich jedes Individuum für sich zurecht legt, sondern ergeben erst in ihrer gesellschaftlichen und dabei durchaus konflikthaften Ausprägung ihre politische Sinnstiftung.
Es gibt heute zuwenig sozialversichungspflichtige Beschäftigung, zweifellos. Und dass es in Zukunft tatsächlich für jeden, der eine Erwerbsarbeit sucht, auch einen Vollerwerbsarbeitsplatz geben wird, kann seriös nicht versprochen werden. Dennoch ist es sinnvoll und lohnenswert, am Ziel "Arbeit für alle" fest zu halten: Arbeit ist die Grundlage für gesellschaftliche Reichtumsproduktion. Über Arbeit erfolgt in erster Linie die Zuweisung von sozialer und materieller Anerkennung, die dem menschlichen Bedürfnis nach konstruktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt entspricht.
Sozialdemokratische Politik muss daher meines Erachtens auch in Zukunft danach streben, eine Beschäftigungsperspektive für alle Menschen zu eröffnen. Dabei ist sicher nicht alles sozial und ökologisch sinnvoll, was Arbeitsplätze schafft. Gerade wer eine moderne Beschäftigungspolitik betreiben will, muss sie an ökologisch und sozial nachhaltigen Kriterien ausrichten. Klar ist dabei, dass es hier auch immer um Auseinandersetzungen um den richtigen Weg und die angemessenen Schwerpunktsetzungen geht. Auch sozialdemokratische Politik ist nicht frei von Zielkonflikten. Aber die SPD muss die grundsätzliche Weichenstellung vorzunehmen, die Beschäftigungsperspektive für alle im Blick zu behalten.
Soziale Grundsicherung muss Zukunftsperspektiven öffnen
Die unter dem Titel "Hartz IV" vermurkste Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe hätte die Chance bieten können, eine Grundsicherung zu entwickeln, die Zukunftsperspektiven eröffnet, statt den Ausstieg aus der strukturellen Benachteiligung zu verhindern. Die falsche Akzentsetzung auf "Fordern" statt "Fördern", unzumutbare Vermögensverwertungen und überzogene Anrechnungen zusätzlichen Einkommens haben die auch in der Linken ursprünglich positiv bewertete Zusammenlegung in ihr Gegenteil verkehrt.
Es käme daher darauf an, den eigentlichen Kern der sozialen Grundsicherung wieder frei zu legen - nämlich Phasen, in der eine Erwerbstätigkeit nicht möglich ist, durch eine soziokulturelle Existenzsicherung zu überbrücken und - soweit nicht Alter oder gesundheitliche Enschränkungen dem entgegen stehen - eine Perspektive in der Erwerbsarbeit zu eröffnen. Dafür muss ein Modus von "Fördern und Fordern" entwickelt werden, der auf der einen Seite individuelle Stärken und Schwächen produktiv aufnimmt, auf der anderen Seite die gesellschaftliche Erwartung, dass die Leistungsempfänger im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen gesellschaftlichen Beitrag leisten, befriedigt.
Möglicherweise wird es auch unter den hier genannten Bedingungen Menschen geben, die keine Erwerbsarbeit finden - oder auch keine finden wollen. Fest steht aber: die Einführung einer bedingungslosen Grundsicherung oder eines "Bürgergelds" führt auf ein gesellschaftspolitisches Glatteis. Verlieren würden diejenigen, die bereits heute keine ausreichenden Möglichkeiten haben, ihrem Leben auch durch eigene Arbeit eine Perspektive zu geben. Ihr Schicksal wird durch eine "Stillhalteprämie" besiegelt und ihre Existenz der gesellschaftskritischen Wahrnehmung enthoben. Doch so etwas kann niemals ein sozialdemokratisches Ziel sein.

Reinhold Rünker, Historiker, arbeitet als Journalist und Organisationsberater und lebt in Leichlingen, er ist spw-Chefedakteur

aus: spw 154 v. 16. März 2007