Riesenchance Rückbau Ost

in (05.04.2007)

Zu Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts war in der Bundesrepublik, besonders im neuangeschlossenen Ostteil, ein Zeichen weit verbreitet. Es zeigte einen steil

nach oben gerichteten dicken Pfeil in Schwarz-Rot-Gold, der zugleich den Anstrich zu einem großen fettgedruckten "A" bildete, das für das zukunftsfreudige Wort "Aufschwung" stand. Es schmückte Briefbögen, Plakate, Schautafeln, von der Regierung bezahlte Annoncen und ganze Zeitungsseiten und verkündete den nun in Angriff genommenen "Aufschwung", den in Ostdeutschland natürlich, eben den "Aufbau Ost". Dieser war nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft infolge der überstürzten Währungsreform und des beginnenden Wütens der "Treuhand" dringend nötig, wenn die Verheißung des "Kanzlers der Einheit" von den "blühenden Landschaften" doch noch Realität werden sollte. 17 Jahre danach breiten sich an vielen Orten im Osten, wo einst Industriebetriebe und die Wohnblöcke der darin Beschäftigten standen, wilder Flieder und Holunderbüsche, Brennesseln und Ackerschachtelhalm aus. Und wohin das Auge schaut, fängt es in diesem frühen Frühjahr zu blühen an - der Ackergoldstern und das Waldwindröschen zieren den Boden. Duftende blaue Veilchen verbreiten ihren Wohlgeruch, und an den Mauern verfallener ehemaliger volkseigener Betriebe leuchtet das erste Zimbelkraut. Die Landschaft blüht, nur der "Aufbau Ost" ist zum "Rückbau Ost" geworden. Seit 1990 sind mehr als 1,5 Millionen Bürger, vor allem die jungen, gut ausgebildeten, auf der Suche nach Arbeit in Richtung Westen gezogen. Eine weitere Million wohnt zwar (noch) im Osten, arbeitet aber schon im Westen. Ganze Landstriche, wie in Vorpommern, der Uckermark, der Prignitz, der Altmark, der Oberlausitz und im Mansfelder Land, veröden und verwandeln sich ins Altersheim Deutschlands.

Ein Grund zum Wehklagen ist das nicht. Im Gegenteil: "Wir sollten das als Riesenchance und nicht als Problem begreifen", meint zumindest Joachim Ragnitz, Experte für den Strukturwandel am Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Nach seiner Meinung braucht Deutschland solche "blühende Landschaften" als "ökologische Ausgleichsgebiete für den Klimawandel". Kleine Dörfer würden über kurz oder lang von der Landkarte verschwinden. Gewissermaßen: Retour à la nature! Und Rainer Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, bemerkt: "Die Menschen stimmen selbst seit der Wende mit den Füßen ab, wo die Zukunft solcher Landstriche liegt - in der Renaturierung." Rund ein Drittel der ehemaligen DDR könne getrost der Schöpfung zurückgegeben werden. Der Dritte im wirtschaftswissenschaftlichen Bunde, Thomas Straubhaar, Chef des Hamburger Weltwirtschaftsinstitutes, tritt dafür ein, den Prozeß der Entvölkerung nicht zu stoppen, sondern noch zu beschleunigen. Außerdem biete die Zweidrittelmehrheit der Großen Koalition die Gelegenheit, den Anspruch auf die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" aus dem Grundgesetz zu streichen.

Zu Wort kommen die genannten drei Verödungsexperten in einer der jüngsten Ausgaben der Hamburger Illustrierten Stern, die ihren Bericht mit den Schlagzeilen versah: "Laßt die Wölfe rein. Die Menschen gehen, die Natur erobert sich große Teile Ostdeutschlands zurück. Das ist nicht schlimm. Es hilft der Umwelt und spart Steuergelder." Das Blatt, das, einmal abgesehen von der Veröffentlichung einer weltberühmten Tagebuchfälschung, vorgibt, stets der Wahrheit auf den Grund zu gehen, verschweigt nicht, wem solche wundersame Entwicklung zu verdanken ist: der SED und dem Sozialismus. Bewiesen wird das unter anderem am Beispiel der Stadt Weißwasser, die "ein Kunstprodukt der Planwirtschaft" war. Zu DDR-Zeiten lebten da 39.000 Menschen, sie arbeiteten im Bergbau und in der Glasherstellung. Nach dem Zusammenbruch der Industrie packte die Hälfte von ihnen die Koffer. Als weiteres Beispiel dient das Städtchen Artern. Die Lage am Fuße des Kyffhäusergebirges schildern die Sternschreiber so: "Im Sozialismus war die Region künstlich proletarisiert worden - wie so viele Gebiete der ehemaligen DDR. Die SED erschuf eine ökonomische Scheinwelt, siedelte Industriearbeitsplätze an, weil es politisch opportun war. Ob ein Standort rentabel war, galt als zweitrangig. Viele Bürger Arterns schafften in der Kyffhäuserhütte, einer Landmaschinenfabrik, der Zuckerfabrik, den volkseigenen Möbel-, Schuh- und Knopfherstellern sowie in der kollektivierten Landwirtschaft." In der BRD aber ist es nicht mehr politisch opportun, Arbeitsplätze zu schaffen und für Vollbeschäftigung zu sorgen. "Die Scheinwelt ging unter, und die Werktätigen blieben zurück. Nun ist jeder Zweite ohne Job."

In der realen Welt des Kapitalismus arbeiten die Fachleute in den ostdeutschen Ministerien, wie der Stern zu berichten weiß, ungeachtet politischer Sonntagsreden bereits an Plänen für den weiteren "Rückbau Ost". Umstritten ist noch die Frage, wie ein einprägsames propagandistisches Zeichen dafür aussehen soll. Vielleicht ein großes fettes "R" auf schwarz-rot-goldenem Hintergrund als Doppelsymbol für die erfolgreiche "Rückeroberung Ost" und eben für den hoffnungsstiftenden "Rückbau Ost" = Renaturierung. Man könnte es auch Verwilderung nennen. "Laßt die Wölfe rein!"