Eine Debatte findet nicht statt

Canfora, Fülberth und der linke Abscheu vor der Demokratie.

Die Vehemenz und Einhelligkeit, mit der das linke Feuilleton zum Jahreswechsel 2005/06 darauf reagierte, dass der renommierte liberale Beck-Verlag die geplante Veröffentlichung eines Buches des italienischen Altphilologen und bekennenden Kommunisten zur Geschichte der Demokratie abgelehnt hatte, war beeindruckend. Luciano Canfora soll in seiner Kurzen Geschichte der Demokratie den Stalinismus verharmlost und die Errungenschaften der bürgerlich-liberalen Nachkriegsdemokratie verächtlich gemacht haben? Undenkbar und unverschämt, zeterten damals namhafte Vertreter des linken deutschen Geistes, allen voran Georg Fülberth und Otto Köhler in Konkret und Freitag. Sie sahen darin nicht nur einen Rufmord an dem vermeintlich großen Gelehrten, sondern auch den neuerlichen Akt eines quasi faschistoiden deutschen Revanchismus in der Tradition der 50er und 60er Jahre.
Die Blätter für deutsche und internationale Politik und die Junge Welt brachten Vorabdrucke des schließlich im Frühsommer 2006 im PapyRossa-Verlag erschienenen Werkes, Köhler einen weiteren, umfangreichen Beitrag in der JW. Konkret veröffentlichte zuerst eine längere Verteidigungsschrift Canforas als Buch und die dazu gehörige Einleitung Fülberths ebenfalls als Vorabdruck, bevor sie dem Beck-Cheflektor Felken die Gelegenheit gab, seine Entscheidung zu verteidigen, und Fülberth, darauf abermals zu antworten. Weitere Texte von Fülberth erschienen daraufhin im Neuen Deutschland und in den Marxistischen Blättern; andere Autoren äußerten sich im gleichen Sinne in Ossietzky und einigen linken Provinzblättern. "Niemand ist mehr aufs Hörensagen angewiesen", feierte Fülberth die Veröffentlichung der Canfora-Schrift und überhöhte sie zum neuen Standardwerk zur Geschichte der Demokratie und nannte sie "die historische Grundlegung einer Theorie der Demokratie".

Als daraufhin Ende August Tilman Vogt in Analyse & Kritik Canforas Buch erstmals von links kritisierte und feststellte, dass es einer kritisch-linken Demokratiegeschichte nicht genügen könne, stellte Canforas deutscher Adjutant jede linke Kritik provokativ unter Generalverdacht und watschte Vogt ebenso en passant ab wie die kritischen Nachfragen Gerhard Hanlosers in der JW vom Oktober 2006.

Die dritte Runde

Und während sich das Buch seinen öffentlichkeitswirksamen Weg in die großen etablierten Buchhandlungen bahnte, höhnte Konkret in zwei Editorials im Herbst 2006 über das "Schweigen", das das Feuilleton nach der Veröffentlichung befallen habe. Als dann jedoch, im Dezember 2006, zwei umfangreiche Auseinandersetzungen die gleichsam dritte Runde des ideologischen Kampfes um die Demokratie einläuteten, reagierte Konkret mit beredtem Schweigen. In der renommierten ("bürgerlichen") Historikerzeitschrift Geschichte und Gesellschaft verriss Jörg Baberowski Canforas stalinistische Sichtweise und in den (linken) Sozialistischen Heften (Sonderbeilage zur SoZ, Heft 12) veröffentlichte meine Wenigkeit eine nicht minder umfangreiche Auseinandersetzung über "Canforas Demokratieverständnis".

Auch ich habe dort nachzuweisen versucht, dass Canfora in der Tat ein direkter Apologet Stalins und des historischen Stalinismus ist, der buchstäblich jede Wendung von Stalins politischem Zickzackkurs mitmacht und für jede dieser Wendungen geschichtsphilosophisch überhöhte Rechtfertigungen liefert. Doch mehr noch ging es mir darum aufzuzeigen, dass Canfora gar keinen wirklichen Begriff davon hat, was Demokratie ist, bzw. von links her sein soll. Canfora schreibe die Geschichte nicht der Kämpfe um soziale, politische oder kulturelle Freiheit, sondern die Geschichte einer zunehmenden Abscheu vor der Demokratie und betrachtet sie lediglich als ein Mittel der Herrschenden, um die Beherrschten besser in die Irre zu führen. Als Mittel der Emanzipation komme die Demokratie, genauer: kommen demokratische Werte, Bedürfnisse und Formen, bei ihm nicht vor. Er betrachtet die Demokratie nicht als Verschwörung der Gleichen, sondern nur als Verschwörung der Herrschenden, als Demokratie von oben. In schlechter linker Tradition verabsolutiere Canfora die "soziale Demokratie" zur erziehungsdiktatorischen Herrschaft einer Minderheit, die sich um demokratische Formen nicht zu kümmern brauche. Doch wie will jemand zum radikaldemokratischen und sozialistischen Sturm auf die Zitadellen des Euro-Kapitalismus blasen, der sich darin gefällt, die stalinistisch-volksdemokratische Entmündigung auch Jahrzehnte nach deren verdientem Untergang zu rechtfertigen?

Auf meine Anfrage, ob nicht die Junge Welt (die immerhin eine prominente Rolle in der Debatte gespielt hatte) meinen Diskussionsbeitrag parallel veröffentlichen wolle, antwortete mir ihr Chefredakteur Arnold Schölzel im Dezember, er wisse nicht, "ob eine Canfora-Diskussion jetzt so wichtig ist, dass sie in der Tageszeitung stattfinden muss".

Keine zwei Wochen später begann jedoch der Freitag (1/07) eine solche Diskussion, als er zuerst eine verhaltene Kritik des Canfora-Buches von Rudolf Walther publizierte und dann eine Kritik Walthers (und entsprechende Apologie Canforas) durch Sabine Kebir und Andreas Wehr (Freitag 3/07). Als drittes wurde ich eingeladen, meine Kritik Canforas kurz zusammenzufassen und aufzuzeigen, warum ich das Buch für ein sachlich schlechtes und politisch kontraproduktives, ja geradezu ärgerliches Buch halte: "Aus der dialektischen Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Solidarität macht er [Canfora] antagonistische Gegensätze und fühlt sich entsprechend gezwungen, Freiheit und Solidarität zu streichen, um eine Gleichheit zu propagieren, in der natürlich bei näherer Betrachtung einige gleicher sind als gleich" (Freitag 5/07). Explizit unterstützt wurde ich dabei von Thomas Wagner, der ebenfalls Canforas autoritären Demokratiebegriff angriff und dessen Ideologiekritik zur stumpfen Waffe erklärte, "geeignet, jene zu entmutigen, die sich heute für eine Veränderung der Verhältnisse engagieren" (Freitag 8/07).

Über mehrere Ausgaben überboten sich daraufhin diverse Leserinnen und Leser mit emotionsgeladenen Schmähungen von "Jünkes Demokratie-Utopie" (7/07) und des "längst verschlissenen Stück ‘Trotzkisten entlarven Stalinisten‘" (7/07), sprachen von "primitivem Kalten- Kriegs-Niveau" und "ideologischer Einseitigkeit und Verbohrtheit" eines direkten Verteidigers westlicher Demokratie (8/07) und drohten mit Kündigung des Abonnements: "Westzeitungen gibt es genug" (10/07).

Diskussionsverweigerung

Den kuriosen Höhepunkt dieser Diskussionsverweigerung bot jedoch Georg Fülberth, der sich als einziger der diversen Canfora- Brüder im Geiste zu einer abschließenden Meinungsbekundung in Freitag 10/07 überreden ließ.

Hatte er noch im Sommer 2006 die Einseitigkeit der Debatte großspurig beklagt und mehrfach kundgetan, dass dieselbe nun erst, mit der deutschen Veröffentlichung des Buches, richtig eröffnet sei, lamentierte er nun, gleich zu Beginn seiner "Antwort", dass die Canfora-Diskussion "in der Bundesrepublik nun schon seit November 2005 statt[findet] ... Nach bald eineinhalb Jahren sollte man annehmen, alle Argumente seien vorgebracht." Nach dieser verblüffenden Wendung fährt er unmittelbar fort: "Vielleicht sollte man jetzt etwas ganz Konventionelles tun: erzählen, was in dem Buch drinsteht." Und es folgt, man höre und staune, die x-te Nacherzählung dessen, was er aus Canfora herausgelesen hat. Das war‘s! Fehlt es ihm an Platz oder an Gegenargumenten? Sollte ersteres das Problem sein, stellen wir ihm in den Sozialistischen Heften gerne ausreichend Raum zur Verfügung.

Wahrscheinlicher ist, dass die Diskussionsverweigerung ihre eigene Logik hat und auf den Zustand der deutschen Linken verweist. Im Angesicht bürgerlicher Demokratieaushöhlung in Theorie und Praxis, im Angesicht einer bürgerlich-liberalen Kritik des Realsozialismus von Seiten der PDS und deren zunehmender Integration in die Institutionen bürgerlicher Demokratie, formiert sich ein Teil der deutschen Restlinken, gleichsam als "Kraft der Negation", neu und meint, den ehemals realen Sozialismus sowohl historisch wie auch politisch-strategisch verteidigen zu müssen. Sie verliert damit jedoch nicht nur die Kommunikationsfähigkeit, sondern auch den Schlüssel zu ihrer politisch-intellektuellen Erneuerung. Denn glaubwürdig neu beginnen kann die deutsche Linke nur, wenn sie die schwierige, aber notwendige Dialektik von Demokratie und Sozialismus erneuert. Die Halbheiten der bürgerlichen politischen Emanzipation überwindet man dagegen nicht mit den Halbheiten realsozialistischer Emanzipation.

Unmögliche Freiheit

In der jüngsten (März-)Ausgabe der Zeitschrift Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung (sic!) geht der Canfora-Hype weiter: Es findet sich dort nicht nur ein nichtssagender Originalbeitrag von Canfora selbst, sondern auch ein Beitrag von Uwe-Jens Heuer über "Luciano Canfora und der Fortschritt [sic] der Demokratietheorie", in der dieser theoretisch zu begründen versucht, warum man als Linker von Demokratie nicht mehr reden sollte, allenfalls von "Demokratisierung". Seiner Weisheit letzter Schluss - Canfora sei Dank: "Im Interesse der Demokratisierung ... kann es auch liegen, Gewalt anzuwenden, Freiheiten einzuschränken. Die Behauptung, dass jeder Schritt allseitig demokratisch sein muss, ist eben nichts anderes als eine Phrase ... Aber totale Freiheit aller auf jeder Entwicklungsstufe dürfte für absehbare Zeit unmöglich sein."

Das ist immerhin ehrlich. Genauso ehrlich übrigens, wie Georg Fülberth, als er in Konkret 1/06 seinen ersten Beitrag zum Canfora-Buch mit einem Zitat von Peter Hacks (gerichtet an Hermann L.Gremliza) eröffnete: "Es freut doch sehr, einen Menschen zu treffen, der auch kein Demokrat ist." Warum ist er bei dieser Ehrlichkeit nicht geblieben?