Schweizer Zauberberg noch nicht eröffnet

Die seit Oktober 2005 an der Universität Basel in Vorbereitung befindliche Langzeitstudie SESAM ist Mitte März von der zuständigen Ethikkommission im Grundsatz gebilligt worden. Ein Scheitern des Projektes scheint dennoch nicht mehr ausgeschlossen: Die Auflagen der Ethikkommission haben es in sich, und wichtige Sponsoren wollen ihre finanziellen Zusagen überprüfen.

Ein sehr ambitiöses Unterfangen mit einer sehr aktuellen und wichtigen Fragestellung" sei das Forschungsprojekt, so der Vorsitzende der Ethikkommission beider Basel (EKBB), Hans Kummer, bei der öffentlichen Präsentation der Stellungnahme der Kommission.(1) Die Langzeitstudie mit dem Titel "Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health" (SESAM) könne im Grundsatz durchgeführt werden. Vor einer endgültigen Freigabe müssten lediglich noch einige wenige Auflagen erfüllt werden. So sei die bisher vorgesehene Information der ProbandInnen unzureichend; auch die Fragebögen, die die TeilnehmerInnen ausfüllen sollen, müssten überarbeitet werden. Andere Auflagen allerdings sind weniger leichtgängig. SESAM ist als Langzeitstudie konzipiert, die Zusammenhänge zwischen genetischen Dispositionen und Umwelteinflüssen mit psychischer Gesundheit beziehungsweise Krankheit herstellen soll und zu diesem Zweck 3.000 Kinder über zwanzig Jahre hinweg beobachten und untersuchen will, und zwar pränatal beginnend. Daneben sollen genetische und andere Daten der Eltern und Großeltern erhoben werden.(2) Dass Kinder über einen so langen Zeitraum Forschungsinteressen ausgesetzt sind, verlangt nach Ansicht der EKBB besondere Maßnahmen. So wird die Projektleitung dazu verpflichtet, eine unabhängige Begleitstudie zu finanzieren, die sich mit möglichen psychischen und sozialen Auswirkungen der Teilnahme an SESAM befasst. Deren Ergebnisse seien einmal im Jahr der EKBB vorzulegen. Dies ermögliche es, "in dem zwar unwahrscheinlichen, aber doch nicht auszuschließenden Fall von studienbedingten Konflikten oder Belastungen entsprechende Maßnahmen zu ergreifen", heißt es in der Stellungnahme der EKBB.(3) Um sicherzustellen, dass ein Mindestmaß an therapeutischer Verantwortung gegenüber kranken oder erkrankenden StudienteilnehmerInnen zum Tragen kommt, sei von der SESAM-Projektleitung darüber hinaus eine unentgeltliche Anlaufstelle einzurichten. Schließlich sei es "ethisch nicht vertretbar, dass das Untersuchungspersonal bei Sichtbarwerden einer psychischen Erkrankung oder im Fall einer akuten Krise (...) untätig zuschaut."(4) Insbesondere aber lehnt die EKBB "die Entnahme und Untersuchung der ge-nomischen DNA bei allen Versuchspersonen vor dem Erreichen der Mündigkeit" ab. Genetische Daten dürften erst dann erhoben werden, wenn ProbandInnen sich frei und informiert dafür entschieden haben, eine derartige Untersuchung zuzulassen. Schließlich könne "die Offenbarung prädiktiver, sensibler genetischer Informationen für das Kind zu einer lebenslangen Belastung werden (...), nicht auszuschließen sogar für seine Nachkommen."(5)

Etappensieg für den Protest

Die EKBB hatte ihr Votum am 19. März auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben. Ein nicht alltägliches Verfahren, werden solche Stellungnahmen doch normalerweise nicht öffentlich verkündet. An SESAM jedoch besteht großes öffentliches Interesse; seit im Herbst 2005 am Institut für Psychologie der Universität Basel Vorbereitungen für die Studie begannen, hält die gesellschaftliche Diskussion um das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zum nationalen Forschungsschwerpunkt erklärte Projekt an.(6) Erst im Februar diesen Jahres etwa fand eine viel beachtete Podiumsdiskussion an der Uni Basel statt. Der stellvertretende Direktor von SESAM, Alexander Grob, sah sich dort einem äußerst skeptischen Publikum ausgesetzt, das er nicht von SESAM zu überzeugen vermochte. Die Einwände und kritischen Fragen der etwa 200 Besucher wie auch der Moderatorin berührten vielfältigste Themen, etwa den Datenschutz, die wissenschaftliche Qualität des Forschungsansatzes oder die rechtliche Zulässigkeit der Forschung an nichteinwilligungsfähigen Kindern. Die öffentliche Kontroverse über das Schweizer Biobankprojekt ist nicht zuletzt vielfältigen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten geschuldet. So wurde ein Internetportal eigens zur Beobachtung der Aktivitäten im Rahmen von SESAM aufgebaut.(7) Der Basler Appell gegen Gentechnologie, der sich seit 1988 kritisch mit Entwicklungen in Biomedizin und Gentechnologie auseinandersetzt, hielt die Präsenz des Themas durch Presseerklärungen und Veranstaltungen in den Medien aufrecht. Für eine von der unabhängigen Nichtregierungsorganisation verfasste Petition gegen SESAM wurden binnen kürzester Zeit 12.000 Unterschriften gesammelt, die der EKBB im März 2006 überreicht wurden.

Ist nach dem Votum vor dem Verzicht?

"Das Votum der EKBB ist ein Etappensieg", so Gabriele Pichlhofer vom Basler Appell. Dass die Ethikkommission der Forderung entsprochen hat, Genanalysen bei Kindern zu verbieten, sei zwar durchaus ein großer Erfolg des Protestes gegen die SESAM-Studie. Fragwürdig bleibe aber beispielsweise die nicht verbotene Erhebung genetischer Daten bei erwachsenen StudienteilnehmerInnen. "Die Betreiber von SESAM können bisher kein überzeugendes Konzept zum Schutz dieser Daten vorweisen", so Pichlhofer. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Forschungsansatz der SESAM-Studie. Noch im Februar auf der Podiumsdiskussion an der Uni Basel beispielsweise hatte die Psychologin Ursula Walter auf die Besonderheiten psychischer Vorgänge hingewiesen: So seien seelische Krankheiten und ihre Definition kontext- und kulturabhängig; auch sei die Psyche das ganz Persönliche, Eigene eines Menschen. Hier mit simplen Korrelationen von Datensätzen zu arbeiten, sei reduktionistisch und überdies auch nicht seriös. Da die Forscher durch ihre Befragungen und Untersuchungen die Situation in den Familien beeinflussen können, entstünden keine objektivierbaren Daten. Die Studienleitung von SESAM dagegen meint, dass die Beobachtung nicht mehr Einfluss auf die Familien haben werde als der normale Alltag auch.(8) Nach dem Votum der EKBB können nun die angeblich für die Entstehung psychischer Erkrankungen so wichtigen genetischen Dispositionen bei den Kindern erst in knapp zwanzig Jahren und auch nur vorbehaltlich der Zustimmung der dann mündigen StudienteilnehmerInnen erhoben werden. Damit "stellt sich die Frage noch schärfer als zuvor, welche neuen Erkenntnisse SESAM eigentlich liefern soll", so Gabriele Pichlhofer. "Wir fordern deshalb die Projektleitung auf, endlich auf die Studie zu verzichten."

SESAM öffnet Hintertüren

So umstritten der wissenschaftliche Wert des Forschungsprojektes auch sein mag - rechtspolitisch kommt SESAM eine herausragende Bedeutung zu. Weil Kinder juristisch als nicht einwilligungsfähig gelten, die Teilnahme an der Studie aber keinerlei Nutzen für die einzelnen Individuen bringt, handelt es sich bei der Langzeitstudie um fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen. Deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit ist in der Schweiz heftig um-stritten. Zwar hat das Land die so genannte Bioethik-Konvention des Europarates unterzeichnet, in der diese Forschung erlaubt wird. Erst wenn die Schweiz sie ratifiziert, gäbe es aber eine rechtsverbindliche Grundlage für die fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen. Das käme den Vorstellungen der Regierung entgegen, die in dem derzeitig in der Planung befindlichen Humanforschungsgesetz diese Forschung erlauben will.(9) Die SESAM-Entscheidung der EKBB kann deshalb durchaus Türöffnerfunktionen übernehmen. Denn die Ethikkommission stützt ihr Votum explizit auf die Bioethikkonvention des Europarates. "So sehr wir den Entscheid der EKBB auch begrüssen, so bemängeln wir, dass sich die EKBB auf die Bioethikkonvention des Europarats beruft", so Gabriele Pichlhofer vom Basler Appell. "Wir lehnen fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen mit Nachdruck ab."

Sponsoren gehen auf Abstand

Einen Tag nach dem Entscheid der EKBB kündigte einer der wichtigsten Sponsoren von SESAM, das Basler Unternehmen Roche, eine Überprüfung der versprochenen Spende von sechs Millionen Franken an.(10) Kommt es zu einem Rückzug des Pharmamultis, fehlt ein Viertel des derzeitigen Budgets von SESAM. Auch der Schweizer Nationalfonds will prüfen, ob das Projekt noch dem Studiendesign entspricht, für das öffentliche Mittel zugesagt wurden. Für den Zeitraum 2005 bis 2009 hatte der SNF insgesamt 10,2 Millionen Franken bewilligt, von denen bisher in zwei Jahrestranchen jeweils 2,5 Millionen Franken bereitgestellt wurden. Dass bereits öffentliche Gelder für SESAM fließen, während die ethischen, rechtlichen, politischen und wissenschaftlichen Kontroversen um das Projekt noch in vollem Gange sind, hat der Basler Appell wiederholt kritisiert. "Wir fordern den Nationalfonds auf, keine öffentlichen Gelder mehr für ein unnützes und ethisch fragwürdiges Projekt zu verschleudern", so die Mitarbeiterin der Organisation, Gabriele Pichlhofer. Neben möglichen finanziellen Engpässen, die mit den Ankündigungen der privatwirtschaftlichen und öffentlichen Förderer verbunden sein können, ist schon jetzt absehbar, dass sich die Langzeitstudie durch die Auflagen der EKBB deutlich verteuern wird. So sind für die geforderte Begleitstudie wie auch für die einzurichtende Anlaufstelle zusätzliche Mittel notwendig. Darüber hinaus belastet eine weitere Auflage die Haben-Seite des SESAM-Haushaltes: Die EKBB untersagte der Projektleitung die Erhebung von Gebühren. Die Initiatoren der Studie hatten nämlich geplant, von den TeilnehmerInnen eine Bezahlung für Informationen über die Verwendung ihrer Daten zu verlangen.

Zweckoptimismus bei der Projektleitung

Zumindest in der Öffentlichkeit nehmen die Betreiber von SESAM die mit dem Votum der EKBB verbundenen Unwägbarkeiten gelassen. Man sei sehr froh, dass man nun beginnen könne, erklärte etwa der stellvertretende Direktor von SESAM, Alexander Grob, nach der öffentlichen Bekanntgabe der Entscheidung. Man werde die Auflagen erfüllen und bald mit der Rekrutierung von Schwangeren beginnen. Auch sei der Kern der Studie nicht gefährdet, da DNA-Analysen bei Erwachsenen erlaubt bleiben, so der Leiter des SESAM-Projektes Jürgen Markgraf. "Weil die Korrelationen mit Krankheiten sich ohnehin erst im Erwachsenenalter zeigen, können wir mit der Empfehlung der Ethikkommission gut leben."(11) Drei Wochen hat die Projektleitung Zeit, das Design der Studie den Auflagen anzupassen. Erst dann wird die EKBB das Projekt formal freigeben. Zudem müssen die Ethikkommissionen der anderen vier Kantone, in denen Teilprojekte von SESAM stattfinden sollen, ihr Votum abgeben.(12) Unabhängig von diesen Entscheidungen wird die Langzeitstudie aber auch weiterhin mit zivilgesellschaftlichem Protest rechnen müssen. "Der Basler Appell wird das Projekt weiter kritisch beobachten", so Gabriele Pichlhofer. "Erst einmal werden wir abwarten, ob SESAM die Auflagen erfüllen kann und wie das Projekt dann im Detail aussieht. Und wenn es nötig wird, leiten wir rechtliche Schritte ein." Uta Wagenmann ist Diplomsoziologin, langjährige Mitarbeiterin des Gen-ethischen Netzwerks und freie Journalistin und Autorin. Der Artikel basiert größtenteils auf den Darstellungen eines im Mitgliederrundbrief des Basler Appells gegen Gentechnologie "AHA!" Nummer 2/2007 erschienenen Textes von Gabriele Pichlhofer, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Organisation. Siehe auch www.baslerappell.ch Fußnoten:
  1. Die EKBB wurde vor sieben Jahren für die Regionen Basel-Stadt und Basel-Land eingerichtet; medizinische Forschungsprojekte in den hier ansässigen Kliniken und Universitäten, die Menschen einbeziehen, müssen der Kommission zur Genehmigung vorgelegt werden.
  2. Einbezogen werden sollen auch genetische Daten und Fragebögen der Eltern und der Großeltern der untersuchten Kinder. Zu den konkreten Vorhaben im Rahmen von SESAM vgl. den GID-Artikel von Katrin Lange: SESAM-Riegel gegen Krankheiten, erschienen im GID Nr. 173, Dezember 2005/Januar 2006, S. 40-42
  3. Vgl. Öffentliche Mitteilung zur Beurteilung der Studie "Swiss Etiological Study of Adjustement and Mental Health" (SESAM) durch die EKBB, 19.3.07, zugänglich unter www.ekbb.ch
  4. Ebda.
  5. Ebda.
  6. Der SNF ist eine privatrechtlich organisierte Stiftung, die im Auftrag der Schweizer Bundesregierung hauptsächlich die Grundlagenforschung in der Schweiz unterstützt; ein nationaler Forschungsschwerpunkt wird verstärkt mit öffentlichen Mitteln gefördert.
  7. Die "autonomen, skeptischen und ehrenamtlichen Beobachtungen und Notizen" von Sesam Watch sind zugänglich unter http://sesam.twoday.net
  8. Vgl. Andrea Masek: Forschung bei Kindern ist heikles Thema, Basellandschaftliche Zeitung, 13.2.07
  9. Dass die Diskussion um die Zulässigkeit der Forschung an Kindern eine weiter reichende Bedeutung für die Schweizer Gesetzgebung hat, sieht man auch in der Projektleitung von SESAM. "Wir halten mit der Studie für gewisse Dinge auch den Kopf hin", so etwa Alexander Grob von SESAM auf der Podiumsdiskussion an der Universität Basel im Februar.
  10. Vgl. Martin Hicklin: Nach "SESAM"-Entscheid: Steigt Roche jetzt aus?, Baseler Zeitung, 21.3.07
  11. "Wir wollen doch etwas Gutes tun", Interview mit Jürgen Markgraf, Aargauer Zeitung, 26.3.07
  12. Die EKBB geht davon aus, dass ihre Entscheidung von den Kommissionen der Kantone Bern, Zürich, Lausanne und Genf, in denen einige Teilprojekte von SESAM angesiedelt sind, bestätigt wird.