Meerjungfrauen und Macho-Cyborgs

Um queeres Lesen, Lehren und Leben ging es bei der Wiener Tagung "Queer Reading".

"Kaum ein Begriff ist während der neunziger Jahre in politischen Gruppen und akademischen Zirkeln so angekommen wie queer. Er ziert Partyplakate und Songtexte, Zeitschriften und Dissertationen. Wer an einer neuen Hoffnung für politische Protestbewegungen feilt oder das akademische Establishment angreifen will, wer einen Namen für persönliche Ausdrucksformen sucht, die nicht ins gängige Hetero-Geschlechter-Schema passen, aber auch wer einfach nur in sein will, kurz: wer auf der Suche nach etwas Neuem, Ungewöhnlichen ist, kommt an queer schwerlich vorbei." Mit diesem Zitat der Queer-Theoretikerin Annamarie Jagose eröffnet die Wiener Philosophin Gudrun Perko ihren Vortrag bei der Tagung "Queer Reading", die Anfang November an der Universität Wien stattfand. Trotz dieser Allgegenwart ist aber keineswegs klar, was mit dem Begriff queer eigentlich gemeint ist. Hätten die Werbeleute der sponsernden Bank mit ihm etwas anzufangen gewusst, wäre die Wahl höchstwahrscheinlich auf ein anderes Sujet ihrer Kampagne gefallen. So jedoch wirbt ausgerechnet die frischgebackene Hetero-Kleinfamilie in der Tagungsmappe "für eine schöne Zukunft".

Dass sich queer gegen die heterosexuelle Norm richtet, ist zumindest in der Scientific Community unbestritten. Ob dies seine vornehmliche Zielsetzung ist oder nur eine von vielen sein sollte, darüber herrscht aber auch hier Uneinigkeit.
Perko präsentiert in ihrem Eröffnungsvortrag drei mögliche Interpretationen des Wortes, das sich von der abwertenden Vokabel ("verrückt, seltsam, abnormal") zu einer empowernden und affirmativen Selbstbezeichnung gemausert hat. Zunächst wird und wurde er ihr zufolge einfach als Synonym für "feministisch" und/oder "schwul/lesbisch" gebraucht. Die zweite Variante des Gebrauchs schließt darüber hinaus auch Bisexualität und Transgender ein. Als dritte mögliche Verwendung des Begriffes nennt Perko die "plural-queere", eine Erweiterung, für die sie selbst plädiert. Queer wird so als politisch-strategischer Begriff eingesetzt, der grundsätzlich jede Form der Normabweichung bezeichnen kann. Dieser Einsatz erlaube es, auch gesellschaftliche Regulativa wie Hautfarbe, Klasse usw. mitzuerfassen und somit der Verknüpfung unterschiedlicher Diskriminierungsformen Rechnung zu tragen.
Kritik an dieser pluralistischen Auffassung formuliert vor allem die Sorge, dass der Begriff durch diese Öffnung sowohl an analytischer Schärfe als auch an politischer Schlagkraft einbüßen und gänzlich beliebig werden könnte.

Die Soziologin Sabine Hark spricht sich in ihrem Vortrag "Queere Theorie - eine ‚normale‘ Disziplin an deutschsprachigen Universitäten?" deshalb auch dezidiert für die Beibehaltung einer partikularen Perspektive aus. Queer müsse sich weiterhin in erster Linie gegen Heteronormativität richten. Dennoch ist auch Hark der Ansicht, dass die Zukunft von queer durchaus gerade darin bestehen könnte, "keine Zukunft zu haben", das heißt, dass sich seine Bedeutung je nach Kontext unweigerlich ändert.
Dies trifft insbesondere für die Akademisierung queerer Theorien zu. Ist
Institutionalisierung für die Tradierung und Vermittlung dieser Inhalte einerseits unerlässlich, birgt sie, wie bereits der Einzug des Feminismus in die Unis, immer auch die Gefahr des Verlustes bestimmter Wissensformen. Jener beispielsweise, die im außeruniversitären Aktivismus entstanden sind. Die von Hark aufgeworfene Frage, ob Queer-Theorien wirklich an die Unis gehören, bleibt demnach auch von ihr selbst unbeantwortet.

Queer Reading entschlüsselt jedoch nicht alleine machtvolle gesellschaftliche Normen. Dem Untertitel der Tagung "Queer Reading in den Philologien" entsprechend, widmen sich nach dem Vortragsblock der "Grundlagen" die folgenden "Anwendungen" auch der ganz konkreten Neulektüre literarischer Texte. Der des Märchens "Die kleine Meerjungfrau" von Hans Christian Andersen zum Beispiel. Der Literaturwissenschaftler Andreas Kraß liest es als Allegorie der Transsexualität, die Menschwerdung der Fischfrau als operative Geschlechtsumwandlung. In Abgrenzung zu Textinterpretationen, in denen die Homosexualität des Autors oder der Autorin zum zentralen Motiv erhoben wird, sollte queere Textanalyse für Kraß aber weder alleine die Suche nach "schwulen oder lesbischen Schattengeschichten" bedeuten, noch sollte sie sich auf das Begehrens der Verfasserin oder des Verfassers konzentrieren. Entscheidend sei vielmehr immer das Begehren des Textes selbst.
Nicht den Begehrlichkeiten von Autorschaft, sondern eben diesem Begehren des Textes selbst will auch die Literaturwissenschaftlerin Beatrice Michaelis folgen. Ihre Lektüre des Nibelungenlieds zeigt unterschiedliche Formen des (Ver-) Schweigens, verschiedene "Disartikulationsmodi", die allesamt daran beteiligt sind, die heteronormative Ordnung der Geschichte zu stützen, die gleichzeitig aber auch auf ihre Störungen und Brüche hinweisen.
Zentral ist für Kraß und Michaelis überdies die Rezeptionsgeschichte. Während Kraß auf die Gefahren der "pausbäckigen Hermeneutik" einer autorzentrierten Analyse aufmerksam macht, gibt Michaelis Beispiele für die literarische Tradition von Vergewaltigungsdarstellungen und ihrer trivialisierenden Deutung. Dagegen warnt die Kulturwissenschaftlerin Dagmar Fink in ihrem Vortrag "Lese ich Cyborg, lese ich queer?" auch vor den Fallstricken einer queeren Rezeption. Anhand des Sciencefiction-Romans "He, She and It" von Marge Piercy, der von großbusigen und breithüftigen Macho-Cyborgs und lesbischen Cyborg-Amazonen bevölkert ist, zeigt sie die Grenzen fiktionaler Geschlechterverwirrung. Denn auch die bleibt selbst in utopischer Literatur häufig auf Zweigeschlechtlichkeit reduziert.
Dennoch obliege es schlussendlich der Interpretation, in diesem Geschlechtermix queeres und damit emanzipatorisches Potential oder bloß klassische männlich/weiblich-Schemata auszumachen.

"Queere Praxisfelder" zeigen sollten die Workshops, die im Rahmen der Tagung stattfanden. Die Praktikabilität queerer Körperinszenierungen, beispielsweise jener von Stefan Krammer, die Präsentation queerer Wiener Projekte, der Workshop von Nadja B. Schefzig. Was Queer-Sein von Feministisch-Sein unterscheidet, war in letzterem ebenfalls Thema. Und damit auch erneut die Frage, ob es ein Begriff alleine tatsächlich leisten kann, sämtliche Weisen des aus der Reihe- und Rolle-Fallens zu benennen.
Aber vielleicht sind ja gerade diese begrifflichen Unklarheiten das Erfolgsrezept von queer.
Um Banken als Sponsoren zu gewinnen beispielsweise.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at