Ekstasen der Aneignung

in (12.06.2007)

Zum festen Repertoire an zwiespältigen Zauberworten politischer Theorien, die sich mit der Überwindung der Gegenwart beschäftigen, gehört auch der Begriff "Aneignung".

Im Kern handelt es sich bei einem bestimmten Typus linker, politischer Rede von "Aneignung" immer noch um die marxsche Vorstellung, dass sich die Arbeiterklasse, die von ihr verwendeten und hergestellten, aber nicht besessenen Produktionsmittel aneignet und damit in ihren Besitz bringt und so den Klassenkampf endgültig gewinnen und aufheben könnte. Auch wenn diese, an der Fabrik ausgerichtete Vorstellung und Praxis zu Zeiten Marx´ mit der Evidenz einer gesellschaftlichen Realität ausgestattet war, die heute viel komplizierter geworden ist, taucht auch schon in der marxistischen Annahme ein seltsamer kontra intuitiver Widerspruch auf. Warum geht Marx nicht vielmehr davon aus, dass sowohl das Produkt als auch die gesellschaftliche Realität dieser Aneignung selber wiederum von den Kapitalisten angeeignet werden können? Natürlich wusste Marx um die permanente Gefahr der Konterrevolution und kämpfte unermüdlich gegen die Finten und Masken der Bourgeoisie. Er konnte sich jedoch nicht von der Vorstellung lösen, dass sich am Ende die von ihm als geschichtlicher Drive angenommene, gesellschaftliche Realität des Klassenkampfs und damit die Widersprüche im Kommunismus endgültig aufheben lassen. Das heißt, dass es nichts mehr anzueignen gibt, da alle Produktionsmittel in einen kollektiven Nichtbesitz überführt wurden. Sie gehören jetzt allen und keinem: "(D)ie menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit [beginnt]." [1]

Warum es so nicht gekommen ist und worin sich Marx und andere nach ihm geirrt haben, lässt sich hier nicht darstellen. Man kann aber anhand der Frage nach den Gründen dieses "Scheiterns" andere Aspekte und die abstrakten Grundlagen des Konzepts der Aneignung erläutern. Wenn man von Aneignung spricht, oder sich etwas konkret aneignet, dann muss es bereits etwas geben, das sich aneignen lässt, und es stellt sich sofort die Frage, ob dieses Anzueignende nicht selber schon Produkt von Aneignungsvorgängen ist. Eine Aneignung wäre dann immer auch eine Rückaneignung, die nicht zwangsläufig von denselben Akteuren ausgeführt wird, sondern vielmehr eine Qualität dessen ausdrückt, was man Produktion nennt. Es gibt in diesem Sinne keine Produktion, die nicht auch eine Aneignung beinhaltet, auch wenn das nicht notwendigerweise bedeutet, dass in diesem Vorgang der/die BesitzerIn die Seite wechselt, denn Besitz ist ja dann selber nur eine bestimmte Form von dauerhafter, naturalisierter Aneignung. Marx hat diesen Aspekt der Produktion unter dem Begriff "General Intellect" geahnt, als er gezeigt hat, wie der Arbeiter durch den Arbeitsvorgang selbst in den "Besitz" von intellektuellen und manuellen Fähigkeiten kommt, die nicht nur eine Aneignung im Sinne von Wissen darstellen, sondern auch dazu führen, das sich bei fortschreitender Technisierung und Vernetzung der Produktionsabläufe, die selber wiederum ein Ergebnis von sozialen Kämpfen und Aneignungsvorgängen sind, auch so etwas wie eine schleichende Inbesitznahme abspielt, die die klare Trennung zwischen Besitzenden und Beherrschten zumindest in manchen gesellschaftlichen Bereichen verwischt oder sogar umkehrt. Aus dieser Perspektive lässt sich der Begriff der Aneignung nicht auf der ökonomischen Ebene und in der Immanenz der Produktionsverhältnisse festschreiben, sondern tendiert dazu, einmal ins Spiel gebracht, alle gesellschaftlichen Bereiche zu erfassen, bis hin zur Konstitution von Subjektivität und der sozialen Beziehungen, sowie der kulturellen Produktion.
Um diesen qualitativen Sprung zu erfassen, führt Jean-Luc Nancy in seinem Buch Die undarstellbare Gemeinschaft den Begriff der Ekstase ein, den er von George Bataille entlehnt, und kommt zu folgender Einschätzung: "Die enge Verbindung von Individuum und Kommunismus in einer Philosophie der Immanenz, die die Ekstase nicht wahrhaben will, ist jedoch kein einfaches Symmetrieverhältnis. Der Kommunismus ist mit einem äußersten Spiel, mit einer äußersten Souveränität, ja Ekstase verbunden, der das Individuum als solches unwiderruflich verborgen bleibt - dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass Marx in einem euphorischen Überschwang nicht eher verstummen kann, als bis sich jenseits der kollektiven Regulation der Bedürfnisse ein Reich der Freiheit auftut, in dem Mehrarbeit nicht mehr ausgebeutete Arbeit, sondern Kunst und Erfindung bedeuten würde. Diese Verbindung zur Ekstase aber bleib vage, verborgen, sie wurde oft genug selbst vom Kommunismus verkannt [Â…]; sie taucht blitzartig auf in den Ausbrüchen der Poesie, der Malerei, des Films ganz zu Beginn der Revolution der Sowjets, oder in Motiven, die Benjamin dazu bewegen konnten, sich Marxist zu nennen; [Â…]." [2]

Aus dieser Perspektive ist die Frage der "Aneignung" auch zwangsläufig eine Frage der Unterscheidung von Original und Kopie, und das gesamte theoretische Feld von Differenz und Wiederholung tut sich auf, das im Besonderen von dem französischen Soziologen Gabriel de Tarde am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert aufgemacht wurde, als er sich daran machte, das Zusammenspiel von Nachahmung und Erfindung zu untersuchen, und eine Mikro-Soziologie entwickelte, die sich die sozialen Vorgänge der Aneignung, Verschiebung und Weiterleitung, sozusagen unter der Lupe ansah. Seiner Auffassung nach werden Gesellschaften vielmehr von diesen unsichtbaren und äußerst fragilen Übergängen und Übertragungen strukturiert und nicht allein durch die Gesetze des Tausches und die ökonomische Infrastruktur. Der Soziologe Bruno Latour, ein großer Fan von Tarde, beschäftigt sich mit den aktuellen Konsequenzen dieser Sichtweise für den politischen Diskurs und der Frage einer möglichen Überwindung des Kapitalismus: "If capitalism remains `the impassable horizon of our time´, there is not much that one can do either for or against its expansion. ItÂ’s there, whatever we may think about it. If market organisations are fragile and complex arrangements that lack a deep infrastructure, they may be modified." [3]

An dieser Stelle wäre es interessant in die aktuelle, sehr kontroverse und komplexe Debatte um den Begriff der "Multitude" einzusteigen, wie er von italienischen Theoretikern wie Antonio Negri und Paolo Virno mit Bezug auf Spinoza entwickelt wurde, als einer theoretischen Figur, die in gewisser Weise den Anspruch erhebt, die sprachliche Ernte einer langen europäischen Tradition einzubringen, indem sie die Möglichkeiten der "totalen" Aneignung der Produktionsmittel und des politischen Raums durch ein "neues" revolutionäres Subjekt, eben der Multitude oder Vielheit, diskutiert. Das Seltsame an dieser Debatte ist, dass sie gerade vor dem Hintergrund einer scheinbaren "totalen" Rückaneignung (reappropriation) der seit den 1960er Jahren erkämpften Herstellung autonomer, sozialer Verhältnisse durch den Kapitalismus stattfindet. In der Gemengelage einer komplexen Verfilzung von Aneignung und Gegenaneignung sozialer Potenziale in der heutigen Welt, sehen diese Theoretiker, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Akzenten, den perfekten Nährboden für neue Möglichkeiten eines linksradikalen Projekts, das den Träumen von Marx nicht nur nicht unähnlich sieht, sondern eine bewusste theoretische Wiederaneignung seines politischen Horizonts darstellt. Paolo Virno spricht in diesem Zusammenhang von einem kapitalistischen Kommunismus, den die Multitude, laut Antonio Negri, nur noch vom Kopf auf die Füße stellen muss.
Ihre Kritiker sehen jedoch genau in dieser Verschränkung einen völlig haltlosen Utopismus am Werk, der in letzter Konsequenz die Linke wieder einmal in die Arme der gefährlichen Illusion einer endgültigen Aufhebung des politischen Antagonismus treibt. Jean-Luc Nancys Auffassung, dass die Immanenz zwischen Individuum und einem möglichen Kommunismus irreduzibel gestört und zwangsläufig von einer Ekstase heimgesucht wird, "sie taucht blitzartig auf in den Ausbrüchen der Poesie, der Malerei, des Films Â…", weißt in diese Richtung.
Die Frage ist, warum an dieser Stelle die Kunst ins Spiel kommt? Der Maler und Situationist Asgar Jorn formulierte das Verhältnis von Original und Kopie Anfang der 1960er Jahre in Bezug auf die Kunstproduktion und insbesondere die Malerei so: "dass es, wie auch immer, stets ein Original gibt, ja geben muss. Nur fühlt man sich moralisch gerechtfertigt, wenn man es geheim hält. Dieses Recht gibt es, seit die kreative Kunst sozusagen, ‚illegalÂ’ arbeitet, aber dann, wenn alle Künstler tot sind, dann kommt die Kunstgeschichte und ordnet alles nach dem Prinzip der Originalität." Roberto Ohrt kommentiert in seinem Buch Phantom Avantgarde dieses von ihm angeführte Zitat von Jorn mit dem lakonischen Satz: "Sie kommt, so muss man hinzufügen, inzwischen schon früher, und nicht immer geht sie nach dem Prinzip der Originalität vor." [4]

Mit Blick auf die so genannten Appropriation Art der 1980er Jahre, die von KünstlerInnen wie Jeff Koons, Louise Lawler, Sherrie Levine, Barbara Kruger, Cindy Sherman und Elaine Sturtevant auf die Spitze getrieben wurde und die sich meist mit den abstrakten Eigenschaften von Kunstwerken und des Kunstmarktes selbst beschäftigte, problematisiert durch den Akt der Aneignung der Warenlogik und anderen Kunstwerken, lässt sich sagen, dass sich in den 1980er Jahren das Verhältnis von Kunstgeschichte/Markt und Kunstwerk in Bezug auf die Originalität sogar umgedreht hat. Fundamentale Kategorien der Kunstwelt wie Autorschaft, Originalität, Kreativität, geistiges Eigentum, Signatur, Marktwert, White Cube, Geschlecht/Gender, Subjekt, Identität und Differenz sind jetzt nicht mehr äußerliche Faktoren (was sie natürlich nie waren), sondern wandern in die Objekte und Künstlersubjektivitäten selbst ein. Auch wenn die individuellen Strategien dieser KünstlerInnen sehr stark differierten, bewegten sie sich doch alle in dem gleichen Problemfeld, das Andy Warhol sich schon früher angeeignet hatte, nämlich die ideelle Grenze zwischen dem vermeintlich autonomen Kunstwerk (das immer auch eine angeeignete Kopie ist) und der Verwandlung in eine serielle Ware, eigenständig einzureißen und so den ekstatischen Charakter des Verhältnisses von individueller und gesellschaftlicher Produktion voll anzuerkennen. Dass Warhol am Anfang dieser Entwicklung (die eigentlich von Duchamp als Readymade "erfunden" wurde) die Factory wieder ins Spiel bringt, ist kein Zufall.
Die Situationisten, namentlich Guy Debord und Asgar Jorn, träumten in den 1960er Jahren noch davon, die spektakuläre Aneignung der Lebensverhältnisse durch die Warenlogik mit der Verbindung von Anti-Kunst und radikaler Praxis zu stören. Als dies nicht gelang machte sich Debord unsichtbar. Immer peinlich darum bemüht, jede Aneignung und Vereinnahmung von Seiten der Feinde im Keim zu ersticken, bereitete Debord diesen Schritt schon in den 1950er Jahren in seiner berühmten Aussage vor: "Niemals werde ich Erklärungen geben. Nun bist Du allein mit all unseren Geheimnissen." An der Appropriation Art lässt sich im Nachhinein studieren, wie auch der Versuch, durch affirmative Aneignung eine Demystifikation zu erreichen, indem man das offene "Geheimnis" der Originalität und Singularität preis gibt, nichts an Boden zu gewinnen ist, es sei denn man feiert den Verkauf dieser Affirmation wieder als Originalität.

[1] Karl Marx: Das Kapital, Bd. III, Berlin 1973, S. 828.
[2] Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988.
[3] Bruno Latour: Never too late to read Tarde, Oktober 2004
http://www.bruno-latour.fr/presse/presse_art/GB-DOMUS%2010-04.html
[4] Roberto Ohrt: Phantom Avantgarde, Hamburg 1997.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Aneignen", Sommer 2007.