Unter ausgeblichener Flagge: die "Linke"

Die Linke aus West und Ost wird im Moment von der Ohnmacht eines abzusehenden Scheiterns aufs gemeinsame Lager gezwungen. Doch Vernunftehen sind manchmal ganz erfolgreich.

1789
Die Linke ist eine späte Frucht der Menschen Geschichte: ein Kind der Französischen Revolution von 1789 ff. Links saßen im Parlament jene, die die Revolution zu immer mehr Gleichheit und Gerechtigkeit weiterzutreiben gedachten, rechts versammelten sich die, denen es mit der Revolution genug war: die liberalen Abkömmlinge des Ersten und Zweiten Standes sowie die zu Wohlstand gekommenen des Dritten. Sie alle hatten die formalen Menschenrechte zu erringen getrachtet - samt Rechtsstaat, der sie ihnen garantieren sollte, und sie hatten beides auch erhalten. Ihr Sinnen war von Anfang an auf das Recht auf Eigentum, seinen Schutz vor staatlicher Willkür sowie auf die Freiheit von Handel und Gewerbe gerichtet gewesen. Häufig wird aber - nicht selten sogar absichtsvoll - vergessen, daß trotzdem die Rechte im Lager der Revolution stand.

Bis 1789 hatte ohne Zweifel die spätere Revolutions-Rechte weder an Aufruhr noch gar an Revolution auch nur gedacht. Doch als die in den Sinnverlust getriebenen Massen den sich morsch geherrschten Absolutismus beiseitefegten, waren sie ins Lager des Aufruhrs übergegangen. Sie hatten sich - so das Bild des Leipziger Gelehrten Manfred Kossok - in den Sattel des unruhig gewordenen "Pferdes" geschwungen und ihm die Richtung zu geben versucht.

Nur die Linke - am unangenehmsten der Club der Jakobiner - hatte sie dabei gestört, weil sie per Wohlfahrtsausschuß und Guillotine eine Herrschaft des demos zu erzwingen gestrebt hatte. Die äußerste Linke um Jacques Roux war sogar noch weiter gegangen: Ihr genügte die süße Schale der formalen Gleichheit nicht, sie wollte den herben Kern der sozialen Ungleichheit beseitigt sehen.

Die Jakobiner, die zuerst "Jakobiner mit dem Volke" gewesen waren, hatten sich - wie ein späterer Jakobiner, gebürtig aus Simbirsk, durchaus richtig erkannte - schnell zu "Jakobinern ohne Volk" gemordet und waren am Ende selbst vom Pariser Volk aufs Schafott geschickt worden. Für den Simbirsker jedoch kein Grund, das Drama nicht zu wiederholen. In die Geschichte eingegangen ist der Mann mit den vielen Pseudonymen unter dem Namen Lenin.

An der Wiege der Linken stand ein Korb, in den der Kopf von Marie Antoinette fiel. Jahrtausendelang hatten die herrschenden Minderheiten, soweit sie an der Herrschaft bleiben wollten, zur Gewalt gegriffen und sich stets aufs neue die Mehrheiten unterworfen. Im Sinne der Herrschenden war das meist eine Zeitlang gut gegangen. An den Jakobinern konnte man lernen, daß für die Emanzipation von Ausbeutung und Unterdrückung dieses Modell untauglich ist: Sie hatten sich im Namen der Mehrheit in die Minderheit begeben, waren aber nicht bereit gewesen, ihre Gleichheitsansprüche aufzugeben und in eine traditionelle Gewaltherrschaft - mit allen erprobten Mitteln, mit denen sich Ungleichheit stabilisieren läßt - zu wechseln.

Ihr Erbe, Napoleon, ging da pragmatischer vor. Via Code civil so viel Gleichheit wie möglich, via Kaisertum so viel Ungleichheit wie nötig, läßt sich als seine unausgesprochene Maxime erkennen. Doch auch diese Geschichte lief aus dem Ruder und mündete in einem größenwahnsinnigen Imperialismus. Das Ende ist bekannt.

Trotzdem war die Revolution zum Geburtshelfer für die nächste Welle an Entwicklung geworden. Dem bürgerlichen Zeitalter, das 1776 auf dem amerikanischen Kontinent begonnen hatte - in einer gegen die britische Krone gerichteten antikolonialen Revolution mit der Unabhängigkeitserklärung der Nordenglandstaaten, gefolgt von den Bill of Rights -, war mit der Revolution der Franzosen Unumkehrbarkeit zugewachsen. Vom alten Paris - und keineswegs vom jungen Washington aus - begann es seinen Siegeszug um die Welt.

Das Kapitel "Linke" wäre an sich spätestens mit Waterloo erledigt gewesen, denn die Konstellation von 1792 hatte sich aufgelöst. Doch da vieles, was einst als Tragödie sein Ende fand, sich als Farce wiederholt, borgte sich die nächste Generation an Revolutionären - sich ihrer Ansprüche und damit ihrer selbst unsicher - wenn auch nicht die Jakobinermütze, so doch den Platz links im Revolutionsparlament. Und der, der den Zusammenhang zwischen Tragödie und Farce erkannt hatte, setzte sich an ihre Spitze; sein postum von Karbunkeln gereinigter Rücken verdeckte lange Zeit die großen Tragödien, die das 20. Jahrhundert brachte - die Farce aufs Ganze steht uns möglicherweise noch bevor.

1848
Sechzig Jahre nach dem Schleifen der fast leeren Bastille kam in Deutschland 1848 die Revolution erst gar nicht richtig in Fahrt. Jene Kräfte, die in Frankreich 1789 ff. die Revolutionsgewinner und -gewinnler, also die Rechten gewesen waren, hatten sich von Anfang an ins Lager der Konterrevolution gestellt. Denn wesentliche formale Menschenrechte hatten die preußischen Reformen ihnen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gebracht. Wozu also noch Revolution? Als ihre Maxime war erkennbar: Lieber als Untertan auf den Knien vegetieren als auf der Guillotine den Kopf verlieren. Die Linke im Revolutionslager war deshalb eine Linke ohne Rechte geblieben - ohne die es natürlich keine Linke geben kann. Plötzlich war nun die Revolution links und die Konterrevolution rechts - letztlich eine völlig unsinnige Widerspiegelung der wirklichen Konstellation. Denn da befanden sich nicht mehr wie 1789 ff. zwei im selben Boot und rangen um dessen Kurs, sondern da trieb einer ohne Mast und Steuer allein im Sturm, bis sein Bötchen in die Gesellschaft versank, der die Konterrevolution schon längst wieder ihre Hegemonie aufgeherrscht hatte. Hier ging es nicht mehr um rechts oder links, hier ging es nur noch um oben oder unten.

Doch auch "gescheiterte Revolutionen" sind Geburtshelfer für eine nächste Welle an Entwicklung. Letzlich entband die Revolution von 1848, auch wenn sie die spätabsolutistisch geprägte Herrschaft nicht durch eine demokratischen Republik zu ersetzen vermochte, in den deutschen Landen die bürgerliche Klassengesellschaft.

Die Staatlichkeit dieser Gesellschaft formte sich in der Folge zu einem militaristischen Obrigkeitsstaat samt voll entfaltetem Untertanengeist um. Denn ein Krautjunker aus der Altmark hatte sich gesagt: Ehe wir die Revolution erleiden, machen wir sie selbst. Seiner Kaste rettete er wesentliche Teile der politischen Macht, indem er Napoleons Maxime umdrehte: so viel Ungleichheit wie nur irgend möglich, so viel Gleichheit wie absolut unvermeidbar. Kind dieser "Revolution von oben" wurde Preußendeutschland - ohne Österreich, "kleindeutsch ", nördlich, kalt, mit Bier statt Wein, einer dazu passenden barbarischen Küche und noch barbarischerer Musik: Marschmusik. Eine zündende Idee für dieses von oben herbeirevolutionierte Gebilde - ähnlich der, die die Franzosen mit "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit " zustandegebracht hatten - konnte Bismarck jedoch nicht vorweisen. Mit "etwas weniger Unfreiheit und Ungleichheit sowie nicht ganz so viel geheuchelter Barmherzigkeit" ließ sich halt kein Staat machen.

Deshalb stellte er dem - gewiß nicht sonderlich sympathischen - Nationalismus der Franzosen, der sich aus einem Akt der Befreiung speiste, einen verordneten Nationalismus gegenüber, dessen Kraftzentrum Militär und Militarismus bildeten. Die Dichter und Denker, seit Mitte des 18. Jahrhunderts Markenzeichen der deutschen Lande, verloren nun endgültig den Hauch an scheinbarer Hegemonie, der sie umflort hatte, an eine Kaste, die Mord im Staatsauftrag und Opfertod als höchste Lebensziele propagierte. Eine mediokre Figur wie Wilhelm II. brauchte das Ganze nur noch durch einen maßlosen Imperialismus zu ergänzen - und fertig war die nächste Revolution.

SPD
In der Depressionsphase nach der Revolution von 1848/49 schien das Kapitel "Linke" dann nun aber wirklich abgeschlossen zu sein. 1849 ff. waren die Revolutionäre von Ost nach West aus dem europäischen Festland regelrecht herausgekehrt worden; die meisten kamen erst an den Gestaden der Neuenglandstaaten wieder zum Stehen. Da erwachte plötzlich eine Klasse, die zuvor nur in der Werkstatt der Welt zu entdecken gewesen war: das Proletariat, die Arbeiterklasse, der 4. Stand. Kurzum Menschen, die ihre Arbeitskraft verkauften und die mehr Wert schufen, als sie zur Reproduktion ihrer eigenen Arbeitskraft benötigten, denen aber oft selbst das Minimum ihrer Reproduktionskosten verweigert wurde und die einer Vernichtung durch Arbeit nur entgehen konnten, wenn sie sich zusammen mit Leidensgenossen gegen Löhne wehrten, mit denen ihre Kosten beim besten Willen nicht zu decken waren.

Im katholischen Irland und im katholischen Polen, später auch im orthodoxen Rußland, entgingen viele Arbeiter der Selbstausrottung per Fusel oft nur dadurch, daß sie in die Neue Welt auswanderten. Im protestantischen Land der Dichter und Denker hingegen beglückte ab den 1850er Jahren die fünfte und sechste Garnitur der Dichter und Denker - Kleinbürgersöhne, die ihre durch den Verlauf der 1848er Revolution geschwächte gesellschaftliche und politische Position durch eine verbreiterte soziale Basis zu verbessern suchten: die Arbeiterschaft. Die wirklich schöpferischen Leute schlugen sich zu dieser Zeit vielfach außer Landes durch. Da die Offizierslaufbahn und der gehobene Staatsdienst den Proleten verschlossen waren, blieb ihnen als möglicher Pfad zur eigenen Wohlfahrt nur die Bildung. Deshalb hatten Arbeiter an den ganz bürgerlich daherkommenden Arbeiterbildungsvereinen nicht unerhebliches Interesse.

Doch durch das Tor dieser Bildungsvereine schlüpften bald auch die Remigranten der 48er Revolution sowie innere Emigranten samt jungen Revolutionären und infizierten die in Bewegung geratenen Arbeiter mit sozialistischem Gedankengut. Denn die neue kapitalistische Produktionsweise hatte in ihrer noch ungebremsten Brutalität spätestens mit dem Gründerkrach von 1873 Kapitalismusmüdigkeit ausgelöst. Eine sozialistische Arbeiterbewegung und ein sozialistisches Arbeitermilieu entstanden, eine in dieser Art einmalige Synthese zwischen sozialistischen Ideen und Arbeiterschaft - natürlich nicht der gesamten Klasse, nicht einmal ihrer Mehrheit, aber in der Öffentlichkeit durchaus dominant. Die, nicht zuletzt von Karl Marx verfochtene, These, daß das Proletariat auserwählt sei, die Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung wenn auch nicht gerade zu erlösen so doch zu befreien, schien glänzend bestätigt.

In Wirklichkeit geschah aber etwas anderes: Die Beleidigten, Erniedrigten und Verlassenen hatten binnen zwei Jahrzehnten um eine sozialistische Partei herum der Mehrheitsgesellschaft eine eigene Gesellschaft gegenübergestellt: vom Konsumverein bis zum Abstinenzlerbund, von der Unterstützungs- bis zur Bausparkasse, von den Gewerkvereinen, den späteren Gewerkschaften, bis zum Freidenkerbund für Jugendweihe und Beerdigung, von den Turnvereinen bis zum Volkshaus und der Freien Volksbühne, mit eigenen Verlagen, eigenen Zeitungen, eigenen Zustelldiensten - einmalig in der Weltgeschichte und so auch nicht wiederholbar.

Die Partei, die während des "Sozialistengesetzes" zwölf Jahre lang verfolgt und am Ende siegreich geblieben war, da sie im proletarischen Milieu schwamm wie der Fisch im Wasser, hatte - nicht zuletzt international - ein enormes moralisches Kapital angehäuft. Trotzdem handelte es sich um eine sozialistische Notgemeinschaft, in der freiwillig nur wenige verblieben. Da in der ersten und oft auch zweiten Generation der soziale Auf- und Ausstieg meist unmöglich waren, verlagerten sich die Hoffnungen vieler auf die nächste Generation, "die es einmal besser haben sollte".

Die Führer der Partei und der Gewerkschaften waren innerhalb weniger Jahre zu mächtigen Männern aufgestiegen, sie verfügten über gewaltige Ressourcen, wußten jedoch seit dem Sozialistengesetz auch, daß das von ihnen konstruierte Gebäude ständig gefährdet war. Die sozialistische Idee benötigten sie als ideologischen Bindekitt, mit dem sie ihrer Notgemeinschaft einen höheren Zweck zu verleihen suchten. Noch 1903 hatten sie nach einem langen Streit um Weg und Ziel - der sogenannten Revisionismusdebatte - einem revolutionären Weg zum Sozialismus ihren Segen erteilt. Privatim glaubten sie, seitdem sie großen Organisationen vorstanden, allerdings längst nicht mehr an ihn; noch weniger wünschten sie ihn. Statt dessen gedachten sie, ihre Minderheitsgesellschaft durch ständigen Zuwachs - nichts zuletzt an Parlamentssitzen - in eine sozialistische Mehrheitsgesellschaft zu verwandeln und so zum Sozialismus zu gelangen.

Von diesem Plan trennten sie sich jedoch um 1907, nach einem Wahldebakel. Sie hatten begreifen müssen, daß sie dabei waren, sich zu Tode zu siegen. Denn spätestens mit dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 waren die deutschen Eliten vom (vorerst verlorenen) Bewegungskrieg zum Stellungskrieg samt Zugeständnissen an proletarisierte Existenz und Seele übergegangen. Die Mehrheitsgesellschaft begann, wenn auch vorerst nur langsam, sich gegenüber den Unterprivilegierten zu öffnen. Die Kehrseite dieses sozialistischen Erfolges: In der Minderheitsgesellschaft verflog die Kapitalismusmüdigkeit; die Sehnsucht, zur Mehrheit zu gehören, wurde übermächtig. Das Nervengift des Totschlag-Nationalismus, das diese Mehrheitsgesellschaft zusammenhielt, kontaminierte nun auch das proletarische Milieu und wurde neben dem Sozialismus zu dessen zweiter ideologischer Konstante - ein verheerendes Amalgam.

Halb zog die Mehrheitsgesellschaft die Minderheit, halb sank sie hin. Strategisch befanden sich die proletarischen Führer nun auf der Verliererstraße; fortan setzten sie nicht mehr auf eine zu erringende sozialistische Mehrheitsgesellschaft, sondern auf eine Machtteilung - und die proletarischen Massen folgten ihren sozialdemokratischen Führern überall hin, bis zu den Schlachtbänken des Weltkrieges.

1917
Am zwölften Jahrestag des Petersburger Blutsonntags, man schrieb nach Julianischer Zeitrechnung den 9. Januar 1917 und befand sich im dritten Weltkriegswinter, sprach im friedlichen Zürich der Jakobiner aus Simbirsk, ein weithin unbekannter Emigrant, zu einigen unbekannten Emigranten, zumeist aus dem russischen Reich. Er stand wenige Monate vor seinem 46. Geburtstag, hatte sein Leben mit dem Herbeiführen der Revolution verbracht - was er sich hatte leisten können, weil er nicht einen einzigen Tag mit Erwerbsarbeit hatte vertun müssen - und konnte auch an diesem Morgen seine Depressionen nur schwer verbergen. Er und die anderen Alten würden die Revolution wohl nicht mehr erleben, aber die Jüngeren unter den Anwesenden sehr wohl, denn die Revolution werde in jedem Fall kommen. Sechs Wochen später brannte Rußland - der Sturz des Zarismus hatte dieser Berufsrevolutionäre nicht bedurft.

Nach ihrer Heimkehr an die Newa bekam die Rechts-Links-Unterscheidung noch einmal einen Sinn, schlug Lenin doch im Namen seiner Gruppierung, der Bolschewiki - jedoch ohne deren Wissen und erst recht ohne deren Zustimmung - die Hand, die ihm die erfolgreichen Revolutionäre des Februar 1917 bei seiner Ankunft entgegenstreckten, brüsk aus. Er kannte die These von Engels, daß die erreichbaren Ergebnisse einer Revolution nur zu sichern waren, wenn sie weit über das Erreichbare hinaus nach links getrieben wurde, so daß beim unvermeidbaren Rückschlag das Pendel im Bereich des Möglichen zu stehen kam, die Revolution also nicht auf ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen würde.

Doch das allein war nicht Lenins Antrieb. Für ihn waren die formalen Menschenrechte nur zu sichern, wenn sie um die sozialen Menschenrechte erweitert wurden - und zwar mit aller Konsequenz. Für ihn war die russische Revolution die Eröffnungsrevolution einer weltweiten Revolution zu sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit.

Die Rechts-Links-Konstellation im Lager der Revolution war aber keineswegs so naturwüchsig wie 1789 ff. Im Interesse seiner eigenen Handlungsfreiheit denunzierte Lenin Menschen, die zwar weitgehend seine Auffassungen teilten, aber auf der gleichen Augenhöhe bestanden, als "Rechte" und verlieh der Rechts-Links-Unterscheidung so etwas Künstliches und Willkürliches - eine Praxis, die mit anderen Begriffen ursprünglich die Inquisition inauguriert hatte und die eine neue Inquisition zeugen sollte.

Die Kriegsmüdigkeit und die Landfrage hatten fast alle Gebiete Rußlands in hellen Aufruhr versetzt; ab Sommer 1917 fand er seinen politischen Ausdruck am adäquatesten in den Forderungen der Bolschewiki, wodurch sie vom Rand ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen gelangten. In der im Bauernland Rußland sozial alles entscheidenden Landfrage hatten die Bolschewiki sogar ihre eigene Position - Verstaatlichung des Bodens - zugunsten der Massenstimmung - Bodenreform via Aufteilung und Schaffung einer breiten grundbesitzenden Klasse - aufgegeben. Damit hatten sie ihre "proletarische Revolution" mit einem Kleinstproletariat (zwei Millionen gegenüber 160 Millionen Bauern) taktisch in die Vorhand, strategisch aber in die Falle manövriert.

Ihre Machtergreifung im Oktober 1917 war eine Konsequenz dieser Konstellation und keineswegs ein Putsch; die Art, wie sie die einmal errungene Macht dann verteidigten, trug aber putschistischen Charakter. Sie hatten die Revolution nach links getrieben und die Lösung der Landfrage, die seit Frühjahr 1917 in den Dörfern vor Ort entschieden worden war, durch ihr Dekret über den Boden legitimiert. Doch entscheidend für sie war die "Weltrevolution", die einst Heinrich Heine in Anlehnung an Goethes "Weltliteratur" kreiert hatte. Die Bolschewiki verstanden sich als Vorkämpfer dieser Weltrevolution, die sie aber nicht von Heine, sondern von Marx geerbt glaubten: Sie sahen sich als Platzhalter und damit als jemanden, der eine Tür geöffnet hatte, durch die die eigentlichen Helden, die Revolutionäre des industriegesellschaftlich entwickelten Westens, erhobenen Hauptes noch schreiten sollten.

Mit der Machtergreifung der Bolschewiki hatte die russische Revolution ihren Zenit erreicht, von nun an konnte das Pendel nur noch zurück in Richtung Restauration schlagen. Um das wenigstens äußerlich zu verhindern, waren die Bolschewiki bereit, fast alles zu tun, sogar die formalen Menschenrechte, die einst in den Revolutionen Nordamerikas und der der Franzosen erstmals erkämpft worden waren, zu suspendieren.

Damit machten sie aber nur scheinbar "links" von den Jakobinern weiter. Denn die waren heroisch genug gewesen, Revolutionäre zu bleiben, also sich im Rahmen der Revolution zu halten: Statt die Demokratie ihrer Selbst- und Machterhaltung darzubringen, opferten sie sich im Namen der Demokratie selbst. Indem die Bolschewiki versuchten, der Revolution Dauer zu verleihen, verließen sie letztlich den Rahmen der Revolution - in Richtung permanentem Ausnahmezustand. Rückblickend meinte Trotzki, auch er habe sich an der Macht stets wie ein Illegaler bewegt.

Mit dem Auseinanderjagen der Konstituante im Januar 1918 gelang es den Bolschewiki zwar, die - jeder Revolution eigene - Fraktionsabfolge zu unterbrechen, aber keineswegs das Zurückfluten der Revolution zu verhindern. Indem sie die Fraktionsabfolge unterbrachen, waren die Bolschewiki gezwungen, die jeweiligen Funktionen Schritt für Schritt selbst auszuüben. Während in der aufsteigenden Phase der Revolution die Führung von rechts immer weiter nach links wandert und zumeist in jeder neuen Stufe eine neue Gruppe die Macht übernimmt, wandert sie in der absteigenden Phase von links nach rechts: von W. I. Lenin bis zu Boris Jelzin, der dann aber weder gewillt noch - so wie seine Vorgänger - in der Lage gewesen war, die von der Oktoberrevolution freigesetzte bürgerliche Gesellschaft zu unterdrücken.

Aus ihrem Selbstverständnis als Avantgarde einer künftigen Gesellschaft, in der alle Ausbeutung und Unterdrückung beseitigt sein sollten, zogen sie die ihnen für ihr Handeln hinreichend scheinende Legitimation. Die Frage nach Mehr- und Minderheiten erklärten sie zu formalem, wenn nicht gar konterrevolutionärem Unfug: Mit uns zieht die neue Zeit. Wenn möglich, mit der Mehrheit, wenn nötig; ohne sie, schlimmstenfalls gegen sie. Damit wurde der Lebensnerv zwischen Revolution und Demokratie, zwischen Sozialismus und Demokratie zerschnitten. Revolution und Sozialismus schlüpften in eine autoritäre Gestalt, die ihrerseits schnell übermächtig wurde und die beiden sich nur noch als zierenden Federschmuck zu "Kampfund Feiertagen" ans Haupt klebte.

Da im Ausnahmezustand formale Menschenrechte bestenfalls als jederzeit suspendierbares Zugeständnis existieren, konnten unter der Herrschaft der Bolschewiki auch die "Kinder" der formalen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft, nicht freigesetzt werden. Das einzige zivilgesellschaftliche Element, das sich unter diesen Bedingungen prächtig zu entwickeln vermochte, war eine Sumpfblüte: die organisierte Kriminalität.

Mit dem Ausschalten aller anderen revolutionären Strömungen hatte die Rechts-Links-Unterscheidung endgültig jeden Sinn verloren. Links wurde zur Nebelwand, hinter der sich die wahren Verhältnisse, ein neues Unten und Oben, verbargen. Die Revolution, die die formalen um die sozialen Menschenrechte hatte ergänzen sollen, doch das Gegenteil gezeugt hatte, war vor 1789 zurückgefallen.

In den Jahrzehnten bis 1991 durchlief die Herrschaft der Bolschewiki alle Phasen einer absteigenden Revolution - qualvoll: für sie selbst, für die ihnen ausgelieferte Gesellschaft und für alle, die gewillt waren, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein beleidigtes, erniedrigtes und verlassenes Wesen ist. Die Bolschewiki folgten dabei Schritt für Schritt stets sich selbst.

Mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes im Jahre 1921 entmachteten sie die Arbeiterschaft politisch - eine Entmachtung, die in Rußland bis zum heutigen Tage anhält. Mit der Neuen Ökonomischen Politik begann die Suche nach einer neuen sozialen Basis. Anfänglich sollte es ein Staatskapitalismus werden. Doch die Herrschaft der Bolschewiki wurde in Wirklichkeit zum bonapartistischen Tanz über den Klassen. In Land und Stadt entfalteten sich die kapitalistische Produktionsweise und die von ihr geprägte Klassen- und Sozialstruktur prächtig. Es war nur ein Frage der Zeit, wann die neuen Reichen der Herrschaft der Bolschewiki ein Ende gemacht hätten.

Dem kamen Stalin, Kaganowitsch und die anderen Exponenten der in den zwanziger Jahren entstandenen neuen politischen Klasse zuvor. Sie zerschlugen - beginnend mit der Kollektivierung, die keine Kollektivierung, sondern eine Versklavung war - Stück für Stück die Gesellschaft und ersetzten sie durch eine Militärgesellschaft. An die Stelle von Entwicklung setzten sie den "Aufbau", sie versuchten immer wieder, die zum Durchbruch drängenden Tendenzen zu unterdrücken und das "Wasser bergauf fließen zu lassen", letztlich also selbst Gott zu spielen. Terrorwelle um Terrorwelle ließen sie zu diesem Zweck über das Land rollen und Freund und Feind vernichten. Sie haben für "die Sache" niemanden geschont.

Marx und Engels hatten einst einen Kasernenkommunismus als Karikatur auf die Idee einer von Ausbeutung und Unterdrückung befreiten Gesellschaft antizipiert und sich darüber lustig gemacht. An der russischen Variante war jedoch überhaupt nichts lustig. Daß der Hitlerfaschismus noch schlimmer wütete und an den Völkern der Sowjetunion - und keineswegs am "Organisator des Sieges" - scheiterte, machte den russischen Kasernenkommunismus nicht besser.

Chruschtschow - auch er ein blutbesudelter Massenmörder von Stalins Gnaden - hatte immerhin so viel Vernunft, die Entwicklung zurück ins alte Flußbett zu lenken; der Kasernensozialismus wandelte sich in eine staatskapitalistisch verfaßte Gesellschaft. Am Ende warf die herrschende politische Klasse die staatliche Form des kapitalistischen Eigentums ab und privatisierte es. Jelzin war der Vollstrecker einer Entwicklung, die trotz allen Blutes und Terrors nicht hatte verhindert werden können. Er machte den letzten Schritt der Oktoberrevolution, deren Exponenten geglaubt hatten, eine bessere Welt zu finden, und in Rußland doch nur eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hatten freisetzen können.

1918
Auch in Deutschland stellte sich scheinbar noch einmal eine Rechts-Links-Konstellation her: durch eine kleine Gruppe um Rosa Luxemburg und Franz Mehring, die auf revolutionären Positionen verharrte und zu der nach Weltkriegsbeginn auch Karl Liebknecht stieß. Bald wurde sie Spartakusgruppe genannt. Ihre Anhänger sahen sich in der Tradition der Linken von 1789 ff. und in der von Karl Marx, lehnten aber das Avantgarde-Verständnis der Bolschewiki ab. Sie verstanden sich zwar ebenfalls - wie die Bolschewiki auch - als der aufgeklärteste Teil der sozialistischen Bewegung, glaubten aber, daß nur die Bewegung, nicht aber die Avantgarde die Entscheidungen der Bewegung treffen durfte. In der Entscheidung von Minderheiten "im Interesse von Mehrheiten" ("der Arbeiterklasse" etc.) sahen sie einen Pfad, auf dem die Mittel selbst bei allerbestem Willen der Akteure die Ziele nur verderben konnten.

Jegliche Geheimbündelei und jegliche Organisationsfixiertheit, hinter der sich immer noch stets der Zentralismus zu verbergen gewußt hat, waren ihnen fremd. Aber ausgerechnet sie gerieten während des Weltkrieges - nicht zuletzt durch das Zutun der Führung ihrer eigenen Partei, der SPD, der ein gutes Verhaltnis zum kaiserlichen Staat langst deutlich wichtiger war als zu den eigenen Leuten, zumal wenn sie an "veralteten Auffassungen" festhielten . in die Situation eines Geheimbundes, der immer tiefer in die Illegalitat hineingetrieben wurde. Frauen wie Bertha Thalheimer und Rosa Luxemburg kamen ins Gefangnis oder in "Schutzhaft", Manner an die vorderste Frontlinie; Ruckkehr unerwunscht. Gustav Noskes Zustimmung im Januar 1919 zur Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stand ganz in der Kontinuitat des vertrauensvollen Zusammenwirkens zwischen SPD- und Reichswehrfuhrung wahrend des Krieges und der Vereinbarung zwischen SPD-Chef Friedrich Ebert und Generalquartiermeister Wilhelm Groener vom 10. November 1918, die Revolution niederzuwerfen.

Das war moglich, weil die proletarischen Massen, die sich von ihren sozialdemokratischen Fuhrern sogar in den "Heldentod" hatten schikken lassen, 1918 zwar von einer Kriegs-, aber keineswegs von einer Kapitalismusmudigkeit befallen worden waren. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Genossen vermochten nicht, zwischen beidem zu unterscheiden, und zahlten dafur den hochsten Preis.

Im November 1918 wiederholte sich letztlich die Konstellation von 1848: Die Linke blieb im Revolutionslager ohne Rechte; die SPDFuhrung stand - wie 1848 das liberale Burgertum - aus gut verstandenem Eigeninteresse vom ersten Moment an im Lager der Konterrevolution. Diese âgescheiterte Revolutioná bescherte Deutschland eine fur ihre Zeit sehr demokratische Republik samt Frauenwahlrecht und Betriebsraten. Aber da diese Revolution wesentlich von einer schnell zerfallenden Soldatenbewegung getragen worden war, mangelte es dieser Republik an sozialer Verankerung.

"Links" war langst zur unsichtbaren Mauer geworden, die die emanzipatorischen Krafte von der Gesellschaft trennt. Das hatte sich schon erstmals 1914 gezeigt: in den wohlwollenden Reaktionen der SPD-Klientel auf die - eindeutig "rechte" - Entscheidung ihrer Reichstagsfraktion, den Kriegskrediten zuzustimmen. Die Rechts- Links-Konstellation spiegelte nun nicht einmal mehr scheinbar signifikante Konstellationen wider. Denn Umbruche in den Tiefen der Gesellschaft hatten schwerwiegende Umorientierungen bewirkt. Und das keineswegs nur in Deutschland: Josef Pil.sudski, Benito Mussolini und die ersten Nationalsozialisten . sie agierten im mahrischen Iglau . wechselten nicht zufallig von der Linken ins Lager der vorauseilenden Konterrevolution. Sie wusten, woher sie kamen.

Der Faschismus gilt heute noch als rechts, ebenso wie der Stalinismus - nicht nur seinen Anhangern - als links gilt. Dabei passen weder er noch der Faschismus ins Rechts-Links-Schema der burgerlichen Revolutionare. Deshalb wurde dieses Schema "weiterentwickelt": Rechts und links wurden ihm "Extreme" angeklebt - eine eher hilflose und die wirklichen Verhaltnisse beschonigende Operation.

Von der Kapitalismusmudigkeit, die - anders als 1917 in Rusland - 1918 in Deutschland nicht massenhaft aufgetreten war, profitierte, als sie dann doch ausbrach, der sich antikapitalistisch gebardende Faschismus der Nationalsozialisten. Bis das soweit war, hatte es allerdings noch einer alle Geld- und Moralwerte vernichtenden Inflation, einer sogenannten Stabilisierung, in der die nicht abgesicherte Arbeitslosigkeit kaum unter acht Prozent gesunken war, und der Katastrophe der Weltwirtschaftskrise bedurft.

Der Arbeiterbewegung war längst die Bewegung abhandengekommen. Zudem war das organisierte Proletariat gespalten: in einen sozialdemokratischen Koloß auf tönernen Füßen, dessen Vorsteher sich nur noch auf die Rolle des "Arztes am Krankenbett des Kapitalismus " verstehen mochten, und in eine fremdfinanzierte "Bruderpartei ". Die bediente statt der Interessen ihrer eigenen Klientel die Wünsche eines ausländischen Staates - dessen innere Zustände sie mit viel Sozialromantik erfolgreich zu verschleiern wußte. 1932/33 dann stürzte sie sich mit absurder Propaganda für ein Sowjetdeutschland und mit Sozialfaschismuspöbeleien auf den Lippen in den Abgrund und riß viele ihrer Anhänger ins Unglück. Selbst große Teile ihrer eigenen Führung wurden ausgelöscht, wobei in der Arbeitsteilung zwischen deutschen Nationalsozialisten und russischen Stalinisten letztere der KPD den höheren Blutzoll auferlegten und das Verhältnis letzten Endes nur deshalb wieder etwas zu ihren Ungunsten verschoben, weil sie in der Zeit der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen Josef Stalin und Adolf Hitler (1939-1941) Kolonnen von Todgeweihten an die Gestapo überstellten, die ihrerseits aber nicht alle umbrachte, so daß einige Todgeweihte 1945 sich ein zweites Mal der Liebe des "Vaterlandes der Werktätigen" ausgesetzt sahen. Im Namen der "Linken", versteht sich.

2007
Trotzdem ist der Bezug auf das Erbe der Linken von 1789 ff. durchaus immer noch sinnvoll und aller Ehren wert - zumindest wenn dieses Erbe als Traditionsbestand und nicht als Selbstreferenz behandelt wird. Denn "links", ursprünglich ein Ehrentitel für jene, die gewillt waren, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist - so Karl Marx in Anlehnung an Ludwig Feuerbach, dessen kategorischen Imperativ er aus der Religionskritik in die Kritik der Lebenswirklichkeit holte -, hat sich längst in ein goldenes Gehäuse verwandelt. Die Taue, mit denen die "Linke" trotz aller Fragwürdigkeiten einst in der Gesellschaft verankert war, sind spätestens seit 1933 - wenn man ganz ehrlich ist: seit 1918 - zu unscheinbaren Fädchen zerschlissen.

Bei der Aufrechterhaltung des Rechts-Links-Schemas hat die "Linke ", völlig guten Gewissens, ihre - zugegeben, nicht vorsätzlich erwählten, aber dafür zuverlässigsten - Partner in den kapitalverursachten Eliten gefunden. Denn die hätscheln mit nicht erlahmender Zuwendung das Gottesgeschenk, das ihnen die Französische Revolution machte. Sowohl in den USA - "Demokraten" versus "Republikaner " - als auch in Europa wird seit Jahrzehnten von diesen Eliten mit Vorsatz die Fortschreibung der Rechts-Links-Konstellation betrieben: gerade weil sie mit den Verhältnissen, die heute in der Gesellschaft herrschen, kaum noch etwas zu tun hat und deshalb für diese Eliten völlig ungefährlich ist. Politik in der Rechts-Links-Konstellation bildet eine Nebelwand, die den Blick auf die Gesellschaft in Schleier legt. Und die oft naive - oder ist sie vielleicht gar nicht so naiv? - "Linke" spielt überall mit.

Etwa die Hälfte der deutschen Wähler kann sich heute schon nicht mehr im Rechts-Links-Schema wiederfinden, denn diese Konstellation hat mit ihrer Lebenswirklichkeit kaum noch etwas zu tun. Diese Wähler haben sich immer wieder überzeugen lassen, an dem Rechts- Links-Spiel zu beteiligen, das SPD und CDU mit nicht erlahmender Chuzpe simulierten. Bis diese Wähler irgendwann begriffen, daß es schon seit langem nicht mehr um links oder rechts, sondern nur noch um unten oder oben geht - beides aber, sehr absichtsvoll, nicht zur Abstimmung gestellt wird.

Der Sozialstaatsgesellschaft der Bundesrepublik läutete mit dem Fall der Mauer das Totenglöckchen. Doch was macht seitdem die "Linke"? Statt auf die sich ausbreitende Kapitalismusmüdigkeit mit einer intelligenten Kritik an der grassierenden Asozialität der deutschen Eliten als den Nutznießern der jetzigen Produktionsweise zu reagieren, tut sie seit der friedlichen Herbstrevolution so, als seien die westdeutschen Zustände der siebziger Jahre für ewig festgeschrieben. Ihre Politik unterscheidet sich kaum von der, die einst die SPD-"Linke" praktizierte: da, mitunter sogar scharf formulierte, Kritik, hier Verteidigung einer einmal errungenen, heute aber längst nicht mehr haltbaren Position, dort ein kleiner Entlastungsangriff - alles in der Hoffnung, in einer der nächsten Koalitionen doch noch als Mittäter zugelassen zu werden. Das Stadion der siebziger Jahre, in dem all diese Spiele eine gewisse Berechtigung hatten, existiert aber längst nicht mehr. Denn die deutschen Eliten haben nach dem Fall der Mauer - nahezu geräuschlos - den Übergang zu einem Bewegungskrieg gegen den "Rest der Gesellschaft" vollzogen.

Die Linke aus West und Ost, alles andere als unschuldig und morgenschön, wird im Moment von der Ohnmacht eines abzusehenden Scheiterns aufs gemeinsame Lager gezwungen. Die einen sind gar nicht erst auf die Beine gekommen, die anderen können sich kaum noch auf ihnen halten. Doch Vernunftehen sind manchmal ganz erfolgreich. Denn trotz aller Probleme kann das gemeinsame Kind gesund zur Welt kommen; vorausgesetzt man beabsichtigt, eins zu zeugen und nicht, gut gebettet, sich auf den Stufen des Reichstages zur letzten Ruhe zu legen. Dafür haben die kapitalverursachten Eliten jedoch schon alles vorbereitet: Die Falle - die Ablösung der SPD durch die gesamtdeutsche Linke - steht weit geöffnet im Raum. Denn: The show must go on. Manche scheinen es gar nicht erwarten zu können. Wendet man jedoch den Kopf aus dem "Raumschiff Politik" auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, wird man kaum am eigentlichen Elend vorbeischauen können: Denn längst wird nicht mehr nur der Lohnarbeiter ausgebeutet. Neben die Gewinne, die aus der Ware Arbeitskraft geschöpft werden, treten immer häufiger Gewinne, die auf Monopolen beruhen. Energie, Wasser, Bildung, Gesundheit, Altern et cetera sind zu Quellen von Profit pervertiert worden. Eine ganze Gesellschaft steht einer parasitären Oligarchie gegenüber. Nur wenn sich diese Gesellschaft - das "Unten" - gemeinsam wehrt und dafür einen politischen Ausdruck findet, der individuelle und soziale Emanzipation untrennbar und gleichberechtigt verfolgt, wird sich ein Weg zu einem menschenwürdigen Leben für alle freilegen lassen. Die Linke hätte dann noch einmal eine Funktion: aus dem Rechts-Links- Spiel auszusteigen, um diese neue politische Kraft zu entbinden.


Jörn Schütrumpf - Jg. 1956, Dr. phil. Historiker, Redakteur bei UTOPIE kreativ, zuletzt: Rosa Luxemburg, die Bolschewiki und "gewisse Fragen", Heft 193 (November 2006).

Randbemerkungen zum Text

"Eine geistreiche französische Redensart Â… verspottet die ›Jakobiner ohne Volk‹ (jacobins moins le peuple). Die historische Größe der wahren Jakobiner, der Jakobiner von 1793, bestand darin, daß sie ›Jakobiner mit dem Volk‹ waren, mit der revolutionären Mehrheit des Volkes, mit den revolutionären fortschrittlichen Klassen ihrer Zeit." W. I. Lenin: Die Konterrevolution geht zum Angriff über [1917], in: Ders.:Werke (LW), Bd. 24, Berlin 1959, S. 537.

"Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Â… Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen." Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in: Ders., Friedrich Engels:Werke [MEW], Bd. 8, Berlin 1960, S. 115.

Preußische Reformen 1807 - Beseitigung der Gutsuntertänigkeit (Leibeigenschaft) 1808 - Heeresreform, Abschaffung des adligen Offiziermonopols und der Körperstrafen 1808 - Städteordnung beteiligt Bürgertum an der Staatsverwaltung 1809 Bildungsreform 1810 Gewerbefreiheit 1811 Regulierungsedikt macht alle Bauern zu Eigentümern der Höfe 1812 Emanzipationsedikt für die Juden

Ferdinand Lassalle (1825-1864) - Schriftsteller, Politiker, Staatssozialist und Arbeiterführer. Als erster Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) war er 1863 der Gründer der ersten Vorgängerorganisation der bis heute bestehenden SPD und gilt damit als einer der Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie. http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Lassalle

Jörn Schütrumpf: Kapitalismusmüde, in: Das Blättchen, 2007, H. 4.

"Nikolaj Tscheidze, ein Menschewik und Vorsitzender des Petrograder Sowjets, erschien, um den zurückkehrenden Führer der Bolschewiki zu begrüßen. Vor dem Bahnhofsgebäude hatten sich zahlreiche Arbeiter und Soldaten versammelt Â… Dann begannen die Feierlichkeiten schiefzugehen. Lenin wollte mit dem Geist der allgemeinen Verbrüderung nichts zu schaffen haben Â… Tscheidze begrüßte ihn als hochangesehenen Emigranten und appellierte an alle Sozialisten, zusammenzuarbeiten, doch Lenin würdigte ihn kaum eines Blickes und erwiderte die Ansprache mit dem Aufruf zur ›sozialistischen Weltrevolution‹ Â… Lenins Worte bestürzten praktisch jeden, der sie in jener Nacht zu hören bekam; viele Zuhörer glaubten, daß er verrückt geworden sei. Kamenew und andere führende Bolschewiki waren perplex und hofften nur, Lenin werde wieder zur Vernunft kommen, sobald er die lange Trennung von der Heimat überstanden hatte. Sogar Nadez¡da Konstantinovna [Lenins Frau - J. S.] scheint an seiner geistigen Verfassung gezweifelt zu haben." Robert Service: Lenin. Eine Biographie, München 2000, S. 347 f.

Schon auf dem III. Parteitag der SDAPR - 1905 - machte Lenin keinen Hehl daraus, wie er in einer Revolution vorzugehen gedachte: "Die demokratische Diktatur ist Â… eine Organisation des Krieges. Selbst wenn wir Petersburg eroberten und Nikolaus guillotinierten, hätten wir einige Vendées vor uns. Marx Â… sagte, der Terrorismus von 1793 sei nichts als eine plebejische Manier gewesen, mit dem Absolutismus und der Konterrevolution fertig zu werden. Auch wir ziehen die ›plebejische‹ Manier, mit der russischen Selbstherrschaft fertig zu werden, vor und überlassen der ›Iskra‹ die girondistischen Manieren. W. I. Lenin: Referat über die Teilnahme der Sozialdemokratie an einer provisorischen revolutionären Regierung. 18. April [1. Mai] 1905, in: LW, Bd. 8, S. 389.

"Die ideelle Weihe darf dem Kasernenleben nicht fehlen, sie wird hergestellt durch den Kasernenkommunismus, wodurch der Verachtung gemeiner bürgerlicher Tätigkeit eine höhere Bedeutung erwächst. Da diese kommunistische Kaserne indes nicht mehr unter den Kriegsartikeln steht, sondern nur unter der moralischen Autorität und dem Gebot der Aufopferung, so kann es nicht fehlen, daß zuweilen Prügeleien über die gemeinschaftliche Kasse entstehn, wobei die moralische Autorität nicht immer ohne ein blaues Auge davonkommt. Findet sich irgendwo in der Nähe ein Handwerkerverein, so kann dieser als Rekrutierungsanstalt für das anzuschaffende Korps benutzt Â… werden. Vielleicht läßt es sich auch einrichten, daß im Hinblick auf die höhere prinzipielle Bedeutung, die die Kaserne für die Zukunft des Proletariats hat, der Verein Gelder in die Menage liefert. In der Kaserne wie im Verein wird das Predigen und die patriarchalisch-klätschelnde Manier des persönlichen Verkehrs nicht ohne Wirkung bleiben. Der Parteigänger verliert auch im Frieden seine unentbehrliche Zuversicht nicht, und wie früher stets nach jeder Schlappe für den morgenden Tag den Sieg, so verkündet er nunmehr stets die moralische Gewißheit u. d. philosophische Notwendigkeit, daß es binnen vierzehn Tagen ›losgehn‹ werde, nämlich es." Karl Marx, Friedrich Engels: Die großen Männer des Exils [1852], in: MEW, Bd. 8, S. 322.

Das Zusammenwirken von SPD- und Reichswehrführung während des Ersten Weltkrieges wäre ein interessantes Thema für eine Dissertation.

"Eine Niederlage erblicke ich ferner darin, daß es uns nicht gelungen ist, dem riesenhaften Anschwellen der Nazis Einhalt zu gebieten.Â… Außerdem befinden sich unter der Hitlergefolgschaft unstreitig auch viele proletarische Elemente, die sich sowohl von der SPD wie von der KPD enttäuscht fühlen. Gerade die Sturmkolonnen der Nazis enthalten ein gut Teil arbeitsloser Proletarier. Die zwiefache Niederlage unserer Partei kann und darf um so weniger verschwiegen werden, als die objektive Situation günstigste Vorbedingungen für unsere Aktion geschaffen hat und täglich weiter schafft. Die ungeheure Spanne zwischen der günstigen objektiven Situation und dem rückständigen subjektiven Faktor der geschichtlichen Entwicklung zu verkleinern, zu überwinden ist die historische Aufgabe unserer Partei. Sie hat bis jetzt das Examen auf die Erfüllung dieser Aufgabe leider sehr schlecht bestanden. Das darf nicht eine Minute verschleiert oder beschönigt werden." Clara Zetkin an Wilhelm Pieck, 14. März 1932, in: Florence Hervé (Hrsg.): Clara Zetkin oder: Dort kämpfen, wo das Leben ist, Berlin 2007, S. 126.

Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Eine Welt im Dunkel, Stuttgart 1958.