Warenförmige Körper und Bringschuld

Die Verwertung des menschlichen Körpers schreitet in großen Schritten voran.

Während die Verwertung des menschlichen Körpers in großen Schritten voranschreitet und seine Warenförmigkeit juristisch festgeschrieben wird, ist im Zusammenhang mit der Abgabe von Organen seit neuestem nicht mehr nur von Nächstenliebe und Verantwortung die Rede, sondern auch ganz direkt von Pflichten.

"Die überwiegende Mehrheit der Menschen trifft in der Regel weder auf Ethiker oder Moraltheologen noch liest sie deren akademische Hervorbringungen", schreibt der Soziologe Hagen Kühn 2006. Moral entstünde nicht durch professionelle Ethik, sondern aus dem Leben in einer Gesellschaft. Dem Ethikbetrieb komme daher vor allem "eine verstärkende, legitimierende und systematisierende Wirkung zu."(1) Diese These bestätigt der Nationale Ethikrat einmal mehr mit seiner Ende April veröffentlichten Stellungnahme. Um die behauptete breite Zustimmung zur Organspende besser "auszuschöpfen", schlägt der Rat darin eine Widerspruchsregelung vor: Würde sie umgesetzt, wäre eine Organentnahme in der Bundesrepublik - ähnlich wie in vielen anderen EU-Ländern - nur dann unzulässig, wenn Menschen sie vor ihrem Tod ausdrücklich abgelehnt haben. Nicht nur der Vorschlag selbst verdient Aufmerksamkeit, sondern auch die mit ihm verbundenen Argumentationen. So wird von einer "Beistandspflicht" gesprochen und davon, dass angesichts der vielen Menschen "auf der Warteliste" die Entscheidung über die Organabgabe nicht vollständig "in das Belieben des Einzelnen" gestellt werden könne. Eine solche Moral passt gut zusammen mit den juristischen Konturen, die der Umgang mit Bestandteilen des menschlichen Körpers in den letzten Monate bekommen hat: Der Bundestag verabschiedete Ende Mai das Gewebegesetz, das menschliches Gewebe juristisch als Ware fasst. Zum selben Zeitpunkt nahmen die EU-GesundheitsministerInnen den umstrittenen Kommissionsvorschlag für eine "Verordnung zu neuartigen Therapien" an, in dem trotz gegenteiliger Forderungen ein Verbot der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers fehlt.(2) Vor diesem Hintergrund wird die "verstärkende" und "legitimierende" Funktion der Ethikrats-Stellungnahme deutlich: Den immer offenkundiger von Märkten bestimmten Bedarf an Körpersubstanzen und -teilen durch eine passende gesellschaftliche Moral und entsprechende ethische Werte zu decken, und zwar im doppelten Sinne des Wortes. Der GID widmet sich in dieser Ausgabe deshalb der politischen Dimension der öffentlichen Rede um die Abgabe von Organen und Körpersubstanzen - ihrem Vokabular, ihrer Semantik und ihren Beziehungen zur Warenförmigkeit des Körpers. Zum Einstieg befasst sich Ulrike Baureithel mit dem in bioethischen Abhandlungen zentralen Begriff der ‚SelbstbestimmungÂ’ und fragt nach Gründen für die heutige Vielseitigkeit seiner Einsatzmöglichkeiten. Erika Feyerabend nimmt das Herzstück der Argumentationen für die Organabgabe, den ‚Tod auf der WartelisteÂ’, unter die Lupe und fragt nach dessen Bedeutung für "Verschiebungen im Umgang mit dem eigenen Leib". Das Konzept der ‚SpendeÂ’ in der Medizin ist Untersuchungsgegenstand von Imme Petersen, die die Konnotationen des Begriffs und deren Funktionen im Medizinbetrieb analysiert. Zum Abschluss geht es in die wenig bekannte Praxis der Gewebeverwertung: Martina Keller stellt ein Modell vor, mit dem die Uniklinik Hamburg sich auf dem expandierenden Markt zu platzieren sucht. Damit unsere geneigten Leser sich ein eigenes Bild von den in den Texten analysierten Begrifflichkeiten machen können, wird der Schwerpunkt durch ein Interview mit Loretta Stern ergänzt, einer der Mitbegründerinnen der "Jungen Helden". Die zum Teil prominenten Mitglieder des Vereins werben vor allem bei Jugendlichen für den Organspendeausweis. Daneben schien uns eine (auszugsweise) Dokumentation der Stellungnahme des Ethikrates unerlässlich, um den "sprachpolitischen Raum" (Erika Feyerabend) darzustellen, in dem die waren- und marktförmigen Verhältnisse zum Körper, zum Leben und zum Sterben sich entfalten.

Fußnoten:

  1. Hagen Kühn: Der Ethikbetrieb in der Medizin. Korrektur oder Schmiermittel der Kommerzialisierung?, März 2006, Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Public Health, Forschungsschwerpunkt Arbeit, Sozialstruktur und Sozialstaat, Wissenschaftszentrum Berlin, S.8 f.
  2. Zu der Verordnung siehe auch die Notiz "Deutschland blendet Bioethik aus" auf S.48 in diesem Heft.

Für weitere Recherchen zum Thema Organspende haben wir in der Rubrik Materialien außerdem einige Internetadressen der kleinen, kritischen Gegenöffentlichkeit zusammengestellt.