Neue Linke, neue Lage

Die mediale Resonanz auf die Gründung der Linkspartei war gewaltig. Doch in erster Linie wurde die Neugründung in den Leitmedien der Republik als populistische Zumutung und Anmaßung wahrgenommen.

Die mediale Resonanz auf die Gründung der neuen Linkspartei war gewaltig. Doch in erster Linie wurde die Neugründung in den Leitmedien der Republik als populistische Zumutung und Anmaßung wahrgenommen. "In Wahrheit, das weiß man, hat die Linke nicht viel zu bieten", urteilte gewohnt herablassend und stellvertretend für viele "Die Zeit", um der neuen Partei gleich noch eine eher geringe "Halbwertszeit" zu prognostizieren.1

Und in der Tat konnten die lauten Töne der neuen Partei durchaus als anmaßend erscheinen. Das beginnt, wie selbst Gregor Gysi eingestand, bereits beim Namen. Die Selbstetikettierung als "Die Linke" wird in jedem Fall zu Irritationen führen, sowohl linguistischer als auch inhaltlicher Art. Zukünftig wird man nachfragen müssen, ob die Linke mit kleinem oder großem d gemeint ist. Es sei denn, man wollte tatsächlich "Die Linke" mit der Linken in eins setzen.

Das aber führt zu der zweiten steilen Behauptung. Es gehört, so möchte es scheinen, schon besondere Chuzpe dazu, wenn man wie Gregor Gysi mantraartig postuliert, mit der Gründung der Linkspartei werde die "Einheit der Linken" vollendet.2 Es sei denn, diese seit dem 16. Juni 2007 "vereinigte Linke" gedenkt, sich dauerhaft auf jene circa 10 bis 15 Prozent beschränken zu wollen, die ihr augenblicklich und auf absehbare Zeit zufallen werden. Dann aber wäre die Linke, geschrumpft auf "Die Linke", keine nennenswerte politische Kraft in Deutschland mehr, zur Freude ihrer Gegner. Insofern konnte man in der Tat Zweifel an der dritten vollmundigen Behauptung haben, nämlich daran, dass es sich bei der endgültigen Verbindung von Linkspartei. PDS und WASG um ein "historisches Datum" handelte.

Die Ironie der Geschichte: Es brauchte keinen Tag, und alle Ankündigungen hatten sich eindrucksvoll bestätigt. Die heftigen Reaktionen der Partei-Konkurrenten erbrachten den Beweis dafür, dass die Gründung der neuen Partei tatsächlich ein historisches Ereignis ist.
Viel Feind, viel Ehr

Am schnellsten und lautstärksten, wen konnte es verwundern, reagierte die FDP. Genauer: Es reagierte die "Freiheitsstatue der Republik", als welche sich Guido Westerwelle neuerdings zu bezeichnen pflegt. Auf dem zeitgleich stattfindenden Parteitag der Liberalen quittierte er die Gründung der Linkspartei in der Manier des Kalten Kriegers mit der Strauß'schen Kampfparole "Freiheit oder Sozialismus" - allerdings durchaus zur Irritation seiner eigenen Parteifreunde, die derart aufgesetzte Töne aus dem Munde des einstigen Spaßkandidaten dann doch eher überraschten.

Überrascht war auch die Union, die als der eigentliche Nachlassverwalter des Kalten Krieges den "Liberalen" in nichts nachstehen wollte. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla stufte die neue Formation als eine "linksradikale Partei" ein, während sein Konterpart von der CSU, Markus Söder, sich ganz auf die Person des neuen Vorsitzenden Oskar Lafontaine einschoss, den er als "Extremisten" und "Schande für aufrechte Sozialdemokraten" bezeichnete.

Ließ sich diese teilweise schon ins Absurde tendierende Reaktion nur noch als possierlich begreifen, so stellt die Reaktion der SPD ein echtes Politikum dar. Genauer: eine Zäsur. Das zeigte sich allerdings weniger an der fast erwartbaren Stigmatisierung der Linkspartei als fundamentalistisch, populistisch und jedenfalls nicht links, kurz: als "SED-PDS-Nachfolgegruppierung" (Kurt Beck) oder "PDS/ML - mit Lafontaine" (Peter Struck). Nein, die eigentlichen Konsequenzen auf die Linkspartei- Gründung zeigten sich im veränderten Umgang der SPD mit ihrem Koalitionspartner, sprich: in der gleichzeitigen Abgrenzung von der Union.

Bereits im Zuge der Konsolidierung der Linkspartei war die SPD auf Konfrontationskurs gegenüber dem Koalitionspartner gegangen. Dabei federführend: Arbeitsminister Franz Müntefering. Im Koalitionsausschuss, der am Montag nach dem Parteitag über den Mindestlohn beriet, gab "Münte" seinen kompromisslerischen Stil gegenüber der Kanzlerin dann endgültig auf und legte stattdessen ein 15seitiges Grundsatzpapier vor - mit Positionen, die zuvor längst abgeräumt schienen. Man habe drei Stunden gebraucht, so die beteiligten Unions-Abgeordneten, "um das wieder wegzudiskutieren".3

Doch damit nicht genug: Am Morgen nach Verabschiedung des Kompromisses verkündete Müntefering die eigentliche Lehre des Abends, nämlich dass man den Mindestlohn nur "gegen die Union durchsetzen" könne, wozu er seinen "Beitrag leisten" wolle. Mit diesem quasi über Nacht radikalisierten Mindestlohnkonzept ist die Zeit der demonstrativen koalitionären Einigkeit vorbei und beginnt, noch vor der Halbzeit der Legislaturperiode, der Wahlkampf für das auch bundespolitisch vorentscheidende Jahr 2008.
Knackpunkt Mindestlohn

Natürlich ist es kein Zufall, dass die SPD gerade beim Thema Mindestlohn gezielt die Konfrontation mit dem Koalitionspartner sucht. Zum einen will sie mit diesem Symbolthema, wie bereits die Bremer Wahl dieses Jahres belegte, die anstehenden Wahlkämpfe bestreiten, sowohl auf Länderebene als auch, spätestens 2009, im Bund. Zum anderen reagierte die SPD mit der Zuspitzung in dieser Frage explizit auf die Gründung der "Linken". Indem die Linkspartei den SPD-Vorschlag zum Mindestlohn zuvor im Bundestag eingebracht hatte - wohl wissend, dass die Sozialdemokraten den eigenen Text aus Gründen der Koalitionsraison würden ablehnen müssen -, war es ihr gelungen, diese regelrecht vorzuführen.

Hier zeigt sich exemplarisch der Zangengriff, in welchem sich die SPD derzeit befindet - zwischen einer Union, die mit Ursula von der Leyen immer mehr die Mitte erobert, und einer Linkspartei, die offensiv die linken Themen besetzt. Dass Müntefering die Union nun mit einem radikalen Mindestlohnkonzept konfrontierte, wurde somit auch zum Lackmustest auf die Glaubwürdigkeit der SPD-Forderungen.

Darin besteht das erste historische Verdienst der Linkspartei: Offensichtlich hat ihre Gründung die SPD zu neuem "sozialdemokratischen Leben" erweckt. Keine andere Partei reagierte mit einem derart durchschaubar schlechten Gewissen auf die neue Partei. Darüber kann auch die vorschnelle Abwertung des Konkurrenten nicht hinwegtäuschen.

Im Gegenteil: Die Positionierung in Sachen Mindestlohn weist weit über diesen Tag und den Einzelfall hinaus. Bereits heute beginnt die SPD, ob bewusst oder unbewusst, die Weichen für die Zeit nach der großen Koalition zu stellen. Wenn die SPD jetzt "das kalte Gesicht der Angela Merkel" entdeckt und Kurt Beck die Union des "Neoliberalismus" zeiht, dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie die Partei eines Tages mit der Freiheitsstatue namens Westerwelle koalieren will. Eines steht fest: Mit dem Kampf für den Mindestlohn rüstet die SPD auch für einen Wahlkampf gegen die FDP. Der SPD schwant immer mehr, dass sie gegen Angela Merkel in der Mitte keine Chance hat. Und Besserung ist nicht in Sicht, weder in Form eines geeigneten Kanzlerkandidaten noch einer überzeugenden Post-Schröder-Agenda. Umso mehr wird sie programmatisch nach links tendieren, um der neuen Partei nicht noch mehr Boden zu überlassen. Umso weniger aber ist eine Koalition mit der FDP im Bereich des parteipolitisch Durchsetzbaren. Tatsächlich dürften sich alle ernsthaften sozial-liberalen Regierungsspekulationen, die vor allem mit einer möglichen Kanzlerkandidatur Kurt Becks verbunden wurden, vom Tage des Auftritts der Linkspartei an erledigt haben.

Hier liegt ein weiteres Verdienst der neuen Linkspartei. "Opposition ist Mist", lautete vor zwei Jahren die Devise Franz Münteferings, mit der er seine Partei an die Seite der Union und Angela Merkels führte. Dahinter stand die Hoffnung, die SPD könne sich in der Regierung regenerieren. Die Linkspartei überzeugt Müntefering jetzt vom Gegenteil. Genauer gesagt: Die Realitäten überzeugen ihn davon. Neun Jahre einseitig wirtschaftsfreundlicher Regierungspolitik haben die SPD um über zehn Prozentpunkte auf ständig neue Minusrekorde schrumpfen lassen, vom Abgang Zehntausender Mitglieder ganz zu schweigen. In dieser Zeit hat die Partei einen ungeheuren Aderlass erlebt, personeller aber auch ideeller Natur. Fast schon konsequenterweise herrscht zunehmende Panik auf dem alten Tanker, die sich in immer hilfloseren Attacken auf die Union und insbesondere die Kanzlerin entlädt.
Nur noch eine Gemeinsamkeit hält die große Koalition derzeit zusammen: die Einigkeit, dass das gemeinsame Regieren spätestens in zwei Jahren vorbei sein soll. Doch keine der beiden Parteien verfügt derzeit über eine taugliche Exit-Option. Was wir jetzt erleben, ist der Versuch eines geordneten Rückzugs, insbesondere seitens der SPD. Tatsächlich drängt sich den Sozialdemokraten momentan die Frage geradezu auf: Wie kommen wir achtbar aus dieser Regierung und damit an die Seite der Linkspartei.
Die Einheit der Linken auf mittlere Sicht

Und darin, so die Dialektik der Angelegenheit, liegt die eigentliche historische Dimension der linken Neugründung: Auf kurze Sicht wird man in der Tat von einer Einheit der Linken nicht sprechen können, auf mittlere Sicht aber durchaus. Faktisch zwingt "Die Linke" die SPD in die Einheit der Linken - entweder in der Opposition oder eben doch in der gemeinsamen Regierung. Lafontaine hätte damit das erreicht, was ihm seiner Einschätzung nach 1999 nicht gelingen wollte, nämlich maßgeblichen Einfluss auf den Kurs der SPD zu nehmen.

Mit dem Antritt der Linkspartei ist die SPD nicht länger die freischwebende Multioptionspartei, als die sie sich unter parteistrategischen Aspekten lange Zeit sehr wohl fühlte - jedoch stets zum Nachteil ihrer einstigen Programmatik. 4 Durch den Angriff seitens der Linkspartei, sprich: deren Gründung, wurde die SPD zunächst inhaltlich, siehe Mindestlohn, wieder in sozialdemokratisches Fahrwasser gebracht. Und nach der inhaltlichen Attacke legte Lafontaine prompt taktisch-strategisch nach, indem er der SPD via "Spiegel"- Interview ein Koalitionsangebot unterbreitete. Der Ball liegt jetzt auch hier eindeutig im Feld der SPD. Denn aller Ablehnung durch ihre Funktionäre zum Trotz empfindet ein Großteil der Mitglieder und Wähler weit größere Nähe zur Linkspartei als zur Union, von der FDP ganz zu schweigen.

Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Beck das Angebot Lafontaines prompt als "nicht ernst zu nehmen" bezeichnete. Wie ungeheuer ernst die SPD sowohl die Konkurrenz als auch die Angebote von links tatsächlich nimmt, brachte dagegen sein Generalsekretär zum Ausdruck. Es sei, so Hubertus Heil, "politisches Ziel" der SPD, die "Westausdehnung der PDS" in den anstehenden Wahlkämpfen zu verhindern. Man wolle vermeiden, dass es in den alten Bundesländern zu Koalitionen mit der Linkspartei komme. Ausgeschlossen werden könne dies aber nicht, die Entscheidung liege bei den betroffenen Landesverbänden. Dieser ungeschützte Blick in die Zukunft ist umso erstaunlicher, als "Die Linke" bisher - außer in Bremen - noch in gar keinem westdeutschen Landtag vertreten ist. Offensichtlich rechnet die Parteiführung der SPD jedoch mit ganz anderen Halbwertszeiten als die eingangs zitierten "professionellen" Zeitgeist- Beobachter.
Die Grünen als Zünglein an der Waage

Wenn aber, vor diesem Hintergrund und angesichts der im kommenden Frühjahr anstehenden Wahlen in Niedersachsen und Hessen, bereits heute Koalitionen auf Landesebene nicht ausgeschlossen werden, dürfte auch einer Koalition auf Bundesebene auf Dauer nichts im Wege stehen, soviel lehrt die Geschichte der Grünen. Es dürfte somit nur noch eine Frage der Zeit sein, wann aus der bereits seit der letzten Bundestagswahl vorhandenen linken Mehrheit, die derzeit noch eine virtuelle ist, eine reelle werden wird.

Immer vorausgesetzt allerdings, dass sich die Öko-Partei, wenn es eines Tages zum Schwur kommen wird, diesem im weiteren Sinne linken Lager noch zurechnet. Denn bei ihr verläuft die eigentliche Bruchstelle aller Koalitionsüberlegungen: Die Grünen werden zum Zünglein an der Waage. Ob schwarzgelb- grün, rot-grün-gelb oder rot-rotgrün - man braucht sie in jeder Kombination. Mit Gründung der neuen Linkspartei gehört das alte Vierparteiensystem endgültig der Vergangenheit an - und damit aller Voraussicht nach die Option kleiner Koalitionen, wie sie die Bonner Republik über 40 Jahre geprägt haben. Schon das Ende dieser Tradition ist ein historisches Ereignis.

Im Anschluss an die nächste Wahl werden sich also vor allem die Grünen zu entscheiden haben, welchem Lager sie sich künftig zurechnen wollen. Augenblicklich ist diese Frage noch weitgehend offen. Insofern konnte es nicht verwundern, dass von dieser Partei nach der Linkspartei-Gründung am wenigsten zu hören war. Denn auch bei ihr geht der "Riss" mitten durch die Partei - und mehr noch durch die Mitgliedschaft. Noch bei der ersten Wahl von Rot-Grün 1998 war der Linke Lafontaine der eigentliche rot-grüne Vorzeigemann der SPD. Und bis zum Ende blieb der wirtschaftsliberale Gerhard Schröder der ungeliebte "Basta"-Kanzler. Bis heute schlägt, mit Lafontaine gesprochen, bei den meisten grünen Parteimitgliedern das Herz links.

Demgegenüber wird sowohl in den Medien als auch in wachsenden Teilen der grünen Führungsriege die "schwarze Ampel" präferiert, während für Ex- Umweltminister Jürgen Trittin die Koalition aus SPD, FDP und Grünen "ein modernes Deutschland" repräsentieren könnte - für einen ehemals prononciert Linken eine erstaunliche Aussage. 5 Wie jedoch der tendenziell linken Parteibasis eine Koalition mit den nach wie vor regelrecht verhassten Liberalen schmackhaft gemacht werden soll, steht in den Sternen. Die Linke und speziell Oskar Lafontaine wissen das allzu gut. Einschlägige Vorstöße in Richtung Grüne, im Sinne der Konkurrenz wie auch der Koalition, werden deshalb nicht lange auf sich warten lassen.

Die Prognose fällt deshalb leicht, dass der Gründungsparteitag der Linkspartei auch das historische Startsignal für all jene parteipolitischen Turbulenzen gewesen ist, die uns in den nächsten Jahren noch bevorstehen. Denn in erster Linie steht die neue Linke für die große Leerstelle aller Alt-Parteien: die fehlende Sensibilität für die soziale Frage. Die eklatante Gerechtigkeitslücke ihrer Politik ist der Hauptgrund dafür, warum "die Linke" derzeit Zustrom aus allen Lagern erhält, von "den Liberalen" einmal abgesehen. Völlig zu Recht warnte deshalb der scheidende CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber seine Partei davor, die Linkspartei zu unterschätzen - nicht als Revoluzzer, sondern als Konkurrenten. Denn umso weniger die Etablierten die soziale Spaltung des Landes bekämpfen, umso mehr werden sie mit der neuen Linken zu rechnen haben.

1 Matthias Geis und Bernd Ulrich, Koalition der Abstinenzler, in: "Die Zeit", 21.6.2007, und Thomas E. Schmidt, Die linken Verteidiger, ebd.
2 Und damit gleich auch noch die "Einheit Deutschlands".
3 Vgl. Sebastian Fischer, SPD in der Krise. Müntefering übernimmt die Abteilung Attacke, www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 489634,00html.
4 Vgl. Albrecht von Lucke, SPD - Profillosigkeit als Programm, in: "Blätter" 4/2007, S. 463-470.
5 Vgl. Roland Nelles, Weiche Stelle, in: "Der Spiegel", 2.7.2007.