Das Konzept eines Integrativen Marxismus

Theoretischer Entwurf

Die eigentlich privilegierte Rolle . . . freilich spielt die Kunst. Im Universum des Wissens ist sie keine der Theorie untergeordnete geistige Gestalt, sondern die gleichrangige Partnerin der Theorie.

(1) Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Marxismus

1 Zukunftsfähiger Marxismus heißt, dass dieser dem doppelten Anspruch genügt, die Welt – hier: die zukünftige Welt – zu „interpretieren“ und sie zu „verändern“. Interpretation und Veränderung, Theorie und Praxis fasse ich in Anlehnung an die elfte Feuerbachthese als Einheit. Das erste ist die Bedingung des zweiten. „Interpretation“ – Theorie – einer Welt meint das Erstellen ihres angemessenen und möglichst vollständigen (also wahren) Begriffs: eine Welt, in Gedanken gefasst. „Veränderung“ – Praxis – meint den Umbau dieser Welt nach Maßgabe ihres theoretischen Begriffs. Dieser Umbau der Welt verfolgt ein bestimmtes Ziel und untersteht der Norm einer Ethik, die sich von diesem Ziel her begründet. Sie fordert die umfassende menschliche Emanzipation: umzuwerfen sind „alle Verhältnisse (...), in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385). Zukunftsfähigkeit heißt aber auch, die Zukunft denkbar machen: dafür Sorge tragen, dass die Zukunft denkbar wird. Der Marxismus muss ein Denken der Zukunft einschließen, nicht im Sinn einer Rückkehr zu einem abstrakten Utopismus, sondern als Denken dessen, was historisch möglich ist.

(2) „Das Ganze einer Welt, in Gedanken gefasst“ – der Marxismus als Weltanschauungsform

Die von mir vertretene Grundthese, auf die einfachste Formel gebracht, lautet: der Marxismus ist zukunftsfähig nur unter bestimmten Bedingungen. Er ist es nicht in jeder seiner historisch vorliegenden wie auch gegenwärtig konkurrierenden Gestalten. So ist er zukunftsunfähig, oder nur sehr eingeschränkt zukunftsfähig, in den zwei Formen, die in einem bestimmten Sinn die Extreme (und damit auch Gegensätze) seiner theoretischen Möglichkeiten bilden: in der Form des fertigen Systems, das mit dem Anspruch einer geschlossenen Totalität der Erkenntnis auftritt, wie in der Form einer auf bestimmte kategoriale Dimensionen beschränkten Theorie von Teilbereichen. Beide Extreme weisen Mängel auf, die die Leistungsfähigkeit des Marxismus gravierend einschränken. Der Mangel des einen Extrems ist der Dogmatismus und die diesem folgende theoretische Sterilität, der Mangel des anderen ein Reduktionismus, der zentrale theoretische Bereiche dem marxistischen Zugriff entzieht, nicht zuletzt auch ein Kritizismus, der jedes positive Wissen als affirmativ oder ideologisch verdächtigt und die Eroberung von theoretischem Neuland nicht minder erschwert als der sturste Dogmatismus. Zukunftsfähig ist der Marxismus allein als umfassende weltanschauliche Form, die auf ein perspektivisches Ganzes der Erkenntnis und des Wissens geht: das Ganze einer Welt, in Gedanken gefasst. Das meint den Marxismus als philosophisch begründete Weltanschauung mit dem Anspruch auf Erkenntnis von Totalität; Totalität freilich in einem besonderen, noch näher zu spezifizierenden Sinn. „Philosophisch begründet“ heißt, dass sie ihre Voraussetzungen reflektiert, dass sie methodisch verfährt und dass ihre Argumente „aus Gründen“ erfolgen. Den Anspruch auf ein Denken des Ganzen, eines „Gesamtzusammenhangs“ (Engels) darf der Marxismus nicht aufgeben, wenn er sich nicht als philosophische Theorie aufgeben will, doch ist dieses Ganze nicht als metaphysische Substantialität objektiv-gegenständlich, sondern radikal historisch, als ProzessKontinuum zu denken: als Totalität einer besonderen historischen Welt, die auch immer nur in historischer Perspektive erfaßt werden kann. Allein in der Annäherung ist das Ganze des Geschichtsprozesses, als Abfolge menschlichgeschichtlicher Welten wie des Naturprozesses, in dem menschliche Geschichte ihren Grund hat, zugänglich; zugänglich in perspektivischer Brechung, nach Maßgabe des historisch Möglichen.

(3) Das erkenntnistheoretische Relativitätsprinzip

Erkenntnistheoretisch bedeutet dies die Anerkennung des Prinzips der Relativität menschlicher Erkenntnis.Diesem Prinzip zufolge „sind die Grenzen der Annäherung unserer Kenntnisse an die objektive, absolute Wahrheit geschichtlich bedingt“ (Lenin, Werke 14, 129). Die absolute Wahrheit (d. h. die vollständige und adäquate Widerspiegelung der Realität im menschlichen Bewusstsein, im Einzelnen wie im Zusammenhang) existiert allein als Ideal (oder regulative Idee) menschlicher Erkenntnis. Jede gegebene Wahrheit ist geschichtlich bedingt, deshalb relativ: perspektivisch bezogen auf den Standort, von dem aus ihre Formulierung erfolgt. Zwar gibt es einen Prozess fortschreitender Erkenntnis, der Zunahme menschlichen Wissens, doch ist dieser unendlich und unabschließbar, weil gebunden an den historischen Prozess. Jede gegebene Erkenntnis ist endlich, da sie in diesem Prozess steht und auch nur einen Teil des Gesamtprozesses zu reflektieren vermag. Ja, sie ist bedroht durch einen stets möglichen Erkenntnisverlust. Aus dem erkenntnistheoretischen Relativitätsprinzip sind Folgerungen zu ziehen. Die permanente kritische Reflexion ist zum methodologischen Grundprinzip marxistischen Denkens zu machen. Dazu gehören Prüfung des Erreichten, Revision (im Sinne des Neu-Betrachtens, Wieder-Ansehens), Fortentwicklung auf der Basis des Geprüften. Es sind dies unverzichtbare Bedingungen, die an einen zukunftsfähigen Marxismus zu stellen sind. Unverzichtbar, nicht zuletzt auch aufgrund der Erfahrungen seiner eigenen Geschichte, ist die immer wieder zu erneuernde rigorose Selbstbefragung, die Überprüfung seiner Voraussetzungen wie seiner Ergebnisse. Sein methodologisches Prinzip der Erkenntnisgewinnung soll lauten: „Wissen, gewonnen aus Zweifel“ (Brecht). Die für jede Wissenschaft gebotene „Irrtumshypothese“ (dass ich in jedem meiner Sätze auch irren kann) hat sich der Marxismus als methodologisches Postulat zu eigen zu machen.

(4) Neuer Typus philosophischen Denkens

Als umfassende weltanschauliche Form, die auf ein perspektivisches Ganzes der Erkenntnis und des Wissens geht, ist der Marxismus allein als Philosophie möglich, da nur die Philosophie zur Synthesis des Partikularen (so des in den disziplinären Wissenschaften gewonnenen Einzelwissens) und zur Konstruktion eines Ganzen imstande ist, als Philosophie freilich eines neuen Typus, der aus der radikalen Transformation der „alten“ Philosophie, ihrer idealistischen wie materialistischen Gestalt hervorgeht. Gramsci hat diesem neuen Typus philosophischen Denkens den treffenden Titel einer „Philosophie der Praxis“ gegeben. Ihr „Manifest“ (W. F. Haug) sind die Feuerbach-Thesen.

(5) Die „kategoriale Trinität“ des neuen Materialismus: gegenständliche Tätigkeit – Geschichte – Dialektik

Der neue Materialismus besitzt als philosophische Theorie drei Kernkategorien: gegenständliche Tätigkeit, Geschichte, Dialektik. Diese haben methodologisch grundlegenden Charakter. Sie sind strukturell aufeinander bezogen. Ich spreche deshalb von der „kategorialen Trinität“ im Begründungsaufbau der neuen Theorie.

(5, 1) Gegenständliche Tätigkeit als erste Kernkategorie

Gegenständliche Tätigkeit („sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis“) ist die erste Kernkategorie des Marxschen Denkens. Ihr Modell ist die Arbeit als grundlegende lebenssichernde und kulturbildende menschliche Tat. „Gegenständliche Tätigkeit“ meint jedoch mehr als die Arbeit allein. Sie meint jede Form menschlich-sinnlichen Handelns in einer gegenständlichen Welt. Sie ist im systematischen Sinn die Grundkategorie des marxschen Materialismus. D. h., von ihr aus ist dieser neue Materialismus grundzulegen und theoretisch zu entwickeln. Die Kategorie selbst ist synthetischen Charakters. Sie ist Ergebnis einer dialektischen Operation. Sie wird aus der Synthesis der Wahrheitsmomente überlieferter philosophischer Formen gewonnen. Dem „alten“ Materialismus entnimmt sie den Aspekt des sinnlichen Gegenstands (sinnlich gegebener Welt), dem Idealismus den Aspekt der Tätigkeit (der Weltproduktion durch menschliches Tun).Mit dieser Kernkategorie verabschiedet der neue Materialismus jede traditionelle Gestalt philosophischer Begründung. Er konstituiert sich als ein Denken jenseits jeder theologischen wie ontotheologischen (metaphysischen) Voraussetzung.Damit vollendet er,was sich im gesamten Denken der Neuzeit als progressive Linie herausarbeitet: das „Diesseitigwerden“ des Denkens, seine radikale Enttheologisierung. 2 Das neue Denken ist ein Denken, das auf den Füßen geht. Es steht mit beiden Beinen auf der fest gegründeten Erde. Es ist dialektisch-historischer Materialismus. Als solcher ist es ein „realer Humanismus“ (MEW 2, 7), für den „der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist (MEW 1, 385).

(5, 2) Geschichte als zweite Kernkategorie

Gegenständliche Tätigkeit ist ein zeitliches Handeln in einer räumlichen Welt – es ist ein Sein in Zeit und Raum. Die Kategorie des Werdens – gegenständliches Werden als raumzeitlicher Vorgang – ist ihm eingeboren. Mit anderen Worten: gegenständliche Tätigkeit ist an sich selbst geschichtlich. Geschichte ist die zweite Kernkategorie des neuen Materialismus. Dabei sind Zeit und Raum als materiale Daten in solchem Handeln gegeben, ganz unabhängig davon, wie Zeit und Raum des Näheren gedacht werden. Das „Ganze einer Welt“, die Gesamtheit der Dinge der Welt wie ihrer Verhältnisse, ist in seiner Grundverfassung geschichtlich. Die Welt, die der Marxismus in Gedanken zu fassen versucht, ist eine geschichtliche Welt. Sie ist geschichtlich in einem ontologischen Sinn, d. h. in einem solchen, der Natur und Menschenwelt umfasst.Welt ist Bewegung in Zeit und Raum. Sie ist Zeit-Raum-Kontinuum. Sie ist, wie wir sagen wollen, Chronotopos. Der Chronotopos ist Prozess: Werden, Vergehen, Veränderung: Transformation – „Gestaltung, Umgestaltung,/ Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung“ (Goethe, Faust II, 6286 f.). Das Sein ist werdend-gewordenes, wobei das Werden der menschlichen Welt als durch menschliches Tun – „bewusste Lebenstätigkeit“ (Marx) – bewirkt oder zumindest mitbewirkt ist. Menschliche Welt ist eine durch menschliche Praxis produzierte.Der Mensch ist „Schöpfer seiner selbst“, menschliche Welt Selbstschöpfung. In diesem Sachverhalt hat der Begriff der Kultur seinen ontologischen Ort.

(5, 3) Dialektik als dritte Kernkategorie

Gegenständliche Tätigkeit besitzt, wie am Modell der Arbeit gezeigt werden kann, eine dialektische Struktur. 3 In ihr gegeben sind Subjekt-Objekt als umgreifendes Reflexionsverhältnis. 4 Das Ganze des Arbeitsprozesses umgreift seine Glieder als eine Einheit im Gegensatz. Ein in einem Weltzusammenhang agierendes Subjekt verändert einen ihm äußerlichen und im bestimmten Sinn widerständigen Gegenstand in eine seinen Bedürfnissen entsprechende Gestalt. Diese hatte es zu Beginn seines Tuns bereits als Konzept in seinem Kopf konstruiert.Dabei bewirkt es mit der Veränderung des Gegenstands auch eine Veränderung seiner selbst. Es entwickelt durch Betätigung seiner Kräfte in ihm schlummernde Potenzen. Das in der Arbeit realisierte Verhältnis von Subjekt und Objekt ist also ein „wechselseitiges Reflexionsverhältnis“. 5 Im gegenständlichen Produkt sind Subjekt und Objekt der Arbeit aufgehoben. Im Prozess der Arbeit konstituiert sich damit ein Allgemeines, das die Gegensätze seiner Glieder umgreift. Das übergreifende Allgemeine als dialektische Grundfigur (Hans Heinz Holz) ist diesem Prozess strukturell inhärent. Dialektik, zeigt sich, ist die dritte Kernkategorie des neuen Denkens. Dialektik wird in einem zugleich ontologischen und logischen Sinn verstanden: als Wirklichkeitsstruktur und als Gedankenform bzw. als Methode, Wirklichkeit zu erkennen und auf der Grundlage dieser Erkenntnis verändernd in sie einzugreifen. Die dialektische Methode ist ein Verfahren genetischer Rekonstruktion: Sie fragt nach der Genesis von Seiendem: der Herkunft des Gewordenen in der Perspektive seiner Veränderung. Sie legt Sein als Werdend-Gewordenes frei – verflüssigt scheinbar feste Verhältnisse. Sie ist damit zugleich auch ein Verfahren der Kritik. Ihrer logischen Struktur nach ist Dialektik die Einheit von Negation und Synthesis. Ihre Grundfigur ist das umgreifende Allgemeine. Das bedeutet aber: materialistische Dialektik ist dem Kern nach synthetisches Denken, dessen Ziel der Gewinn positiven Wissens ist: die Interpretation der Welt als Bedingung ihrer Veränderung. Das synthetische Denken schließt notwendig das Moment des Kritischen ein:Es ist die Einheit von Kritik und positivem Wissen. In diesem Sinn ist der Marxismus also eine zugleich kritische und positive Theorie. Sein Ziel ist der Gewinn gesicherten Wissens, das dem Zweck praktischen Handelns dient.

(6) Kritik, Ideologie, Ideologiekritik

Eine weitere zentrale Kategorie marxistischen Denkens ist also die der Kritik. Kritik ist als konkrete Negation logischer Bestandteil der Dialektik als Methode. In diesem Sinn ist Kritik eine dialektische Kategorie. Kritik als dialektische Kategorie meint zweierlei: erstens die Kritik materieller gesellschaftlicher Verhältnisse und zweitens Kritik des Bewusstseins – wobei Bewusstsein als Ausdruck und Bestandteil materieller gesellschaftlicher Verhältnisse gedacht wird. Erstens.Materielle gesellschaftliche Verhältnisse sind Gegenstand der Kritik, sofern sie Verhältnisse sozialer Herrschaft, Verhältnisse der Unterwerfung und Ausbeutung sind. Die Kritik solcher Verhältnisse erfolgt in der Perspektive ihrer Aufhebung: ihrer Veränderung mit dem Ziel umfassender menschlicher Emanzipation, in der Perspektive einer real freien Gesellschaft. Die Kriterien dieser Kritik sind nicht die eines abstrakten Ideals, sondern erfolgen nach Maßstab des historisch Möglichen: der Möglichkeiten, die in einer gegebenen Gesellschaft schlummern. Dabei meint „Aufhebung“ nicht einfach Vernichtung des historisch Gegebenen, sondern meint Zerstörung und Bewahrung zugleich: Zerstörung des unterwerfenden Moments (der Verhältnisse von Erniedrigung und Exploitation), Bewahrung des zivilisatorischen. Damit meine ich zivilisatorisch-kulturelle Errungenschaften innerhalb der überkommenen Klassengesellschaft (so die Güter der kulturellen Entwicklung wie Kunst und Wissenschaft, aber auch bestimmte Rechtsgüter wie Völkerrecht, Menschenrecht, individuelle Rechte), die im Schoße der alten Gesellschaft entstanden sind und deren Bedeutung nicht in ihrer traditionellen und in der Klassengesellschaft normalen Funktion der Herrschaftssicherung aufgeht. Zweitens meint Kritik die Kritik von Bewusstsein, und zwar im doppelten Sinn: a) als Bestimmung kritischer Selbstreflexion, die nach den Möglichkeiten, Leistungen und Grenzen von Bewusstsein und Erkennen fragt, damit auch die Selbstkritik des Bewusstseins zu ihrem Gegenstand hat und b) als Kritik herrschenden Bewusstseins als Teil der Kritik gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Kernkategorie für diesen Zusammenhang ist die Kategorie der Ideologie. Ideologie, wie ich den Begriff hier verwende, 6 meint mehr als bloß falsches Bewusstsein, mehr aber auch als die „ideelle“, übers Innere der Subjekte wirkende Reproduktion von Klassenherrschaft. 7 Beide Bestimmungen fassen Dimensionen des Ideologiebegriffs als eines dialektischen, dieser geht in ihnen jedoch nicht auf. Er ist mehr als in diesen Bestimmungen ausgesagt. Ideologie als dialektischer Begriff bezieht sich auf jede Form institutionell verkörperten und sozial wirkenden Bewusstseins, unabhängig von der Art und Funktion solchen Bewusstseins, wobei vorausgesetzt wird, dass solches Bewusstsein eingebunden ist in ein Konglomerat von (oft undurchschauten) Vorurteilen, Setzungen, Meinungen und Interessen. Ein „interesseloses“ soziales Bewusstsein gibt es nicht.Unstrittig ist, dass Ideologie als herrschendes Bewusstsein die Reproduktion existierender Herrschaft besorgt und über das „Innere“ der Subjekte ihre Wirkung entfaltet. Doch auch widerständige, einer gegebenen Herrschaftsform oppositionelle, ihrem Sinn nach emanzipatorische Bewusstseinsgestalten sind „ideologisch“ – sie sind nicht per se und qua ihres oppositionellen Charakters „ideologiefrei“. Sie können dies sein, aber nur unter bestimmten Bedingungen. In der Regel sind auch sie eingebunden in ein Konglomerat von Meinungen und Interessen.Andererseits wiederum enthalten auch herrschaftskonforme Ideologien (im Bereich Religion, Recht, Kunst, Wissenschaft, Philosophie) oft ein enormes zivilisatorisches, kulturell emanzipatorisches Potential. Ja, die ideologischen Formen (Religion, Kunst, Recht usf.) sind selbst ein Terrain hegemonialer Kämpfe – sie sind, pointiert gesprochen,Ortschaften des Klassenkampfs. So charakterisiert Marx diese Formen als Ort, an dem sich die Menschen des sich in der Basis vollziehenden Konflikts (der materiellen „Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen“) „bewusst werden und ihn ausfechten“ (Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie). Wie immer hier „Bewusstwerden“ und „Ausfechten“ im Einzelnen verstanden werden mag – ob die „Herrschaftsreproduktion im Sinne einer Gouvernementalisierung der Subjekte“ (Haug) tatsächlich Marx‘ „Hauptgedanke“ in der Ideologietheorie ist, muss bezweifelt werden. Ideologien und ideologische Formen sind ihrem erkenntnistheoretischen Inhalt nach eine Verschränkung von Wahrem und Falschem als Momenten des ideologischen Bewusstseins. Sie sind also dialektischer Struktur. Damit sind sie von Lüge und Trug zu unterscheiden. 8 Doch auch im funktionalen Sinn sind Ideologien nicht eingliedrig verfasst. Ihre Funktion im historischen Kontext ist in der Regel variabel (war etwa der Protestantismus in der historischen Gestalt der Reformation Bestandteil der frühbürgerlichen Revolution und als solches eine antifeudale, revolutionäre Kraft, so wurde er mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer herrschaftsstabilisierenden,weitgehend repressiven ideologischen Macht). Eine dialektische Kritik von Ideologien hat also streng historisch zu verfahren. Sie hat, als methodologisches Prinzip, neben der Freilegung des Falschen auch das Wahrheitsmoment in einem ideologischen Gegenstand auszuarbeiten. Die Funktion von Ideologien ist je spezifisch und stets historisch-kontextuell zu bestimmen. Auch die Kritik des Bewusstseins muss also dialektisch verfahren: enthält die Momente von Zerstörung und Bewahrung. Ideologiekritik ist Dekonstruktion und Rekonstruktion zugleich, ja, sie vermag, in bestimmten Fällen, den Charakter einer „rettenden Kritik“ (Walter Benjamin) anzunehmen. Die Gewichtung beider Seiten wird je nach einer historischen Situation, den ideologischen Verhältnissen in ihr, unterschiedlich sein. Solange eine herrschende Ideologie unumschränkte Macht besitzt, wird ihre kritische Zerstörung die erste Aufgabe sein. Wenn diese gelöst ist, kann der Schwerpunkt auf die Erarbeitung ihres Wahrheitsmoments verlagert werden. Nicht immer jedenfalls wird beides gleichzeitig zu leisten sein, doch darf dialektische Kritik ihre doppelte Aufgabe nie aus dem Auge verlieren.

(7) Veränderung der Umstände und Selbstveränderung.

Marx‘ dritte Feuerbach-These lautet: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.“ Sie schließt mit dem Satz: „Das Zusammenfallen des Ändern(s) der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden“ (MEW 3, 5 f.). Die marxistische Literatur hat dieser These bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei ist sie von zentraler Bedeutung – nicht nur für den Grundansatz des Marxschen Denkens, sondern gerade auch für jeden Versuch einer Erneuerung des Marxismus. Sie ist conditio sine qua non seiner Zukunftsfähigkeit. In ihr legt Marx mit großer Eindeutigkeit zwei Axiome seines, des neuen Denkens fest: a) Die entschiedene Ablehnung jeder Form des Objektivismus. Die Umstände werden von den Menschen verändert. Dies ist der entscheidende Punkt. Jedem Determinismus (auch dem strukturmarxistischen) ist damit die Grundlage entzogen. b) Die Erziehung des Erziehers. Der Prozess der Veränderung umfasst zweierlei: die Veränderung der Umstände und die Selbstveränderung. Eine „Außenpostion“ gibt es für keine Instanz in diesem Prozess (weder für eine Person noch für eine Institution, auch für keine Partei) – so wenig es in ihm eine Position des absoluten Wissens gibt. Die Veränderung der Welt, die Erziehung der Menschen, die Bildung der Kultur schließt, wenn sie gelingen soll, notwendig ein, dass der die Welt Verändernde, der Erzieher und Bildner in diesen Prozess einbezogen ist. Der Verändernde muss selbst verändert, der Erzieher erzogen, der Bildner gebildet werden. Revolutionäre Praxis ist gerade die Einheit von Weltveränderung und Selbstveränderung – oder sie ist nicht. Die Einsicht in diesen Zusammenhang hat enorme Bedeutung für Theorie und Praxis einer sozialistischen Kultur.

(8) Dreidimensionalität der Wirklichkeit und ihrer theoretischen Form: der Marxismus als historisches Erkennen, Gegenwartsdiagnose und antizipatorisches Denken

Wirklichkeit als gewordene und werdende heißt: sie ist Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die Wirklichkeit, die der Marxismus als Theorieform erforscht, ist dreidimensional strukturiert. Sie ist auf die drei Dimensionen der Zeitlichkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gerichtet. Zum Relativitätsprinzip des Erkennens gehört, dass diese Forschung in einer je gegebenen Gegenwart den Standort hat, von dem her sie Vergangenheit und Zukunft erschließt. Der Tigersprung historischen Erkennens erfolgt vom Standpunkt der Gegenwart. In diesem strukturierten Sinn ist der Marxismus dreierlei: Er ist historisches Erkennen, insofern er die Vergangenheit erforscht. Er ist antizipatorisches Denken, insofern er die Zukunft erkundet, und er ist Diagnostik der Gegenwart, insofern er die Zeit begreift, in der er steht. Diese zeitliche Dreidimensionalität des Erkennens bildet einen Zusammenhang. So wird die Diagnose einer Gegenwart ohne Kenntnis der Vergangenheit und Durchdenken der Zukunft (der Möglichkeitsdimension eines historisch Wirklichen) nie vollständig zu haben sein. Historisches Erkennen ohne Bezug zur Gegenwart ist steriler Historismus, antizipatorisches Denken ohne Grund im Gegebenen abstrakte Utopie. Der Ort der Gegenwart nun ist der Punkt in der Zeit, der dauerndem Wechsel unterworfen ist. So stellt sich auch die Frage nach Zukunft und Vergangenheit in jeder neuen historischen Lage neu. Auch in diesem Sinn ist der Marxismus eine nie abgeschlossene, prinzipiell unabschließbare Theorie. Sicher: der Fundus des gesicherten Wissens wächst, und auf ihm ist aufzubauen. Der Prozess der Erweiterung aber ist unabgeschlossen. Zudem ist das überlieferte Wissen stets neu anzueignen, es ist für die Lösung anstehender Aufgaben produktiv zu machen. Nur als produktives Wissen hat es einen Sinn, der über seinen museal-historistischen Wert hinaus geht. Wie das gesamte Universum der überlieferten Kultur ist auch das überlieferte Wissen von jedem neuen historischen Zeitpunkt neu anzueignen.

(9) Ausarbeitung und epistemische Erweiterung: der Marxismus als Synthesis von Wissensformen

In mehr als einer Hinsicht also ist der Marxismus darauf angewiesen, ständig weiterentwikkelt, ausgebaut und durch neue Erkenntnisse vertieft zu werden. Diese Ausarbeitung hat in allen drei Zeitdimensionen zu erfolgen: a) mit Blick auf das Universum überlieferten Wissens und überlieferter Kultur (in menschheitsgeschichtlicher Perspektive, ohne jeden Restbestand von Eurozentrismus), b) im Sinn einer Aneignung des Wissens der Gegenwart, c) als Denken des historisch Möglichen, das nur auf der Grundlage des historisch Erkannten – begriffener Wirklichkeit – erfolgen kann. Es wäre eine Illusion und für die Zukunft des Marxismus letal zu glauben, dass die große Aufgabe solcher Ausarbeitung allein durch autochthone marxistische Forschungen eingelöst werden könnte. Um ihr gerecht zu werden, hat der Marxismus sich im vollen Umfang auch solcher wissenschaftlichen Erkenntnisse zu versichern, die nicht auf seinem theoretischen Boden entstanden sind. Gemeint ist die vorurteilsfreie Verarbeitung und Integration der Ergebnisse der positiven Wissenschaften, ganz gleich, welcher Herkunft diese sind. Dass bei dieser Verarbeitung das Wahre und Falsche, Brauchbare und Unbrauchbare sorgfältig zu scheiden sind, dass sie weiter in der Form einer Einarbeitung in einen gegebenen theoretischen Gesamtzusammenhang erfolgt, ist ganz selbstverständlich. Identität und Integrität des Marxismus dürfen dabei nicht verloren gehen. Dass dies geschehen könnte, ist freilich meine geringste Befürchtung. Der Marxismus verfügt, wenn er sich seiner Potentiale voll bewusst ist, über eine singuläre integrative Kraft, die es ihm gestattet, die divergierendsten Gedankenelemente, Erkenntnisse und Wissensformen produktiv zu verarbeiten, damit auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, unabhängig von ihrem institutionellen und ideologischen Kontext, in ein kohärentes Weltbild einzuarbeiten. Ja in dieser Fähigkeit liegt seine Einzigartigkeit und Stärke, die ihn auch bei seiner gegenwärtigen institutionellen Schwäche vor jeder konkurrierenden Weltanschauung heraushebt. Diese integrative Kraft hat in der materialistischen Dialektik ihren Grund. Die Ausarbeitung des Marxismus, die seine Zukunftsfähigkeit sichern soll, hat nicht allein durch die Aneignung des Universums überlieferten Wissens und überlieferter Kultur und die Einarbeitung der Ergebnisse der positiven Wissenschaften zu erfolgen. Dazu gehört vielmehr, im vollen Umfang, die Verarbeitung auch nichtwissenschaftlicher Weltanschauungsund Wissensformen, von Alltagsbewusstsein und Sprache über Mythos, Religion bis zu den Künsten. Dabei geht es nicht allein und auch nicht in erster Linie um die Ausarbeitung des Falschen und „Ideologischen“ in diesen Formen (dies gehört selbstverständlich immer dazu: die Kritik ist die Bedingung des Gewinns positiven Wissens), sondern gerade um das Herausarbeiten ihrer Wahrheitsmomente. In diesem Sinn ist ein Marxismus der Zukunft als eine Synthesis von Wissensformen zu konzipieren. Dabei kommt der Sprache und dem Alltagsbewusstsein eine besondere Bedeutung zu. In ihnen ist menschliche Erfahrung wie das Bewusstsein dieser Erfahrung („experientielles Wissen“) sedimentiert. Die eigentlich privilegierte Rolle in diesem Zusammenhang freilich spielt die Kunst. Im Universum des Wissens ist sie keine der Theorie untergeordnete geistige Gestalt, sondern die gleichrangige Partnerin der Theorie. Bei allen Differenzen zu Wissenschaft und Philosophie steht sie an deren Seite in der Aufgabe der epistemischen Erschließung der Welt. Ein Marxismus der Zukunft wird die Bedeutung der Kunst, auch ihre Bedeutung im Sinne produktiver Welterkenntnis, voll in seinen Begriff aufzunehmen haben. Ja, der Gedanke ist zu erwägen, ob dieser, gerade in seinem Charakter als philosophische Form, nicht erst in der Synthesis von Theorie und Kunst, Begriff und Ästhetik seine zukunftsentsprechende Gestalt finden würde. Für eine solche Synthesis gibt es Vorbilder: so das Werk Bertolt Brechts, Peter Weiss‘ Ästhetik des Widerstands, Pablo Nerudas Canto General. Ein zukünftiger Marxismus sollte dieser Vorbilder eingedenk sein.

(10) Anthropologische Erweiterung des Marxismus: Grundtatsachen menschlichen Lebens und das Problem der metaphysischen Erfahrung

Auch marxistisches Denken wird sich der Tatsache stellen müssen, dass es im menschlichen Dasein, so wie wir es historisch kennen, Erfahrungen gibt, deren kulturelle Formen wechseln, die sicher auch (historisch, sozial, individuell) unterschiedlich erlebt werden, die im Sinn existentieller Grunderfahrungen aber omnihistorisch sind. Sie sind eine „Tatsache des Lebens“, und wenn die Welt „die Gesamtheit der Tatsachen“ (Ludwig Wittgenstein) ist, so gehören solche Erfahrungen zur Welt und damit zu dem, was im marxistischen Sprachgebrauch „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ heißt. Was dann auch bedeutet: dass sie als existentielle Grunderfahrungen geschichtlich und gesellschaftlich sind. Das „Historische“ und das „Omnihistorische“ sind hier als Einheit zu denken. Solche Tatsachen – Grundtatsachen – sind: Zeugung, Geburt, Liebe, Glück, Leid, Krankheit, Tod. Die vielfältigen Erfahrungen der Natur treten hinzu. Weiter gibt es Erfahrungen, die zwar geschichtlich aufhebbar sind, die aber für den allergrößten Teil der uns empirisch bekannten Geschichte gelten: Krieg, Unterdrückung, Gewalt. Aus ihnen speist sich der stets neu geborene Wunsch nach Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit und Glück.Hinzu kommt aber auch ein Typus theoretischer Erfahrung, der zwar erst auf einem bestimmten kulturellen Niveau hervortritt, der gleichfalls jedoch den Charakter einer existentiellen Erfahrung besitzt oder zumindest besitzen kann, der keineswegs mit der Herausbildung einer auf Wissenschaft gegründeten Gesellschaft abstirbt. Dazu gehört die Erfahrung, die man traditionell mit dem Begriff des Erhabenen verbindet (so die der raum-zeitlichen Unendlichkeit des Universums). Auch die „philosophische Grundfrage“, „warum überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nichts?“ gehört in diesen Zusammenhang, mit ihr die Frage nach dem Sinn von Sein – dem sogenannten „Sinn des Lebens“. 9 Solche Fragen sind alles andere als nur „ideologisch“, wie manche Theoretiker des Marxismus meinen. Sie beruhen auf einer Erfahrungsart, die man, mit gebotener Vorsicht, „metaphysisch“ nennen kann. 10 D. h., sie artikulieren als Fragen theoretische Erfahrungen von existentieller Bedeutung für den Fragenden.Diese betreffen das Ganze und seinen Grund. „Dass ich erkenne, was die Welt/Im Innersten zusammenhält“: Faust formuliert hier die Grundfrage aller Metaphysik.Worauf gründet das Seiende im Ganzen? Die Frage schließt den Sinn dieses Ganzen ein. Ist der Grund bekannt, kann auch die Frage nach dem Sinn beantwortet werden. Die Frage bezieht sich auf das Ganze des Lebens als den Zeit-Raum zwischen Geburt und Tod, für den Einzelnen wie für die Gattung. Das Terrain, auf dem solche Erfahrungen und die aus ihnen sich ergebenden Fragen behandelt werden können, ist möglicherweise nicht mehr die Philosophie, als Terrain des Begriffs, sondern das Ästhetische als Terrain der Kunst. In ihrer Fähigkeit zur Synthesis geistiger Kräfte, der Eigenschaft, Bild und Begriff, Anschauung und Theorie zu verbinden, besitzen die Künste – vor allem Dichtung und Theater – das Vermögen zur Artikulation der Totalität menschlicher Erfahrungen, damit auch der metaphysischen; ein Vermögen, das die Philosophie als begriffliche Form der Erkenntnis nicht besitzt, nie besessen hat und nie besitzen kann.Denkbar freilich ist, dass die Philosophie selbst Denkformen entwickelt, die das Ästhetische einschließen. 11 So wird auch in einer Gesellschaft der Zukunft, die in ihrer Reproduktion auf wissenschaftlichen Grundlagen beruht, allein das Ästhetische die Rolle übernehmen können, die in traditionellen Gesellschaften die Religion oder quasireligiöse Ideologien ausüben. Zu den menschlichen Grundtatsachen gehört das Bedürfnis, in einer als sinnhaft erfahrenen Welt zu leben; eine Welt, in der auch die Stufen individueller Biographie als lebenszeitliche Einschnitte gelebten Lebens einen identifizierbaren Ort besitzen und Teile eines sinnhaften Ganzen sind. In traditionellen Gesellschaften entsprechen meist religiöse Ideologien diesem Bedürfnis – in der profanen werden ästhetische Formen an deren Stelle treten müssen.Wenn hier ein leerer Raum entstünde, könnte dies für die Gesellschaft fatale Folgen haben.

(11) Der Begriff eines „Integrativen Marxismus“

Zur Aufgabe steht nicht mehr und nicht weniger als dies: die Identität und Integrität des Marxismus zu wahren und ihn gleichzeitig zu einer universalen Theorie auszuarbeiten, die vom Standpunkt der Gegenwart in die Vergangenheit zurück und in die Zukunft voraus greift. So verstanden ist der Marxismus ein Denken des Vergangenen wie des Zukünftigen im Sinn einer Selbsterkenntnis der Gegenwart. Das meint materialistisch: „eine Zeit, in Gedanken gefasst“. Dabei darf bei allen Mühen der theoretischen Reflexion das Ziel aller Theorie nie aus dem Auge verloren werden. Es besteht darin, „die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu erleichtern“: dem Machen einer Welt,wo „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“ (Brecht).Es geht nicht allein darum, die Welt neu zu interpretieren – das ultimative Ziel ist, „sie zu verändern“. Für ein so konzipiertes Denken schlage ich den Begriff eines Integrativen Marxismus vor. „Integrativer Marxismus“ meint also den Marxismus als kritische, kohärente und umfassende, philosophisch begründete Weltanschauung, die sich in der Verarbeitung divergenter Momente des Bewusstseins und Wissens, der Wissenschaft und Kultur als philosophische erst konstituiert und entwickelt. Aufgrund der zeitlichen Dreidimensionalität, die strukturelles Merkmal marxistischen Denkens ist, umfasst das epistemische Feld dieses Denkens die Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinn ist der Marxismus historisches, zeitdiagnostisches und antizipatorisches Denken. Als historisches Denken erforscht er die Vergangenheit im Sinn einer Bildungsgeschichte der menschlichen Gattung, als zeitdiagnostisches Denken ist er Analyse und Theorie der Gegenwart, als antizipatorisches Denken ist er die Erkundung zukünftigen Seins im Horizont historischer Möglichkeit. In diesem Sinn ist er auch das Denken einer neuen Kultur.

(12) Denken einer neuen Kultur 12

Der Marxismus ist, wir sagten es, nicht nur das Denken gegebener Wirklichkeit, sondern auch das Denken des Möglichen als Teil dieser Wirklichkeit. Die Welt, die er in Gedanken fasst, enthält als geschichtliche die Zukunft im Sinn historischer Möglichkeit. Daher ist der Marxismus, gerade weil er auf das Ganze einer historischen Welt geht, nicht allein Denken des Gegenwärtigen und Vergangenen, sondern auch Denken des Zukünftigen: antizipatorisches Denken im Sinn eines Denkens konkreter Utopie.Die Kernkategorie dieses Denkens ist der Begriff einer neuen Kultur. Die Frage nach den Konturen eines zukunftsfähigen Marxismus ist also zu ergänzen durch die Frage nach den Konturen dieser neuen Kultur. Ja, diese Frage gehört zu den Anforderungen, die an jeden zukünftigen Marxismus zu stellen sind. Dabei geht es um keinen Rückfall in einen utopischen Sozialismus, sondern um das Einbringen eines utopischen Moments in das marxistische Denken selbst. Neue Kultur meint die Kultur einer sozialistischen, in historischer Perspektive kommunistischen Gesellschaft, d. h. einer solchen, die auf gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln aufbaut, in der die große Mehrheit der Menschen, idealiter alle Menschen die bestimmenden Subjekte politischen Handelns sind, deren Geschichte durch kooperative Planung geregelt ist, die juristisch die Form einer universal geltenden materialen Rechtsgesellschaft besitzt (d. h. einer solchen, in der uneingeschränkt Rechtsgleichheit herrscht, die individuellen und kollektiven Menschenrechte universal verwirklicht sind), in der Freiheit, Gleichheit, Solidarität als Grundkonsens menschlicher Gemeinschaft Gültigkeit besitzen – eine Gesellschaft, deren „Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist“ (MEW 23, 618). Eine solche Gesellschaft ist vorstellbar nur als Gesellschaft kultureller Individualitäten, einer Pluralität von Kulturen, deren Verhältnis zueinander durch gegenseitige Achtung, Rücksichtnahme und praktische Toleranz geregelt wird. Allen Vorurteilen und Missverständnissen entgegen: Kommunismus meint eine friedliche, solidarische Welt; die Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, ökonomisch, sozial, kulturell, die Überwindung nicht zuletzt auch des patriarchalischen Geschlechterverhältnisses; Befreiung von materieller Not als Bedingung kultureller Bildung; gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums als Voraussetzung für die Reichtumsentfaltung individuellen Lebens; Individualität als Kernkategorie; universale Durchsetzung menschlicher Rechte; Wissenschaft und Kunst als kardinale kulturelle Formen; Erhaltung und Pflege der Natur.

(13) Die historische Möglichkeit der neuen Kultur

Der Begriff einer kommunistischen Gesellschaft ist alles andere als abstrakte Utopie. Eine solche Gesellschaft ist heute historische Möglichkeit geworden. So gehört es bereits zu den Grunderkenntnissen des klassischen Marxismus, dass die Bourgeoisie mit der „fortwährenden Umwälzung der Produktion“, einer in der Geschichte einzigartigen Entfaltung der Produktivkräfte, der „kosmopolitischen Gestaltung der Produktion und Konsumtion aller Länder“ wie der „Zeugung“ des Proletariats (MEW, Bd. 4, 465 f., 468) Bedingungen für eine gesellschaftliche Formation geschaffen hat, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (ebd., 482), die „an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt“ (MEW, Bd. 4, 482). Was in der gesamten menschlichen Geschichte Wunschtraum und Utopie war, eine klassenlose, real freie Gesellschaft, eine Welt ohne Hunger, Krieg und Gewalt, ist damit im Prinzip realisierbar, also geschichtliche Möglichkeit geworden. Diese Möglichkeit wirklich zu machen ist die erste geschichtliche Aufgabe, vor die sich die Menschheit heute gestellt sieht. Gelingt sie, könnte mit gutem Grund von einem Bruch gesprochen werden, der die Geschichte der Menschheit von ihrer barbarischen Vorgeschichte trennt. - - - - - - - - - 1 Der vorliegende Text greift auf Gedanken zurück, die ich bereits in meinem Buch Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung, Wien 1992 vorgetragen habe. In erweiterter Gestalt wird er unter dem Titel Integrativer Marxismus und das Denken einer neuen Kultur in dem von der Marx-Engels-Stiftung vorbereiteten Band Konturen eines zukunftsfähigen Marxismus (Arbeitstitel) im Papyrossa Verlag Köln 2008 veröffentlicht werden. Seine ausführliche Ausarbeitung erfolgt im Rahmen eines Buchs, das unter dem Titel Der Logos im Wirklichen. Studien zu Grundlagenfragen marxistischen Denkens bei Peter Lang, Frankfurt a.M. 2008 erscheinen wird.Teile des Texts wurden bereits in der jungen Welt vom 26./27 August unter dem Titel Modell für die Zukunft: Integrativer Marxismus veröffentlicht. back 2 Vgl.Metscher, Diesseitigkeit und Realismus. Zur philosophischen Bedeutung der Lessingschen Dramaturgie. Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, 27 (1/2007). back 3 Die nähere Begründung dieser These werde ich in dem 2008 im Verlag Peter Lang, Frankfurt a.M. erscheinenden Buch Der Logos im Wirklichen. Studien zu Grundlagenfragen marxistischen Denkens vorlegen. Eine Vorarbeit findet sich in Logos und Episteme. Die Einheit der Vernunft und die Gestalten des Wissens. Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, 20 (2002), 49-76. back 4 Vgl.MEW 23, 192f. back 5 Hans Heinz Holz, Dialektik und Widerspiegelung. Köln 1983, 24. back 6 Die Ideologieproblematik kann meiner Auffassung nach erst im Rahmen einer umfassenden Theorie des Bewusstseins und der Bewusstseinsformen gelöst werden. „Bewusstsein“ besitzt dabei den Status der Primärkategorie – ist der Kategorie der „Ideologie“ also vorgeordnet. back 7 W. F. Haug, Das axiomatische Feld. Ein Neubeginn marxistischer Philosophie. junge Welt vom 26./27.August 2006. back 8 Vgl. Metscher, Der Zerfall des Bewusstseins in der imperialistischen Gesellschaft. Marxistische Blätter, 5/2005, 27-38. back 9 Dazu zuletzt Terry Eagleton,The Meaning of Life.Oxford 2007. back 10 Der Begriff der metaphysischen Erfahrung geht philosophisch auf Wilhelm Weischedel zurück, zumindest wurde er von ihm theoretisch ausgearbeitet. Bei Weischedel hat er einen existentialphilosophisch begründeten Sinn, der vom Marxismus aus materialistisch umzuarbeiten wäre. Von „metaphysischen“ Erfahrungen spricht übrigens auch Giorgio de Chirico (Estetica metafisica, 1919), doch in einem hiervon abweichenden Sinn. back 11 Von den Künsten her liegt der Einbezug des Theoretischen vor: bei Dante (Göttliche Komödie), Goethe (Faust), Brecht,Thomas Mann, Peter Weiss. back 12 Dazu des Näheren Integrativer Marxismus und das Denken einer neuen Kultur sowie Pariser Meditationen, Kap. Sozialismus und neue Kultur, 361-78; vgl. Fn. 1. back

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