Russland nach der Parlamentswahl

Die Auferstehung des Evil Empire

Demokratie ist, wenn ordnungsgemäß gewählt wird.

Der Stimmzettel ist heilig - wie immer die soziale Lage der Bevölkerung sein mag, verzweifelt oder luxuriös, vor der Wahlurne sind alle gleich, und wo die Wahl der politischen Körperschaften formal korrekt verläuft, steht dem Ausbau und der Vertiefung der zwischenstaatlichen Beziehungen nichts entgegen. Repressive und gewalttätige Innenpolitik kann nur als Verteidigung der Demokratie anerkannt und gebilligt werden, wenn sie der Bekämpfung von Bestrebungen dient, das Privateigentum aufzuheben oder einzuschränken, denn die westlichen Demokratien exportieren nicht nur Werte, sondern vor allem Waren.

Das ist eigentlich nicht so schwer zu kapieren, aber die Russen haben es mal wieder vergeigt. Die Parlamentswahlen im Dezember sind offensichtlich manipuliert worden: in Mordwinien etwa stimmten 109 Prozent für die vom Präsidenten unterstützte Partei Einiges Russland.
Aber die Manipulation war nicht nur ungeschickt, sondern überflüssig, denn es bestand kein Zweifel daran, dass Einiges Russland das Rennen machen würde; nur über die Höhe des Sieges konnte man nicht sicher sein.
Um eine Erklärung dieser Dummheit waren die deutschen Medien nicht verlegen. Sie haben eine Erklärung für alles, was in Russland vor sich geht, und zwar wirklich genau eine: Vladimir Putin. Der Präsident der Russländischen Föderation ist ein abgefeimter Geheimdienstler, skrupellos und machtbesessen, ein Strippenzieher, der mit Hilfe einer Clique von willfährigen Helfern ein korruptes und bürokratisches System regiert, das die Wirtschaft einem rigiden Staatsdirigismus unterwirft und in ihrer Entwicklung hemmt; ein autokratischer Herrscher, der die demokratische Opposition niedergeworfen hat und die russische Öffentlichkeit mit Propaganda berieseln und von freier Information fernhalten lässt; ein Kriegsherr, der in Tschetschenien ein mörderisches Regime errichtet hat und ein russisches (oder gar sowjetisches?) Imperium wiederherstellen will.

Jetzt lachen wir alle noch einmal hämisch über Gerhard Schröders "lupenreinen Demokraten", und dann wissen wir doch alles, was wir wissen müssen. Oder?

Vladimer Putin ist Angestellter eines Staates, der Russländischen Föderation, die ihrem Präsidenten laut Verfassung eine gewaltige Machtfülle gewährt.
Als Staatsoberhaupt und Chef der Exekutive bestimmt er die Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik, direkt unterstellt sind ihm die Ministerien der Verteidigung, des Inneren, das Außen- und das Justizministerium, das Ministerium für Katastrophenschutz und Zivilverteidigung, der FSB und die Dienste der Auslandsaufklärung. Er kann den Vorsitz bei Kabinettssitzungen führen, er ernennt und entlässt das Oberkommando der Streitkräfte, auf seinen Vorschlag bestimmen der Föderationsrat die Richter des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichts sowie den Generalstaatsanwalt, die Duma den Premierminister und, seit einer Verfassungsänderung im Jahre 2004, die Regionalparlamente die Gouverneure.
Die entscheidende Position im Lande hält also die Präsidialadministration, der gegenüber sich die Befugnisse des Premierministers und der Regierung mehr oder weniger auf Verwaltungsfragen beschränken.
Aber diese Verfassung ist nicht das Werk Putins, sie ist nicht speziell auf seine Person zugeschnitten, sie war vor ihm da. Sie stammt aus einer Zeit, als der Westen Russlands Weg mit Sympathie verfolgte, denn nachdem das Reich des Bösen zusammengebrochen war, konnte der ja nur in die Demokratie führen - und sie ist das Ergebnis eines Staatsstreichs von oben. Nachdem 1993 der Kongress der Volksdeputierten dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin das Recht, weiterhin per Verfügung zu regieren, verweigert hatte, löste dieser das Parlament auf. Eine illegale Maßnahme, aber sie diente der Angleichung des politischen Systems an westliche Muster und beförderte die Einführung der Marktwirtschaft, war also kein Ausdruck skrupelloser Machtbesessenheit, sondern ging schon irgendwie in Ordnung. Die Deputierten verbarrikadierten sich im Parlamentsgebäude, wo offenbar schon vorher Waffen gehortet worden waren, der Präsident ließ das Parlament stürmen.
Die Kämpfe forderten mehrere Hundert Opfer, schließlich setzte Jelzin sich durch und ließ eine neue Verfassung erarbeiten: die oben erwähnte.
In einem Referendum, an dem sich knapp 55 Prozent der Bevölkerung beteiligten, wurde sie mit einer Mehrheit von 58,4 Prozent angenommen. In den folgenden Jahren erwies sich die Duma als lebhaft, aber machtlos; es etablierte sich ein präsidiales Bürokratenregime, das sich allerdings als unfähig erwies, die Probleme des Landes in den Griff zu kriegen.
Die Souveränität des Staates zerfiel, ohne dass eine gesellschaftliche Organisation an ihre Stelle getreten wäre; es herrschte das Chaos, das bürgerliche Kommentatoren gern Anarchie nennen. Die Industrie wurde privatisiert. Während die Masse der Bevölkerung leer ausging, konnte sich die kleine Gruppe der sogenannten Oligarchen in kürzester Zeit enorm bereichern und eine Macht erwerben.
Um 1995 war die Umverteilung im wesentlichen abgeschlossen, und eine neue herrschende Klasse hatte sich formiert. Die Entwicklung von politischen Institutionen und erst recht die des kulturellen Habitus der Bourgeoisie dauert naturgemäß sehr viel länger, und das ist der Grund für die offensichtlichen Defizite der bürgerlichen Demokratie in Russland.
In derselben Zeit stieg die Arbeitslosigkeit rasant an, viele Firmen stellten Produktion und Lohnzahlungen ein. 1991 lagen 4,1 Prozent der Haushalte unter der Armutsgrenze, im folgenden Jahr war es bereits ein Drittel, 2001 waren es 25 Prozent und 2006 noch 16 Prozent. Verbreitete Mangel- und Unterernährung, Drogenmissbrauch und Alkoholismus, die sinkende Qualität der medizinischen Versorgung (oder die Unbezahlbarkeit einer angemessenen Behandlung) und die seuchenartige Zunahme von Krankheiten wie Tuberkulose führten zum Rückgang der Lebenserwartung, die bis 1987 auf knapp 70 Jahre gestiegen war. 2002 lag sie im allgemeinen Durchschnitt bei 66 Jahren, bei Männern bei 58,5 Jahren und damit unter dem Renteneintrittsalter. Die Zahl der Morde und Selbsttötungen stieg rapide.
Der Untergang der Sowjetunion und die Einführung des Kapitalismus hatten nicht zu Wohlstand und Freiheit geführt, und wer will, kann darüber erstaunt sein. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, spätestens mit der Finanzkrise von 1998 wurde klar, dass das Laissez-faire-Regime unter einem Präsidenten Jelzin mit einem ausgeprägten nepotistischen Einschlag nicht fortexistieren konnte, wenn nicht der vollständige Zusammenbruch der Russländischen Föderation riskiert werden sollte.
Die verschiedenen Fraktionen der Machtelite suchten einen Nachfolger für den kranken und unberechenbaren Jelzin, bei dem sie ihre jeweiligen Interessen aufgehoben sahen, und sie einigten sich auf den bis dahin öffentlich so gut wie unbekannten Putin, der konsequent als neuer Präsident aufgebaut wurde. Er war nach dem Ende der Sowjetunion in seiner Heimatstadt St. Petersburg unter dem liberalen Reformer Anatolij Sobtschak stellvertretender Bürgermeister geworden und 1996 als Verwaltungsfachmann in den Kreml gegangen.
1999 war er für kurze Zeit Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, bevor er im August desselben Jahres von Jelzin als Nachfolger vorgeschlagen wurde. Als Präsident begann Putin sofort mit einer Politik, die vor allem die staatliche Souveränität nach innen und außen wiederherstellen und der Russländischen Föderation realen außenpolitischen Handlungsspielraum verschaffen sollte.
Dabei ist es ihm gelungen, einige der Machtgruppen, die ihn in seine Position gebracht hatten, auszuschalten. So wurde zwar die Jelzin-Familie noch vor dem Wechsel im Präsidentenamt von Strafverfolgung freigestellt - anscheinend gab es Grund genug, auf einer solchen Regelung zu bestehen -, aber ihre Anhänger wurden nach und nach aus allen Ämtern verdrängt. Die politische Macht der Wirtschaftsoligarchen wurde gebrochen. Boris Berezovskij, der Ende der neunziger Jahre noch kräftig an der Installierung Putins als Präsident mitgewirkt hatte, wurde ins Exil getrieben, und vor allem der Prozess gegen den Ölmagnaten Michail Chodorkovskij war ein spektakuläres Signal an die neuen Reichen, sich aus der Politik herauszuhalten. Mit der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure und ihrer Einsetzung auf Vorschlag des Präsidenten wurden die regionalen Eliten wieder stärker der Zentralmacht unterworfen.

Die "Nordallianz"

Die Politik, die Putin vertritt, wird formuliert und getragen von einer Koalition aus liberalen Reformern und Vertretern der Staatsmacht, die vor allem aus den Geheimdiensten kommen, zum großen Teil sind das Leute, die schon in seiner St. Petersburger Zeit mit Putin zusammengearbeitet haben: die "Nordallianz". Diese Koalition versucht, die staatliche Handlungsfähigkeit zu stärken und setzt dabei auf die Kontrolle der Rohstoffwirtschaft und eine aktive staatliche Industrie- und Technologiepolitik, wobei aber weder Privateigentum noch Marktwirtschaft grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Dmitrij Medvedev ist als einer ihrer Vertreter zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im März nominiert worden, und die Unterstützung durch Putin dürfte seinen Sieg garantieren. Tatsächlich ist Putin der einzige Politiker, dem eine Mehrheit der Bevölkerung Vertrauen entgegenbringt. In Umfragen liegt die Zustimmungsrate für ihn konstant um die 60 Prozent, und selbst dann, wenn seine Werte fallen, profitiert davon kein anderer Politiker. Ähnliches Vertrauen genießt laut einer Umfrage des Levada-Instituts von 2004 das Amt des Präsidenten bei 50 Prozent der Befragten, danach folgen mit einem Wert von 40 Prozent die Kirche und mit 30 Prozent die Armee.
Exekutive und Judikative genießen praktisch kein Vertrauen, und das Schlusslicht in dieser Umfrage bilden die politischen Parteien - sie liegen sogar noch hinter der korrupten und allgemein verachteten Miliz (d.h. der Polizei).

Das an sich recht instabile politische System wird also vor allem über das Vertrauen in einzelne Personen zusammengehalten.

Es wäre zu billig, diese Situation nur mit der exzellenten PR-Arbeit der Präsidialadministration und der Propaganda der staatlich kontrollierten elektronischen Medien zu erklären (in den Zeitungen findet sich durchaus Kritik). Darin spiegelt sich auch das Misstrauen gegen ein politisches System, in dem der größte Teil der Bevölkerung einen existentiellen sozialen Absturz erlitten hat. Dazu kommt, dass es nie eine organisierte und gesellschaftlich verankerte Opposition - wie etwa in Polen - gegeben hat.
Die meisten der vielfältigen Basisinitiativen, die Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre entstanden waren, und die sich den unterschiedlichsten Themen gewidmet hatten, haben den wirtschaftlichen Kollaps, als jeder sich zunächst um das alltägliche Überleben kümmern musste, nicht überstanden. Die einzige Hoffnung auf Besserung (und was immer konkret darunter verstanden wird) verbindet sich daher für die meisten Bürgerinnen und Bürger mit der Person des Präsidenten.
Tatsächlich hat sich unter Putin die Situation einigermaßen stabilisiert.
Es ist gelungen, die staatliche Kontrolle über die wichtigsten Rohstoffe durchzusetzen, und angeheizt von den steigenden Öl- und Gaspreisen der letzten Jahre ist die russische Wirtschaft kontinuierlich gewachsen.
Die Löhne sind, allerdings ausgehend von einem äußerst geringen Niveau, gestiegen und werden auch tatsächlich ausgezahlt. Im Januar 2005 hat die Russländische Föderation ihre Schulden beim Internationalen Währungsfonds vorzeitig zurückgezahlt; sie konkurriert auf den Finanzmärkten um Investitionen, auf die die russische Industrie dringend angewiesen ist.
Die notwendigen Modernisierungen der Öl- und Gasindustrie, der Ausbau der Infrastruktur und die Erschließung neuer Gasfelder sind ohne solche Investitionen nicht finanzierbar. Gleichzeitig erhält Putin jedoch die staatliche Kontrolle über diese strategisch wichtigen Industrien aufrecht und versucht, die vollständige Durchdringung des russischen Marktes durch westliche Investoren abzuwehren.
Eine Politik, die zwangsläufig immer wieder gegensätzliche Interessen aus sich selbst gebiert, aber gerade deshalb auch ein Abbild der gegenseitigen Abhängigkeit ist, die im Bereich der Energiepolitik zwischen der EU und Russland besteht: während die EU und insbesondere Deutschland auf die russischen Gaslieferungen angewiesen ist, braucht Russland seine europäischen Abnehmer, allein schon, weil es noch auf einige Zeit an der Infrastruktur fehlen wird, um potentielle Kunden wie China oder Indien im großen Umfang zu beliefern.

Die "souveräne Demokratie"

Die grundsätzliche Westorientierung der russischen Politik ergibt sich nicht nur aus der Richtung der Pipelines.
Die These von der "souveränen Demokratie", die Vladislav Surkov im Februar 2006 vorm Zentrum für Parteistudien der Partei Einiges Russland entwickelt hat, zielt tatsächlich in diese Richtung.
Die souveräne Demokratie kann als Versuch gesehen werden, unter den spezifisch russischen Bedingungen die Voraussetzungen für ein bürgerlich demokratisches System zu schaffen. Surkov sieht die Demokratie als das effizientere politische Modell und hält eine offene Gesellschaft für nötig, um den russischen Staat in die Weltwirtschaft zu integrieren. Russland gehöre zu Europa, weise aber wichtige, historisch bestimmte Unterschiede auf, daher müsse es seinen eigenen, souverän bestimmten Weg zur Demokratie gehen.
Seit 2000 finde eine Korrektur der Fehlentwicklungen unter Jelzin statt; nötig seien nun vor allem die Schaffung einer loyalen und kompetenten politischen Elite, langfristig die Konstitution einer "nationalen Bourgeoisie".
Zunächst aber müsse die präsidiale Partei, also Einiges Russland, ihre Stellung in der russischen Gesellschaft konsolidieren, für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre müsse sie eine dominante Stellung einnehmen.
Außenpolitisch sei Russland auf Kooperation bei Hochtechnologie und Wissenstransfer angewiesen.
Es benötige ein stabiles Netz von Kooperationsbeziehungen zu Partnern wie der EU, China, Indien, den USA.
Russland dürfe sich nicht nur auf seine Rohstoffe verlassen, sondern müsse versuchen, mit eigenen Produkten auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden.
Außerdem liege es in Russlands Interesse, für demokratische Beziehungen im internationalen Staatensystem einzutreten, es habe ein Wort bei der Gestaltung der Globalisierung mitzureden.
Das ist der Entwurf eines kohärenten Programms, von dem man natürlich nicht sagen kann, ob es wirklich funktionieren wird, oder ob die autoritäre Lenkung nicht aus sich heraus die Entwicklung bürgerlicher Institutionen verhindern wird; aber man sollte es zunächst einmal ernst nehmen. Als Putin seine Unterstützung für Einiges Russland und später für Medvedevs Kandidatur erklärt hat, hat er sich auch hinter dieses Programm gestellt, mit dem sich die reale Politik der Russländischen Föderation auch ganz gut erklären lässt.
Sie ist berechenbar und lässt sich in ihren Zielen und Mitteln einschätzen, was nicht heißt, dass sie sympathisch sein muss; aber sie hat eben auch nichts mit dem Schreckgespenst zu tun, dass die deutschen Medien in gewohnter Einigkeit von ihr zeichnen.
Der russische Staat ist zwar keine Großmacht und wird es auch in absehbarer Zeit nicht werden, aber er ist in der Lage, unter recht realistischer Beurteilung seiner Möglichkeiten seine Interessen zu verfolgen, und manchmal drängt sich der Eindruck auf, die westliche Politik nimmt ihm das gerade deswegen so übel, weil sie es ihm nach dem Zerfall der Sowjetunion und den chaotischen Jelzin-Jahren weder zugetraut hätte noch es ihm als halbwegs gleichrangigem Partner zugestehen mag: eigentlich hat der Russe etwas weiter unten zu liegen!
Der freie westliche Qualitätsjournalismus erklärt sich die russischen Zustände daher gerne durch Personalisierung und Dämonisierung: Vladimir Putin, eine nicht recht durchschaubare Mischung aus Zar und Stalin, will seine Macht nicht aufgeben und greift deshalb zu Tricks und Manipulationen.
Auf der Homepage von n-tv liest sich das so: "Auch wenn er in Kürze nicht mehr als der russische Präsident agieren sollte, wird er doch weiter im Sattel sitzen.
Dazu hat der einst so blasse und stets nüchtern wirkende Ex-Geheimdienstler wohl auch zuviel Freude an den Attributen der Macht.
Inzwischen trägt er mit Vorliebe Brioni-Anzüge und Krawatten von Moschino oder Valentino. Auch soll er Medienberichten zufolge eine mehr als 40.000 Euro teure Patek-Philippe-Armbanduhr besitzen."
Na also.
Wozu sich mit irgendwelchen Analyseversuchen abplagen, es ist doch eh immer dasselbe: Der Russki und die Armbanduhr.

Christian Axnick

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 327, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 37. Jahrgang, Januar 2008, www.graswurzel.net