Über die Kinderprostitution an der deutsch-tschechischen Grenze scheint es ‚eine‘ Wahrheit nicht zu geben.
"Sozialarbeiter fürchten Zunahme des Sextourismus": Diese Nachricht ging vor wenigen Wochen durch die deutsche Presse. Konkret handelte es sich um eine dpa-Meldung, die auf einem Interview mit der Sozialarbeiterin Cathrin Schauer basierte. Sie ist mit KARO, ihrem Verein für grenzüberschreitende Prävention und Sozialarbeit in Prostitutions- und Drogenszenen, schon seit Jahren im deutsch-tschechischen Grenzgebiet aktiv: Vor allem betreut sie Frauen und Mädchen, die in Tschechien als Prostituierte arbeiten. Sie macht Gesundheitsaufklärung, verteilt Kondome und unterstützt Ausstiegswillige. Nun befürchtet Schauer nach dem geplanten Wegfall der Grenzkontrollen im Zuge des Beitritts der Tschechischen Republik zum Schengener Abkommen einen Anstieg des Frauen- und Kinderhandels.
Ohne Zweifel haben Cathrin Schauer und ihre KollegInnen einen tiefen Einblick in die Prostitutionsszene, die in der nordböhmischen Region durch umfangreichen Sextourismus aus Deutschland geprägt ist. Mit ihrer Publikationstätigkeit und der Bereitschaft, mit JournalistInnen zusammen zu arbeiten, lassen sie die Öffentlichkeit regelmäßig an ihrem Wissen teilhaben. Das hilft ihrem Verein, sich auch prominente Unterstützung zu sichern; ob es aber den von ihr betreuten Klientinnen hilft, ist fraglich. Denn diejenigen, die gegen Kinder- und Zwangsprostitution vorgehen müssen - Polizei, Staatsanwaltschaften und Ordnungsbehörden - haben andere Beobachtungen gemacht als Schauer. Hier lassen sich nur Aussagen über das diskursive Phänomen ‚Kinderprostitution‘ treffen. Eine Wahrheit über die Prostitution im deutsch-tschechischen Grenzgebiet gibt es allem Anschein nach nicht.
Einige Gründe sprechen dagegen, dass Menschenhandel und Sextourismus mit dem Wegfall der Grenzkontrollen zunehmen. Zum einen waren die Kontrollen in den vergangenen Jahren eher symbolisch. Zum anderen werden Opfer von so genanntem Menschenhandel in der Regel - wenn überhaupt - nicht an den Grenzen ‚gefundenÂ’, sondern ‚in der TiefeÂ’: durch verdeckte Fahndung oder durch Razzien in Bordellen. Das ändert sich auch nach dem tschechischen Schengen-Beitritt nicht. Es geht nicht darum, Nichtregierungsorganisationen Alarmismus vorzuwerfen. Vielmehr sollten wir untersuchen, wie JournalistInnen ungeprüft mit höchst brisanten Informationen umgehen.
So dominieren Aussagen des Kriminalpsychologen Adolf Gallwitz die Berichterstattung über die Prostitution im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Er prägte den Satz, die Gegend von Dubí bis Cheb sei "das größte Freiluftbordell Europas". Dieser Satz fehlt in kaum einem Zeitungs- oder Zeitschriftenartikel zur Prostitution oder zur so genannten Kinderprostitution in der Tschechischen Republik. Seine grob gezeichnete, moralisierende Botschaft ist geeignet, eine ganze Region öffentlich zu diskreditieren.
Medienhype statt Recherche
Ausgangspunkt der intensiven Berichterstattung war das 2003 erschienene Buch Kinder auf dem Strich von Cathrin Schauer. Die Autorin machte wiederholt die Beobachtung, dass deutsche Männer Minderjährige gegen Geldzahlungen sexuell missbrauchten. Aufgrund dieser Wahrnehmung änderte sie ihren ursprünglichen Fokus, welcher auf der Betreuung von professionellen Sexarbeiterinnen lag, und weitete ihn auf Kinderprostitution aus. Mit Kinder auf dem Strich sowie zahlreichen Vorträgen versuchte Schauer, ein öffentliches Bewusstsein für dieses neu definierte Problem zu erzeugen.
Dazu nutzte sie - absichtlich oder nicht - vier Instrumente, die ihre Einzelfallbeobachtungen medial anschlussfähig machten: Sie nannte die Zahl von 500 Kindern, die seit 1996 in der Region auf dem Straßenstrich beobachtet worden seien. Das erzeugte den Eindruck, dass es sich um ein Massenproblem handele, das politisch gelöst werden muss. Ihre Publikation wurde von zwei etablierten internationalen Institutionen unterstützt: der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung (ECPAT) und der UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). Der Kriminalpsychologe Gallwitz ‚verifizierteÂ’ ihre Erkenntnisse mithilfe der Reputation, die WissenschaftlerInnen von den Medien zugeschrieben wird.
Zudem verwendete die Sozialarbeiterin journalistische Erzählmuster der Reportage: zuerst das Einzelschicksal, dann die Generalisierung und gesellschaftliche oder politische Problematisierung. Das Motiv einer solchen Reportage lässt sich etwa so zusammenfassen: "Ich möchte Betroffenheit hervorrufen und Sensibilität schaffen, damit endlich dort interveniert wird, wo die Menschenrechte der Kinder noch immer mit Füßen getreten werden." Das Thema ‚Kinder als Beute von Sextouristen‘ wühlt auf, die Erzählung aus der Opferperspektive macht betroffen - die mediale Anschlussfähigkeit ist sicher.
Ihre Öffentlichkeitsarbeit war sehr erfolgreich. In internationalen Zeitungen und Zeitschriften über Kinderprostitution in der Tschechischen Republik stellen Cathrin Schauers Beschreibungen fast immer die einzige Referenz dar, wenn es darum geht, die Behauptung von der Kinderprostitution zu belegen. Gelegentlich haben Journalisten versucht, das Phänomen selbst - ‚undercoverÂ’ - zu überprüfen, jedoch erfolglos.
Wo sind die Prostituierten?
Der öffentliche Skandal der Kinderprostitution blieb nicht ohne Folgen: Regierung und Kommunen sahen sich zunehmend unter Druck gesetzt zu handeln. Während der Freistaat Sachsen zunächst offensiv agierte, versuchten die tschechische Regierung und der Oberbürgermeister von Cheb, dem Imageverlust entgegenzuwirken, indem sie die Erkenntnisse von KARO infrage stellten. Das bilaterale Verhältnis war 2003 und 2004 auch wegen dieser Frage ziemlich angespannt. Vielleicht war es nur das zufällige Zusammentreffen zweier Ereignisse. Vermutlich aber hat diese Debatte dazu beigetragen, dass die Tschechische Republik sich verstärkt darum bemühte, Prostitution auf lokaler wie nationaler Ebene gesetzlich zu regeln. Auch bei den Polizeien beider Länder hat das öffentliche Interesse einen gewissen Handlungsdruck erzeugt. Offenbar sahen sie sich gezwungen, enger grenzüberschreitend zu kooperieren. Dabei waren die polizeilichen Erkenntnisse jedoch nicht mit den Beobachtungen Schauers in Übereinstimmung zu bringen.
Woran liegt das? Eine Anleihe bei Mariana Valverdes Konzept des "hybriden Verwaltungswissens" hilft, die unterschiedlichen Wahrnehmungen zu erklären: Das Wissen der Verwalter ist nicht standardisiert. In der jeweiligen Problemwahrnehmung fließen gesetzliche Vorgaben, die ‚Anschauung vor Ort‘, persönliche Einstellungen, Sozialisation und auch kollektive Werthaltungen zusammen. Jede Behörde - und natürlich auch der Verein KARO - stellt ein Subsystem dar, das nach eigenen Logiken funktioniert, die nicht mit den Logiken anderer Systeme übereinstimmen. Deshalb wird ein Polizeibeamter in Plauen oder Cheb unter ‚Kinderprostitution‘ etwas anderes verstehen als KARO.
Genauso ist die jeweilige Interventionsfähigkeit an spezifische Eigenlogiken gebunden. Die Behörden haben sich zu mehr Zusammenarbeit und Kontrolle entschlossen. Die Polizei kann aber ohne Anlass nur öffentliche Räume kontrollieren. Das hat dazu geführt, dass die Straßenprostitution im Grenzgebiet fast verschwunden ist. Was in Bordellen oder Wohnungen passiert, kann der Polizei nur bekannt werden, wenn die Opfer eines Verbrechens Strafanzeige erstatten und bereit sind, vor Gericht auszusagen. Polizeien und Staatsanwaltschaften können nur einzelne Fälle bearbeiten, nicht aber die politischen Probleme dahinter.
Die groß angelegte Veröffentlichung und Politisierung eines strafrechtlich relevanten und äußerst sensiblen Problems eröffnet vielen Personen die Möglichkeit, sich öffentlich zu profilieren. Die grenzüberschreitende Prostitution wurde zu einem Medienereignis. Dieses hat die lokale Kontrolle über die Prostitution nicht erleichtert - wohl aber vorangetrieben. Den möglichen Opfern hilft das wenig.
Daniel Schmidt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Eine Langfassung seiner Studie kann unter www.uni-leipzig.de/~v-prost abgerufen werden.