Geteiltes Heim

In Wien soll ein Eruv errichtet werden. Die so genannte "Sabbatgrenze" hilft vor allem Frauen durch den jüdischen Ruhetag.

"Eine Frage, die mich schon länger beschäftigt. Nehmen wir mal folgende Situation an: Es ist Schabbes. Ihr wollt zum G-ttesdienst(1). Ihr wohnt aber mehr als 1000 Schritte von der Synagoge entfernt. Wofür entscheidet ihr euch - die 1000 Schritte einhalten, oder lieber zum G-ttesdienst gehen?", fragt Merav. Yael antwortet: "Nu, zu Hause bleiben. Denn es ist nicht erlaubt, eine Mitzwa [Gebot, Anm.] zu brechen, um eine andere zu erfüllen."
Frage und Antwort finden sich in einem jüdischen Internet-Forum und werden dort heftig diskutiert. Die tausend Schritte, wird Merav von einem anderen User belehrt, sind eigentlich 2000 Ellen. Und es sei lediglich verboten, sich am Sabbat weiter als 2000 Ellen vom Stadtrand zu entfernen. In der Stadt selbst könne man laufen, so weit man möchte. Also auch zur Synagoge gehen. Das mit der Mitzwa sei aber richtig: Kein Gebot darf zugunsten eines anderen missachtet werden.

Mizwot. Der Sabbat ist der jüdische Ruhetag und von Freitag- bis Samstagabend gelten zahlreiche solcher Mitzwot. "Strenggläubigen Jüdinnen und Juden ist am Sabbat etliches untersagt. So auch das Tragen von Gegenständen im weiteren Sinn (Schieben von Kinderwägen) aus dem Privatbereich in den öffentlichen Raum," sagt Ursula Ragacs, Professorin am Institut der Judaistik in Wien. Da zugleich aber der Besuch des Gottesdienstes, zumindest für männliche Juden, unbedingt geboten ist, kann es zu einer Kollision unterschiedlicher Sabbatregeln kommen. So verstoßen neben Eltern mit Kleinkindern auf dem Arm oder im Kinderwagen etwa auch RollstuhlfahrerInnen gegen das Trageverbot.
Um allen orthodoxen Jüdinnen und Juden den Besuch der Shul (Synagoge) zu ermöglichen, werden in vielen jüdischen Gemeinden so genannte "Eruvim" errichtet. "Ein Eruv, der einen gewissen öffentlichen Bereich umschließt, macht diesen Raum symbolisch zum Privatbereich und ermöglicht dadurch in diesem dasselbe Verhalten wie es für den Privatbereich gestattet ist. Damit wäre es strenggläubigen Frauen z. B. möglich, auch am Sabbat mit dem Kinderwagen auf die Straße zu gehen", erklärt Ragacs. "Das Wort Eruv bedeutet so viel wie Vermischung, Vermengung von religionsgesetzlich Verbotenem in den erlaubten Bereich." Ursprünglich war ein Eruv z. B. einfach ein von Mauern oder Zäunen umgebener Hof, der von den Familien mehrerer Häuser benutzt wurde. Durch das Teilen von Brot innerhalb des geschlossenen Areals erklärten die BewohnerInnen es symbolisch zum "gemeinsamen Heim" und hoben damit die für den öffentlichen Raum geltenden Einschränkungen auf. "Es gibt nicht nur Eruvim, die sich auf das Tragen beziehen, sondern auch solche anderer Art. Sie alle gehen auf biblische Texte und deren Bearbeitung in der so genannten rabbinischen Literatur, in schriftlicher Form ab ca. 200 n. Chr., zurück," präzisiert Ragacs.
Heute ist mit einem Eruv fürs Tragen eine symbolische Mauer gemeint, die jüdische Wohngebiete umgibt. Weltweit gibt es außerhalb Israels über 150 Eruvim, beispielsweise in London, Ottawa und Antwerpen. Auch das Europäische Parlament in Straßburg und das Weiße Haus in Washington liegen innerhalb einer solchen "Sabbatgrenze".

Mauern. Auch in anderen Foren wird derzeit heftig diskutiert. Denn die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien will nun ebenfalls einen Eruv errichten, was eine Flut antisemitischer Postings als Reaktion auf entsprechende Artikel im Internet zur Folge hat.
Andernorts kam es bereits zu Konflikten. So entbrannte beispielsweise in London anlässlich der Eruv-Errichtung eine Kontroverse über die Unterscheidung von religiösem und öffentlichen Raum und der Notwendigkeit einer Trennung von Kirche und Staat.
In Wien macht man sich nicht einmal die Mühe, Antisemitismus als Laizismus zu tarnen. Der altbekannte Volkszorn kommt ganz unverblümt daher und weitgehend sogar ohne Argumente aus. Er hetzt gegen "Ghettoisierung" und die unterstellte Verschwendung von Steuergeldern. Ganz unbeirrt von der Tatsache, dass die IKG versichert, den Bau vor allem mit Spendengeldern finanzieren zu wollen sowie sie auch die Kosten für die Instandhaltung selbst tragen wird. Die genaue Summe lässt sich noch nicht abschätzen, für die Errichtung werden bislang aber maximal eine Million Euro veranschlagt.
Eine Wiedererrichtung ist es, um genau zu sein. Gegenwärtig existiert in Österreich nur noch in Hinterglemm im Pinzgau ein Eruv. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren jedoch auch die Wiener Leopoldstadt, die so genannte "Mazzesinsel", von einem "Sabbatzaun" begrenzt, den Donau und Donaukanal bildeten, ruft Maurizi Berger, Planungsbeauftragter der IKG, in Erinnerung.

Masten. Auch der neue Eruv wird solche natürlichen Grenzmarkierungen einschließen und soll diesmal zusätzlich auch die Bezirke 1.-9. innerhalb des Gürtels umfassen.
Für die Eruvim werden in den allermeisten Fällen nicht extra Mauern oder Zäune aufgestellt, weshalb Unkundige meist gar nicht merken, wenn sie einen Eruv passieren. Vielmehr behilft man sich mit unterschiedlichsten landschaftlichen und städtebaulich vorhandenen Begrenzungen, in Wien über weite Strecken mit der ehemaligen Stadtbahn (der heutigen Linie U6). Doch das entscheidende Qualitätsmerkmal eines Eruvs ist: er muss lückenlos sein. Deshalb muss etwa die Strecke, die von der U6 unterirdisch zurückgelegt wird, mit Drähten überbrückt werden. Und auch die Stadtbahnbögen müssen mit Drahtseilen "geschlossen" werden. Symbolisch steht der Eruv für eine Mauer, erläutert Berger den Grund. Und selbstverständlich hat eine Mauer auch Tore und Eingänge, die aber mit Torbalken verriegelt werden können. Um im Bild zu bleiben, müssen deshalb auch die Lücken im insgesamt 25 Kilometer langen Grenzverlauf mit solchen symbolischen Torpfosten und Torbalken versehen werden. Spannt man etwa einen Draht zwischen zwei Masten, ist darauf zu achten, dass sich der Draht knapp oberhalb der Mastspitze befindet, so wie eben auch ein Torbalken stets auf den Pfosten liegt. Teilweise werden dafür z. B. bestehende Laternenpfosten genutzt, mitunter müssen aber auch neue Masten gesetzt werden.
Die Projektierung ist mittlerweile abgeschlossen, die Gespräche mit den jeweiligen Behörden erweisen sich jedoch als äußerst kompliziert. So sind je nach Abschnitt beispielsweise die Wiener Linien oder die Bundesbahnen zuständig, dann wieder unterschiedliche Magistratsabteilungen (die MA 19 fürs Stadtbild, das Stadtgartenamt etc.). Dennoch ist Berger optimistisch und rechnet noch 2008 mit der Fertigstellung.

Minjan und Minhag. Im jüdischen Forum hat sich die Diskussion mittlerweile auf die Frage nach der Beteiligung von Frauen am Gottesdienst verlagert. Inzwischen gibt es längst auch progressive Gottesdienste mit einem so genannten "egalitären Minjan" (im orthodoxen Judentum wird ein Minjan aus mindestens zehn erwachsenen jüdischen Männern gebildet). Meist zählen Frauen aber weiterhin nicht dazu, dürfen nicht aus der Tora lesen und müssen getrennt von den Männern auf der Galerie sitzen.
So unterschiedlich diese Traditionen von den Mitgliedern des Diskussionsforums auch bewertet werden, in einem Punkt herrscht Einigkeit. Solange Frauen gar nicht erst die Möglichkeit haben, in die Synagoge zu gehen, werden sie dort auch nichts ändern können. Und ganz unabhängig vom religiösen Bedürfnis ist es auch der Wunsch nach sozialem Kontakt, der den Besuch der Synagoge selbst für weniger strenggläubige Jüdinnen wichtig macht. Schoschana schreibt: "In die Synagoge zu gehen ist vielfach ein fester Minhag [Brauch, Anm.] und eine wichtige soziale Anbindung, vor allem hier in der Diaspora. Alle meine Freundinnen und Bekannten mit kleinen Kindern jammern, solange sie nicht gehen können."
Vor allem Frauen mit Kleinkindern werden also vom neuen Eruv in Wien profitieren, ist Ursula Ragacs überzeugt. Maurizi Berger ergänzt: Aber natürlich auch Väter mit Kinderwagen!

1 Der Name Gottes ist im Judentum unaussprechlich und wird deshalb auch nicht ausgeschrieben.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at