Sozialstaat und Innere Sicherheit

Wie "Reform" die "Sicherheitsgesellschaft" gebar

Wir widmen diesen Beitrag unserem Freund Achim Trube, der am 31. 12. 2007 verstarb.Die Sozialpolitik der vergangenen Jahre hat den einstigen Sozialstaat in seinen Grundfesten verändert. Die negative

n Sanktionen, die er heute systematisch einsetzt, haben Wirkungen auf die Gesellschaft: Auch sie veränderte sich in ihren Grundfesten. Dies war eine entscheidende Geburtshilfe für das mittlerweile herrschende Verständnis von "Innerer Sicherheit". Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt verfolgen diese Entwicklung.

Die gegenwärtige Sozialstaatsreform und ihre dauerhaften Korrekturen wecken Erinnerungen an die Marxsche Verelendungstheorie. Ihr ging es um den Nachweis, dass unselbstständige Arbeit auf Dauer nicht in der Lage ist, die Existenz der von ihr abhängigen Menschen zu sichern, und deshalb dauerhafte staatliche Interventionen (unter kapitalistischen Bedingungen) vonnöten seien, damit diejenigen, die von Arbeit leben müssen, von ihr auch leben können. Dieser Tatbestand hat die Entwicklung des Sozialstaates mit verursacht. Die Sozialstaatsagenda der Gegenwart erklärt neuerdings die gängigen Formen sozialstaatlicher Aufrechterhaltung der Funktionalität lohnabhängiger Arbeit für problematisch, weil sie die Eigenverantwortung der Leistungsempfänger schwäche. Aktivierungspolitik statt generöser Transferleistungen lautet die Programmatik der Sozialstaatsmodernisierung, deren oberstes Ziel darin besteht, die von Arbeit Ausgeschlossenen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die schrittweise Indienstnahme der Sozialpolitik für arbeitsmarktpolitische Zielsetzungen war von vornherein so angelegt, dass sie auch der Eigenverantwortung der ansonsten hoch gehandelten Zivilgesellschaft wenig Vertrauen entgegenbrachte: Zwangsinstrumente wie das Fordern und Fördern wurden gesetzlich festgeschrieben, und der "Integrationswille" der arbeitslosen Menschen wurde mit der Verpflichtung zur Annahme jeglicher Arbeit unmissverständlich sozialstaatlich flankiert.

Die punitive Seite der Sozialstaatsreform1 wird inzwischen als Erfolgsbilanz gelesen. Dabei ergeben sich aus sozialstaatlicher Sicht allerdings Probleme, denn zum einen gibt es nicht genügend Arbeit, und zum anderen können die in Arbeit Integrierten von dieser vielfach kaum leben. An der Debatte um die Notwendigkeit eines Mindestlohns wird sichtbar, dass der Ausbau des Niedriglohnsektors nicht ohne die staatliche Subventionierung von Löhnen machbar ist und sich dadurch die Sinnhaftigkeit der gesamten Operation selbst in Frage stellt.

Renaissance des Zwangs

Als Folge lässt sich gegenwärtig beobachten, dass die Anzahl derer rasant zunimmt, die unter prekären Bedingungen ihren Lebensunterhalt bestreiten (müssen), und sich dadurch auch bei uns die Klasse der "working poor" verfestigt. Parallel dazu lässt sich feststellen, dass sich unter dem Stichwort Prävention eine umfassende Revision des Systems Innerer Sicherheit vollzieht, um zu verhindern, dass die zunehmende Produktion gesellschaftlicher Armut zur Gefährdung der inneren sozialen Ordnung führt. Anfänglich als Konzept zur Kriminalitätsbekämpfung und Kriminalprävention vorgesehen, hat sich die Polizeistrategie "Null-Toleranz" zum neuen regulativen Prinzip personenbezogener Dienstleistungen weiterentwickelt. Der neue Sozialstaat will nicht nur sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gestaltungsfunktionen ausüben, er will sich auch als "starker Staat" präsentieren. Die neue "Politik der Härte" soll "soziale Ausgrenzung, gesellschaftliche Anomie, zunehmende Kriminalität und die Herausbildung einer breiten Unterklasse"2 stoppen und legitimiert mit dem Zweck auch bislang verpönte Mittel: Die Zunahme kontrollierender und repressiver Interventionsformen lässt die Konturen einer "Sicherheitsgesellschaft"3 erkennen, in der Prävention als soziale Kontrolle und Disziplinierung organisiert wird und zu einer "Renaissance des Zwangs"4, vielleicht sogar einer "Lust auf Strafen"5, beiträgt. Die "Politik der Härte" wartet nicht auf den Ruck, der durch die Gesellschaft gehen soll, sondern setzt "aktiv" die Anpassung an gesellschaftliche Normen durch. Die innere Aufrüstung des Staates ist von der Kriminalpolitik über die Arbeitsmarktpolitik bis hin zur Sozialpolitik und Jugendarbeit beobachtbar6, und es scheint so, als würde der starke Staat seine Politik der Härte auf noch mehr Bereiche ausdehnen und abweichendes Verhalten, da wo es auftritt, so rigoros zurückdrängen wollen wie schon im Bereich Obdachloser und Bettler, die als Sicherheitsrisiko zunehmend Zielgruppen innerstädtischer ordnungspolitischer Maßnahmen werden7.

Workfare-Staats-Ordnung

Die Sozialpolitik des Fordern und Fördern, wie sie die Agenda 2010 der rot-grünen Koalition formulierte, beinhaltet die Neubetonung und Ausweitung der Eigenverantwortung und Selbstaktivierung; sie werden notfalls auch mit Zwang durchgesetzt. Dabei handelt es sich um mehr als nur einen Politikwechsel. Es geht um die Durchsetzung eines neuen Sozialmodells: Der Wohlfahrtsstaat sieht seine Sozialleistungen neuerdings als Bestandteil einer "welfare-to- work"-Politik, die Leistungsbezieher in Beschäftigung vermitteln will und deshalb auch als Workfare statt Welfare beschrieben wird8. Workfare-Regimes gehen davon aus, dass Leistungsempfänger eine Gegenleistung erbringen müssen: Sie müssen nachweisen, dass sie aktiv auf Arbeitssuche sind, bereit sind, sich weiterzubilden, und ihre Arbeitsbereitschaft (notfalls in Arbeitsgelegenheiten) unter Beweis stellen; Sozialleistungen können andernfalls gekürzt bzw. ganz eingestellt werden. Workfare-Politik hat eine Selektionsfunktion, da nur diejenigen unterstützt werden, die wirklich bedürftig sind (z.B. über keine Ersparnisse und geringe Wettbewerbsfähigkeit verfügen), und eine Investitionsfunktion, da durch Weiterbildung das Humankapital (Arbeitnehmer/innen) qualifiziert wird und dadurch vor zukünftiger Arbeitslosigkeit geschützt sein soll. Eine möglichst unattraktive Ausgestaltung der Sozialleistungen (kurze Bezugsdauer, Kontrollen, Leistungskürzung bei mangelnder Kooperation) soll verhindern, dass sich Leistungsempfänger an die Sozialtransfers gewöhnen und in der Situation einrichten.
Die durch die Sozialdemokratie in Europa eingeführte Workfare-Politik versteht sich als Alternative zur neokonservativen Politik, die bis vor kurzem noch davon geleitet war, dass die beste Sozialpolitik aus einer soliden Wirtschaftspolitik besteht. Die von Neokonservativen bis in die 1990er Jahre hinein favorisierte Angebotspolitik kam ohne ein explizites Sozialmodell aus, da das Konzept davon geleitet war, dass Wettbewerbsmärkte bei der Verteilung von Gütern zu mehr Gerechtigkeit beitrügen als wohlfahrtsstaatliche Globalsteuerung und Umverteilungsprogramme. Die Versprechen der Angebotspolitik von den 1970er bis 1990er Jahren haben sich selten eingestellt, so dass wir heute überall in Europa massive Exklusions- und Präkarisierungstendenzen feststellen müssen. Die Workfare-Politik verfolgt das Ziel, die Angebotspolitik um ein aktivierungspolitisches Sozialmodell zu ergänzen, um mittels Flexicurity-Strategien9 den "re-entry" in Arbeit wie in die Sozialversicherungssysteme zu befördern.
Betrachtet man einige Indikatoren, anhand derer sich die Auswirkungen der Angebotspolitik in der Bundesrepublik bewerten lassen, dann stellt man fest: Die Staatsquote erreichte 1980 mit 47,9% einen damaligen Höchststand und wurde bis 1990 wieder auf 43,8% abgesenkt. Die Sozialquote kletterte von 1960 bis 1980 von 21,1% auf 30,6% und ereichte 1990 wieder einen Wert von 27,6%. Daraus kann man folgern, dass die Angebotspolitik ihr Ziel der Haushaltskonsolidierung durch den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen durchgesetzt hat. Die Konsequenzen dieses Sachverhalts sollen allerdings nicht unerwähnt bleiben: Bezahlte Lohnarbeit wird zunehmend als ein Mittel der internationalen Standortkonkurrenz gehandhabt, und in Folge dessen nehmen prekäre Beschäftigungsverhältnisse zu. Gleichzeitig sorgt die veränderte sozialstaatliche Programmatik dafür, dass diejenigen, die als nicht mehr rentabel genug freigesetzt wurden, möglichst rasch und mit entsprechendem Nachdruck in Arbeitsformen gebracht werden, die nach anerkannten statistischen Berechnungsformen "Armut" beinhalten. Diese Armutspopulation ist kein Versehen, sondern das Resultat eines politisch gewollten Abbaus von so genannten "Beschäftigungshemmnissen" angesichts eines doch weitgehend versperrten ersten Arbeitsmarktes. Die ökonomische Quintessenz dieses Sachverhalts formulierte der Arbeitgeberpräsident, wenn er zu der Debatte um Mindestlöhne bemerkte: "Derzeit verdienen 3,4 Mio. Vollzeitbeschäftigte weniger als 1.500 Euro, 2,6 Mio. Arbeitnehmer weniger als 1.300 Euro und 1,3 Mio. Menschen weniger als 1.000 Euro". Dies entspricht etwa einem Stundenlohn von 6,10 Euro. "Bei Einführung eines Mindestlohns wären viele dieser Arbeitsplätze akut gefährdet" (Arbeitgeberpräsident Hundt, 23. 6. 2006).
Parallel zur Entwicklung und Ausbreitung von Prekarität in der Gesellschaft wird nicht nur eine ausgedehnte Diskussion um die Rechte und Pflichten der Zivilgesellschaft geführt10, sondern auch ein Ausbau sicherheitspolitischer Anstrengungen gefordert. Fritz Sack hat diesen Zusammenhang - auch mit Blick auf den angloamerikanischen Bereich und auf L. Wacquants Studie "Vom wohltätigen Staat zum strafenden Staat" von 1999 - folgendermaßen zusammengefasst: "Neben der parallelen Entwicklung zunehmender staatlicher Repression und gesellschaftlicher Strafbereitschaft lässt sich eine andere Koinzidenz zweier separater Entwicklungsprozesse beobachten. Nach dem Prinzip kommunizierender Röhren verhalten sich in nahezu abgestimmtem Gleichschritt zwei staatliche Politikfelder, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, bei näherem Zuschauen sich als eng miteinander verknüpft erweisen: Die Renaissance der repressiven und ,atavistisch-strafenden‘ Seiten des Strafrechts nimmt im gleichen Maße zu wie das Politikfeld sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Institutionen an Bedeutung, staatlicher und fiskalischer Förderung einbüßt"11. Die neue Ordnungspolitik "Innere Sicherheit" ist eine "Politik der Härte" und konstitutiver Bestandteil der "Politik des Dritten Weges". Der aktivierende Staat will nicht nur sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gestaltungsfunktionen ausüben, er entdeckt sich auch neu als Ordnungsstaat, der sich nicht nur durch eine autoritative Sozial- und Aktivierungspolitik kennzeichnet, sondern auch ein Ordnungskonzept beinhaltet, das soziale Ordnung primär als sichere Ordnung begreift. Diese Entwicklung hat schon lange vor dem 11. September 2001 eingesetzt12.
Die Doktrin des starken Staates wird gewöhnlich damit begründet, dass allein mit diesem Mittel die exkludierenden Wirkungen der Globalisierung wie die negativen Folgen der gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse aufgehalten werden könnten. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder der "Geist des modernen Individualismus" und das damit verbundene Anspruchsdenken bemüht, um einen Staat zu fordern, der die Kontrollfunktion wahrnimmt, die Familie, Nachbarschaft und Arbeit eingebüßt haben,13 und das Strafrecht nicht als "ultima ratio", sondern als "prima ratio" von Konfliktlösungen begreift. Junge (sog. "erziehungsresistente") Intensivtäter14 - so ein Auszug aus dem Katalog aktueller Forderungen - sollen nicht länger zwischen den helfenden Institutionen in "Nischen der Verantwortungslosigkeit" verschwinden oder mittels "Kuschelpädagogik" betreut werden.
Wiederholungstäter sollen nicht länger in "Maßnahme-Karrieren" orientierungslos zwischen einzelnen Projekten hin- und hergeschickt werden. Sozialarbeiterische Intervention müsste auch um Sanktionsmöglichkeiten wie Ausgangssperren, schärfere Strafen für Jugendliche, geschlossene Heime, notfalls auch um deutsche Glen Mills-Schulen15 erweitert werden, wolle man Wiederholungstäter/innen, die über pädagogische Angebote nicht erreichbar seien, wirksam entgegentreten. In der vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch entfachten Debatte um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts wurden z.B. präventive Gefängnisstrafen, "Warnschussarrest", statt Bewährung gefordert, damit Jugendliche schon frühzeitig merkten, "wie sich Gefängnis von innen anfühlt" (R. Koch); die Einrichtung sog. Erziehungscamps findet mittlerweile breiteren Anklang, sofern Jugendliche dort nicht "gedemütigt und erniedrigt" werden (Bundesjustizministerin); Erziehungscamps, eine "innovative Form, Jugendstrafe zu vollziehen" (Justizminister Sachsen), sollen "befähigen, zukünftig ein straffreies Leben zu führen" (Bosbach, CDU)16. - Im Sinne der von den meisten Parteien mittlerweile geteilten Aktivierungspolitik könnte man sich wahrscheinlich, wenn erst der Debattenrauch verflogen ist, darauf einigen, dass Erziehungscamps, wenn sie denn auch noch über den Drill hinaus weitere Qualifizierungsbausteine enthalten, eigentlich Kompetenzzentren und keine Strafveranstaltungen sind.

Generalverdachts-Gesellschaft

Die Debatte der Jahreswende von 2007/08 ist ein gutes Beispiel dafür, wie Präventionsdiskurse "Sicherheitspaniken erst erzeug(en), die sodann zur Bekämpfung anstehen".17 Der auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit seit langem bekannte Präventionsdiskurs hat mittlerweile auch die Sozialpolitik erreicht, die auch danach fragt, inwiefern die Fälle, die der Sozialstaat erzeugt, so unter Kontrolle gehalten werden können, dass sie sich erst gar nicht mehr störend bemerkbar machen. Innere Sicherheit wird damit auch zum Gegenstand sozialstaatlicher Interventionsstrategien.
Das Leitbild vom starken Staat, dem die Protagonisten der Workfare-Politik das Wort reden (auch wenn sie ansonsten als freiheitsliebende Modernisierer auftreten, die gar nicht schnell genug "privatisieren" können), führt letztlich dazu, dass die Doppelrolle des Bürgers als Privat- und Staatsbürger gegenwärtig neu definiert und austariert wird. Die Rolle des citoyen soll sich nicht nur auf die Funktion demokratischer Wahlen beschränken, sondern darüber hinaus auch produktive Beiträge zum Gemeinwohl hervorbringen (Engagementdiskussion); als bourgeois soll der Bürger zwar seine Privatinteressen verfolgen, diese aber vor allem als "Arbeitskraftunternehmer" in der Suche nach Einkommen sehen. Von der normativen, geradezu emphatischen Aufwertung der Inklusionsfunktion der Zivilgesellschaft ist es nur ein kleiner Schritt zur Konstatierung von Gesellschaftsversagen, wenn die Bürger/innen der ihnen zugedachten Rolle nicht gerecht werden und als Arbeitskraftunternehmer/innen scheitern oder riskante, kostenverursachende Lebensstile pflegen.
Die sozialen Dienstleistungsberufe werden damit zunehmend konfrontiert und auf Lebensstil- wie auf Arbeitsbeschaffungsinterventionen verpflichtet. Dadurch ändert sich die Handlungslogik der Non-Profit-Organisationen18. Reglementierungs- und Regierungstechniken setzen sich durch, die darauf abzielen, die "Kunden" des Wohlfahrtsstaates zur Selbstverantwortung und Selbststeuerung anzuhalten und bei Nichtbefolgung Sanktionen zu verhängen. Der aktivierende Umgang mit dem Sozialstaatsklientel ist eine sozialtechnologisch gesteuerte Intervention, die darüber entscheidet, mit welchen Aktivierungsmaßnahmen die zum Fall gewordene Person konfrontiert oder aus dem Leistungsbezug ausgesteuert wird. Angesichts eines strukturell bedingten Unterangebots an Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt19 ist Aktivierungspolitik vielfach nur Exklusionsmanagement für die "Überflüssigen" (R. Castel), die ihre Rolle als bourgeois nicht mehr wahrnehmen können und sich dann auch nicht mehr als citoyen fühlen, da sie auf den Kundenstatus reduziert werden. Der Kunde des Sozialstaats ist kein König, da die Interaktion zwischen Sozialleistungsträgern und Sozialstaatsklientel aufgrund des Aktivierungsparadigmas asymmetrisch strukturiert ist. Der Sozialleistungen beantragende Kunde steht unter dem Generalverdacht, nicht arbeiten zu wollen, und muss diesen Willen glaubhaft nachweisen, notfalls in Arbeitsgelegenheiten unter Beweis stellen. Verlängerte Werkbank der Umsetzung dieser veränderten Hilfeprogramme sind die zivilgesellschaftlichen Organisationen des Wohlfahrtssektors, die gehalten sind, entsprechende Routinen in ihre Handlungssettings zu integrieren, wollen sie weiterhin staatlich subventioniert werden. Das Beispiel zeigt, dass Sozialpolitik und Innere Sicherheit mehr eint als bloß ihr innenpolitischer Bias: Die eine Strategie ersetzt oder ergänzt die andere bzw. setzt dann ein, wenn die andere versagt. Sozialpolitik ist Teil einer ordnungspolitischen Gesamtstrategie, die unterschiedliche Instrumente zu einem Zweck vereint.

"Akzeptanz"-Erzeugung

Wer die gegenwärtig besonders in der Sozialdemokratie geführte Debatte über den aktivierenden Staat und die neue Eigenverantwortlichkeit lediglich als "neoliberale Variante der Zivilgesellschaft" betrachtet20, greift zu kurz; die neue Sozial- und Ordnungspolitik will nicht nur den Einzelnen und die Zivilgesellschaft zur Eigenverantwortung ermuntern und ihre Selbstorganisation unterstützen. Das Konzept einer aktivierten Zivilgesellschaft basiert auf einem neuen Verständnis von (Sozial-)Staatlichkeit: auf einer(Sozial-)Staatlichkeit, die nicht nur neoliberal mittels ökonomischer Anreize steuert, sondern ergänzend dazu auch auf paternalistische, punitive und repressive Mittel setzt wie Arbeitsdruck und -zwang, auf den Einsatz sozialer Kontroll- und Überwachungsinstrumente zur Produktion von Sicherheit sowie letztlich auch auf Straf- und Disziplinierungsinstrumente zur (Wieder-)Herstellung von Sicherheit und Ordnung wie von "employability" und "Gemeinschaft". Dieser Entwicklung geht es um die Durchsetzung eines Sozialmodells für die Wettbewerbsgesellschaften des 21. Jahrhunderts. Der aktivierende Staat sieht sich längst explizit als Wettbewerbsstaat, der diese Funktion auch einer störrischen, uneinsichtigen Gesellschaft andemonstrieren muss. Die Aktivierungspolitik soll letztendlich sicherstellen, dass die für richtig angesehenen ökonomischen Anreize auch in der Gesellschaft ankommen und wirken, sprich: angenommen werden.

Darauf, dass die Zivilgesellschaft die ihr zugewiesene Funktion auch übernimmt, verlässt sich dieser Sozialstaat allerdings nicht. Der Ausbau des staatlichen Kontroll- und Überwachungsapparats, die Definition von Sozialräumen unter Gesichtspunkten eines umfassenden Kontrollregimes, die Schaffung von Frühwarnzentren zur Identifikation von Störfällen, die Durchleuchtung der Bürger/innen im Namen der Terrorbekämpfung, der Einsatz der Bundeswehr im Innern u.a.m. - all dies dient einer umfassenden Sicherheit, die darauf hinweist, dass die Gesellschaft aus staatlicher Sicht alles andere als vertrauenswürdig ist. "Die rote Linie ist ganz einfach: Sie ist immer durch die Verfassung definiert, die man allerdings verändern kann" (Spiegel, 28/07), so formuliert der Innenminister den sicherheitspolitischen Reformbedarf - und man fühlt sich an den Soziologen Georg Simmel erinnert, der schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in seiner "Soziologie der Armut" die Vermutung geäußert hat, dass staatliche Sozialpolitik - für ihn in Gestalt der damaligen Armenfürsorge - weniger humanitären und ethischen Motiven entspringt, als vielmehr in kapitalistischen Gesellschaften primär Bestandteil einer Politik der sozialen Ordnung und Sicherheit ist21 und beides gleichsam immer schon eine Einheit gebildet hat. Der Zusammenhang von Sozialpolitik und Ordnungspolitik musste den kritischen Zeitzeug/innen Bismarckscher Politik nicht erst andemonstriert werden, denn zu offensichtlich war ihnen der Zusammenhang zwischen Sozialistengesetzen und der Einführung der ersten Sozialversicherung. Dieser Zusammenhang wird gegenwärtig wieder offenkundig und im Rahmen eines umfassenden Sicherheitsregimes auf höherer Stufe reproduziert. Die Wiederbelebung der dazu gehörigen Wertedebatte hat sich der hessische Ministerpräsident zur Aufgabe gestellt: "Alles will gelernt sein, Ordnung ist das halbe Leben, Übung macht den Meister. Haben diese altbewährten Redensarten nicht gerade in einer immer komplexer werdenden Welt einen einfachen Sinn? Ohne Fleiß kein Preis" (Roland Koch). - So einfach kann die komplexe Welt sein!

Anmerkungen

1) Vgl. Trube, A./Wohlfahrt,N.: "Der aktivierende Sozialstaat" - Sozialpolitik zwischen Individualisierung und einer neuen Politischen Ökonomie der Inneren Sicherheit, in: WSI-Mitteilungen, Heft 1, 2001, S.3-7; H.-J. Dahme, H.-J./Wohlfahrt, N.: Die "verborgene" Seite des aktivierenden Staats. Sicherheit und präventive Kontrolle als Leitbild von Sozialinterventionen. In: Sozial Extra, H. 8/9, 2003, S.17-21

2) SPD-Grundwertekommission: Die "dritten Wege" der Sozialdemokratie - Material zur Reform des Sozialstaats. In: Theorie und Praxis sozialer Arbeit, H. 8, 2001, S.283-29

3) Legnaro, A.: Konturen der Sicherheitsgesellschaft: Eine polemisch- futurologische Skizze. In: Leviathan, 25. Jg., 1997, S.271-284

4) Nickolai, W./Reindl, R. (Hrsg.): Renaissance des Zwangs - Konsequenzen für die Straffälligenhilfe, Freiburg i.B. 1999

5) Sack, F.: Von der Nachfrage- zur Angebotspolitik auf dem Feld der Inneren Sicherheit. In: Dahme, H.-J./Otto, H.-U./Trube, A./Wohlfahrt, N. (Hg.)., Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, Opladen, 2003, S.249-276, S.250

6) Vgl. Wendt, W.-R.: Behandeln unter Zwang. In: Sozialmagazin, 1997, H. 1, S.15-19

7) Vgl. Höfling, W.: "Bettelfreie" Innenstadtbereiche? Oder: Von den Untiefen des Polizei- und Straßenrechts. In: Die Verwaltung, 33/2000, S.207-218; Simon, T.: Innere Sicherheit in den Kommunen. Gefahrenabwehrverordnungen und andere Instrumente zur Kontrolle des öffentlichen Raums. In: Dahme/Otto/Trube/Wohlfahrt, 2003, S.295-305, a.a.O.

8) Vgl. Peck, J.: Workfare-States. New York 2001

9) Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft: Gemeinsame Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz herausarbeiten (27.6.2007); Schulze Buschoff, K./Protsch, P.: Auf dem Weg zur Flexicurity, in: WZB-Mitteilungen, H. 117, 2007, S.31-35

10) Vgl. Dahme, H.-J./Wohlfahrt, N.: Aporien staatlicher Aktivierungspolitik. Engagementpolitik im Kontext von Wettbewerb, Sozialinvestition und instrumenteller Governance. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H. 2, 2007, S.27-39

11) Sack 2003, S.251 a.a.O.

12) Vgl. z.B. Legnaro 1997 a.a.O.; Bauman, Z.: Die Fremden des Konsumzeitalters. Vom Wohlfahrtsstaat zum Gefängnis. In: ders., Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999, S.66-83; Wacquant, L.: Elend hinter Gittern. Konstanz 2000

13) Vgl. Sack 2003, a.a.O.

14) Vgl. zu dieser Diskussion den Band: Witte, M. D./Sander, U. (Hg.): Erziehungsresistent? "Problemjugendliche" als besondere Herausforderung der Jugendhilfe. Baltmannsweiler 2006

15) Vgl. Deutsches Jugendinstitut: Die Glen Mills Schools, Pennsylvania, USA. Ein Modell zwischen Schule, Kinder- und Jugendhilfe und Justiz? Eine Expertise. München 2001; auch schon: Darnstädt, Th.: Angriff auf die bösen Jungs. In: Der Spiegel 12/1999

16) Vgl. dazu die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung allein vom 31.12.2007 bis 03.01.2008

17) Lindner, W.: Verlassen von allen guten Geistern? Anmerkungen zum Verhältnis von Innerer Sicherheit, Prävention und fachlichen Maximen der Kinder- und Jugendarbeit. In: Dahme/Otto/Trube/Wohlfahrt, 2003, a.a.O., S.279

18) Vgl. Dahme, H.-J./Kühnlein, G./Wohlfahrt: Zwischen Subsidiarität und Modernisierung, Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft. Berlin 2005

19) Vgl. dazu Trube, A.: Vom Wohlfahrtsstaat zum Workfarestate - Sozialpolitik zwischen Neujustierung und Umstrukturierung. In: Dahme/Otto/Trube/Wohlfahrt 2003,, S.177 - 203, a.a.O.

20) Vgl. Beck, U.: Mehr Zivilcourage bitte. In: Die Zeit vom 25.5.2000

21) Vgl. Simmel, G.: Soziologie (Gesamtausgabe Bd. 11). Frankfurt/M. 1992, S.512-555.

Prof. Dr. Heinz-Jürgen Dahme ist Hochschullehrer für Verwaltungswissenschaft an der FH Magdeburg. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte: Soziale Dienste, Sozialverwaltung, Jugendarbeitslosigkeit. - Prof. Dr.

Norbert Wohlfahrt arbeitet als Hochschullehrer für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation an der Ev. Fachhochschule RWL Bochum. Seine derzeitigen Arbeitsschwerpunkte sind Soziale Dienste; Entwicklung von non-profit-Organisationen; Kommunale Sozialpolitik und Sozialverwaltung.

Aus: Forum Wissenschaft 1/2008, 14-17