Die Linksrucklegende

Hessen, Niedersachsen und jetzt Hamburg - bei allen drei Landtagswahlen zu Beginn dieses Jahres hat die regierende CDU mächtig Federn gelassen.

Hessen, Niedersachsen und jetzt Hamburg - bei allen drei Landtagswahlen zu Beginn dieses Jahres hat die regierende CDU mächtig Federn gelassen. Doch auch wenn sich die Union derzeit nicht auf den Wähler verlassen kann, dann doch gewiss auf eines: die SPD. Kaum gehen die Umfragewerte der CDU ein wenig nach unten, droht der Union mit Roland Koch gar die national-konservative Flügelspitze abhanden zu kommen, unternimmt der sozialdemokratische Koalitionspartner alle Anstrengungen, der Partei der Kanzlerin wieder aus der Patsche zu helfen.

Und zwar durch einen völlig überflüssigen Richtungsstreit in den eigenen Reihen: Ausgelöst durch die Erfolge der Linkspartei warnen die starken Reste der Schröder-SPD um Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Finanzminister Peer Steinbrück - eifrig unterstützt von Ex-Wirtschaftsminister und Noch-SPD-Mitglied Wolfgang Clement1 - vor einem "Linksruck" im ganzen Land und speziell in der eigenen Partei.2

Damit verfällt die Sozialdemokratie erneut in ihren alten Fehler: die Diskurshoheit in nacheilendem Gehorsam allein den vermeintlich "Bürgerlichen" und ihren Medien zu überlassen, die nach wie vor zu einer schwarz-gelben oder schwarz-grünen Koalition tendieren. So warnte "Die Zeit", kaum war die Hessen-Wahl geschlagen, mit Vehemenz vor den vermeintlichen Rattenfängern Lafontaine und Gysi. "Immer linker" hieß der alarmistische Aufmacher, "Ist dieser Linksruck wirklich gefährlich?" die dazu passende, suggestiv- rhetorische Frage.

Tatsächlich stellt der Erfolg der Linkspartei jedoch noch längst keinen Linksruck dar, von der beschworenen "roten Gefahr" ganz zu schweigen. Er ist vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass sich die Bundesrepublik seit 1989 dramatisch von ihrer einstigen sozialökonomischen Verfasstheit entfernt hat. Die soziale Spaltung des Landes greift immer tiefer; bis weit in die Mittelschichten hinein herrschen heute Perspektivlosigkeit und schiere Angst. "Altersarmut, das ist absehbar, wird zu einem Massenphänomen, sie verändert grundlegend das Gesicht des Landes und den Alltag seiner Bürger. [Â…] Mancher, der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts im schicken Neubaugebiet aufgewachsen ist, wird froh sein, wenn er in den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts nicht im Armenasyl endet." Diese alarmierende Prognose steht heute nicht etwa im Manuskript von Oskar Lafontaine, sondern im "Spiegel" - in den vergangenen Jahren alles andere als bekannt für sozial sensible Berichterstattung.3

Dass sich eine derart dramatische Veränderung des sozialen Klimas während der vergangenen 20 Jahre auch im deutschen Parteiensystem niederschlagen musste, versteht sich von selbst. Dass sie allerdings zum Erstarken der Linken zu einer Zehn-Prozent-Partei führen würde, keineswegs. Und hier liegt der eigentliche Grund für den angeblichen "Linksruck" - dass nämlich bis vor kurzem alle Altparteien und weite Teile der medialen Öffentlichkeit das Thema "soziale Gerechtigkeit" als bloße Chimäre und regelrechtes "Unwort" abgetan haben.

Der Erfolg der Linkspartei, die in den alten Bundesländern wahrlich nicht mit einem überragenden Personaltableau aufwarten kann, zeigt, wie sehr sich die gesellschaftliche Normalität in Deutschland in den letzten Jahren verändert, sich die Republik vom einstigen Zustand erträglicher Unterschiede verabschiedet hat - und wie unsensibel die Parteienkonkurrenz darauf reagierte. Man erinnere sich nur daran, dass noch in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode Wolfgang Clement seiner Partei unbedingt beibringen wollte, das Land brauche mehr Ungleichheit.

Die Linkspartei erwies sich dagegen als Seismograph für die soziale Schieflage und stellte den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in den Mittelpunkt ihrer Programmatik. Allein das erklärt, wie es der einstigen PDS gelingen konnte, vom Nachlassverwalter der SED erst zu einer östlichen Volkspartei und jetzt, unter Mithilfe der WASG, auch zu einer gesamtdeutschen Linken zu werden. Stellt man die spätestens seit Roman Herzogs "Ruck-Rede" im Jahre 1997 betriebene ideologische Verschiebung nach rechts, in Richtung Sozialabbau und Deregulierung, in Rechnung, ist der Erfolg der Linkspartei somit Ausdruck einer Rückbesinnung und Normalisierung - nämlich Indiz dafür, dass der Dimension der sozialen Gerechtigkeit wieder zunehmend die ihr verfassungsrechtlich gebührende Beachtung widerfährt, zum Leidwesen aller wirtschaftsliberalen Propagandisten.
Das Ende der Bonner Republik

Zugleich steht eine auf Dauer gestellte Linkspartei tatsächlich für eine Diskontinuität in der Geschichte der Bundesrepublik, nämlich für die Entwicklung zu einem Fünfparteiensystem und damit für den endgültigen Bruch mit den Bonner Verhältnissen.

Die Ironie der Geschichte: Bei allem Protest aus den Reihen der SPD gewinnt die Linke letztlich zu deren Gunsten - und sogar zugunsten der Hamburger "Zeit". Dass dem Aufruf des stellvertretenden Chefredakteurs, die Wiederwahl Roland Kochs zu verhindern,4 letztlich Erfolg beschieden war, ist allein dem Einzug der Linken ins hessische Parlament geschuldet. Ohne deren fünf Prozent regierte heute eine schwarz-gelbe Regierung - unter einem Ministerpräsidenten Koch.

Doch die Bedeutung der Hessenwahl geht weit darüber hinaus: Mit Blick auf 2009 wird sie zur "Blaupause für den Bund" (Franz Walter). Der Erfolg der Linken bedeutet den endgültigen Abschied vom Modell der alten Bundesrepublik, nach dem jeweils eine große mit einer kleinen Partei koalieren konnte. So aussichtslos es erscheint, dass die SPD aus eigener Kraft die CDU bei den Wahlen 2009 übertrifft, um das rotgrüne Projekt zu erneuern, so unwahrscheinlich dürfte es sein, dass es 2009 noch einmal für Schwarz-Gelb reicht. Damit wird der Wahlausgang von 2005 von der Ausnahme zur Regel - und zwingt gleichzeitig die Parteien zu einer Debatte über die eigene Bündnisfähigkeit.

Angesichts der neuen Lage sind alle Parteien aufgefordert, über alle Möglichkeiten der Koalitionsbildung nachzudenken. Das gebietet bereits ihre politische Verantwortung gegenüber dem Souverän. Die Wählerinnen und Wähler wollen nämlich zunächst einmal eines: dass nach der Stimmabgabe eine Regierung zustande kommt. Andernfalls sähen sie bald gar keine Veranlassung mehr, noch zur Wahl zu gehen.

Momentan sind die Parteien offensichtlich nicht in der Lage, auf die neue Situation adäquat zu reagieren, wie die kategorischen Koalitionsabsagen verdeutlichen. Auch hier ist die Situation in Hessen symptomatisch. Während in Hamburg bereits vor der Wahl quasi präventive Lockerungsübungen zwischen Schwarzen und Grünen stattfanden,5 verweigert sich die FDP in Hessen jeglicher Zusammenarbeit mit der SPD.

Damit erweist sich der klassische Mehrheitsbeschaffer der Bundesrepublik als besonders immobil - worin eine große Gefahr für die Liberalen als einstige Funktionspartei besteht: Wenn die FDP nicht aufpasst, steht sie, angesichts einer strukturellen linken Mehrheit, bald selbst am Rand des Koalitionsspektrums - als neoliberales Schmuddelkind, mit dem niemand spielen will. Dabei hätte sie gerade unter einem SPD-Vorsitzenden Beck, der Rheinland-Pfalz jahrelang sozialliberal regierte, alle Möglichkeiten einer Regierungsbeteiligung.

Innerhalb der FDP hat deshalb die Strategiedebatte schon längst begonnen: Nicht nur der machtorientierte stellvertretende Parteivorsitzende Rainer Brüderle, einst Wirtschaftsminister unter Kurt Beck, sondern auch Altliberale, wie Burkhard Hirsch und Gerhart Baum, sowie die Jungliberalen plädieren für eine Öffnung zur SPD. Dem steht jedoch der Parteivorsitzende Guido Westerwelle im Wege, der sein politisches Schicksal an Angela Merkel und die schwarz-gelbe Option geknüpft zu haben scheint.

Deshalb spricht alles dafür, dass die FDP an ihrem bereits auf dem Parteitag im vergangenen Jahr begonnenen Lagerwahlkampf festhalten wird. Damals präsentierte sich Westerwelle höchstselbst als "Freiheitsstatue" der Republik - gegen die "kommunistische Gefahr". Die Strategie ist klar: hier das angeblich "bürgerliche", dort das "rote", angeblich sozialistisch-kommunistische Lager.
Der Kampf um die Begriffe

Umso mehr kommt es für die linken Parteien darauf an, sich nicht rhetorisch ausgrenzen zu lassen - und den Kampf um die verwendeten Begriffe aufzunehmen. Die Rechte war an diesem Punkt meist einen Schritt weiter. "Die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet",6 stellte im Historikerstreit von 1986 der rechtskonservative Historiker Michael Stürmer, heute Autor der "Welt" und damals Gegenspieler von Jürgen Habermas, zu Recht fest. Die Linke hat dies bis heute nicht recht verstanden.

Dabei steht bereits fest, dass wir es bei den nächsten Bundestagswahlen noch einmal mit einer gewaltigen Belebung des historischen Kostümfundus des 20. Jahrhunderts zu tun bekommen werden. Schließlich finden die Wahlen fast zeitgleich mit der 20. Wiederkehr des Mauerfalls statt. FDP und CSU, Guido Westerwelle und Erwin Huber, dürften sich dabei einen Wettstreit um die Krone des Kältesten Kriegers liefern. Die diesjährigen Aschermittwochsreden gaben schon einmal einen Vorgeschmack - als der neue CSU-Chef vor einer "blutroten Koalition" von Linkspartei und SPD, den "Steigbügelhaltern der Kommunisten", warnte und sein FDP-Kollege gegen die Erben der Mauerbauer und für das "bürgerliche Lager" agitierte.

Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die umkämpften Begriffe ideologiekritisch zu hinterfragen. Wenn das, was heute als Linksruck denunziert wird, eher einen Schritt in Richtung einer Rückkehr zur Normalität der alten Bundesrepublik und zu deren klassischem Wertekanon, inklusive sozialer Gerechtigkeit, bedeutet - was versteckt sich dann hinter dem von Union und FDP verwendeten Begriff "bürgerlich"? Die neue neoliberal-globale Elite, die sich immer mehr aus der Verantwortung für das Gemeinwesen stiehlt? Oder der Arbeitslose und Hartz- IV-Empfänger, der trotzdem am 1. Mai für die Bewahrung der Arbeitnehmerrechte demonstriert? Der politische Bürger, der citoyen, ist offensichtlich (nach wie vor) keineswegs deckungsgleich mit dem Bürger im rein ökonomischen Sinne, dem bourgeois. Während sich der citoyen in republikanischer Tradition für den gesellschaftlichen Zusammenhalt engagiert, widmet sich der bourgeois ausschließlich seinen möglichst gewinnbringenden Geschäften. Letzteren mag man getrost primär bei der FDP verorten, für ersteren dürften andere Parteien der primäre Ansprechpartner sein.7

Hinter der exklusiven Inanspruchnahme des Bürger-Begriffs durch die vermeintlich "bürgerlichen Parteien" verbirgt sich zudem die Absicht, ihren politischen Gegnern einen Platz nicht in der (moderaten) Mitte, sondern allein am (radikalen) Rand der Gesellschaft zuzuweisen - und sie damit von der staatsbürgerlichen Verantwortung für das Gemeinwesen auszuschließen. Der SPD-Vorsitzende tat deshalb gut daran, an diesem Punkt den Kampf um die Begriffe aufzunehmen, als er am Aschermittwoch die bewusste Ausgrenzung und Diffamierung anprangerte: "Was bin ich denn dann für einer? Ein Ausgebürgerter? Ein Unbürger?"

Leider konnte Beck seinerseits nicht der Versuchung einer Ausgrenzung der Linkspartei widerstehen. Dass diese jedoch nicht lange währen dürfte, lehrt die Geschichte. Nach der Hessen- Wahl 1982 und dem erstmaligen Einzug der Grünen regierte der damalige SPD-Ministerpräsident Holger Börner weiterhin kommissarisch, bevor er im Juni 1984 erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wurde - toleriert von ebenjenen "Chaoten", die er zuvor nur mit der "Dachlatte" anfassen wollte. Im Oktober 1985 kam schließlich mit der rot-grünen Koalition unter Börner und Joschka Fischer das zustande, was sich bis 1998 zu Rot-Grün im Bund auswuchs.
Hessen: Laboratorium der Demokratie ?

Wenn am 4. April dieses Jahres der Hessische Landtag zusammentritt, wird Roland Koch die Regierungsgeschäfte kommissarisch weiterführen - es sei denn, Andrea Ypsilanti stellte sich doch noch zur Wahl. Da sich die FDP einer Koalition weiterhin verweigern dürfte, könnte nur die Linkspartei der SPD die erforderliche Mehrheit im Parlament verschaffen. Rot-Rot-Grün wäre zudem die einzige taugliche Konstellation, um jenes Projekt einer radikal-ökologischen Wirtschaftsoffensive in die Tat umzusetzen, mit dem Schatten-Superminister Hermann Scheer im Wahlkampf für die SPD geworben hat.

Selbst wenn Hessen (und die SPD) heute vermutlich noch nicht so weit sind, das Experiment zu wagen: Wer wollte ernsthaft behaupten, dass jene Linken, die seit Jahren brav (und ziemlich bieder) in Berlin und zahlreichen Kommunen Ostdeutschlands mitregieren, ein größeres "Risiko" für die parlamentarische Demokratie darstellen als jene tatsächlich reichlich chaotischen Grün-Bunten, die vor 25 Jahren ihren langen "Marsch durch die Institutionen" antraten? Eines haben beide Parteien jedenfalls gemeinsam: Wie damals die grüne Partei die Ökologie, besetzt heute "Die Linke" mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit ein, wenn nicht das entscheidende Zukunftsthema der Republik - was deren gefährdete Integrationsfähigkeit anbelangt. Die SPD täte deshalb gut daran, die neuen politischen Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen - und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.
1 Clement hatte dezidiert Stellung gegen die hessische SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti bezogen und von ihrer Wahl abgeraten.
2 Was den neuen Sprecher der SPD-Linken, Björn Böhning, prompt dazu veranlasste, vor einem "Rechtsruck" in der SPD zu warnen.
3 "Der Spiegel", 7/2008; vgl. auch Antonio Brettschneider, Rentenlücke und Riesterfalle, in: "Blätter", 2/2008, S. 5-8, sowie Jörg Melz, Der neue Zwang zur Altersarbeit, in: ebd., S. 8-12.
4 Vgl. Bernd Ulrich, Vergiftet, in: "Die Zeit", 5/2008.
5 Die Grünen in Hessen zeigten sich dagegen offen für eine rot-rot-grüne Koalition.
6 Vgl. den Beitrag von Michael Stürmer in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München und Zürich 1987, S. 36.
7 Vgl. auch Albrecht von Lucke, 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin 2008.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 03/2008 - Seite 9 bis 12