Politische Ökonomie der Barrios

Chávez und der informelle Sektor

in (25.03.2008)

Es waren große Teile der traditionellen chávistischen Basis, die BewohnerInnen der Barrios von Caracas, die dem Präsidenten beim Referendum zur Verfassungsreform ihre Gefolgschaft verweigerten.

In Venezuela fand im Dezember 2007 ein Referendum zur Verfassungsreform statt. Zum einen wurde über eine Ausweitung präsidialer Machtkompetenzen, zum anderen über wirtschaftliche und politische Reformprojekte abgestimmt, die dem "Sozialismus des 21.Jahrhunderts" (O-Ton Chávez) den Weg ebnen sollten. Bekanntlicherweise endete die Volksbefragung, erstmalig in Chávez Amtzeit, mit einer knappen Niederlage für den Präsidenten. Diese Niederlage ist zum Großteil auf einen drastischen Rückgang der Wahlbeteiligung von 74% bei den Präsidentschaftswahlen 2006 auf 55% zurückzuführen. Drei Millionen WählerInnen blieben der Abstimmung fern. Während die Ablehnung (verglichen mit 2006) landesweit um durchschnittlich 6% zugenommen hatte, so betrug die Zunahme der Neinstimmen in Bundesstaaten mit hohem IndustriearbeiterInnenanteil zwischen 14% und 38%. In Bundesstaaten mit hohem indigenem Bevölkerungsanteil betrug die Ablehnung sogar durchwegs nahezu 50%.

Es waren aber auch große Teile der traditionellen chávistischen Basis, die BewohnerInnen der Barrios von Caracas, die dem Präsidenten diesmal ihre Gefolgschaft verweigerten; Chávez hat in den Vorstadtbezirken Petare 45%, 23 de Enero 38%, El Valle 39%, Caricuao 41% und Catia 45% verloren. Und dies, obwohl neben der Einführung des Sechsstundentages die Sozialversicherung für informell Beschäftigte das sozialreformerische Herzstück des Referendums waren; beide Gesetzesvorhaben hätten allerdings auch mit einfacher Mehrheit im Parlament verabschiedet werden können!

In linken Debatten wurde vielfach der schleppende Fortgang der Reformen, die korrupten lokalen Bürokratien, die undemokratische Diskussion im Vorfeld des Referendums, sowie die geplante Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten als Gründe für die Niederlage ins Treffen geführt. In Venezuela selbst stellte der Teil der Gewerkschaftslinken, der die Verfassungsreform ablehnte, vor allem die fehlende Frage von Enteignungen und die Fortschreibung des Rechts auf Privatbesitz großer Unternehmen ins Zentrum ihrer Kritik.

Das Ergebnis des Referendums sowie die Kritik daran, vor allem aber die grundsätzliche Bedeutung, jedoch oftmalige Vernachlässigung des informellen Sektors für linke Gewerkschaftspolitik ist der Anlass, uns in diesem Artikel mit Chávez Politik und Ökonomie im informellen Sektor zu beschäftigen.

Allein das Ausmaß des informellen Sektors verdient Beachtung: Venezuela hat mit 87% einen besonders hohen Anteil an städtischer Bevölkerung, etwa 60% davon lebt in Barrios. Sie sind nicht nur der Lebens- sondern auch der Arbeitsmittelpunkt der meisten informell Beschäftigten. Etwa 50% der erwerbstätigen Bevölkerung arbeitet in informellen Verhältnissen, d.h. ohne ein Netz aus Sozial-, Arbeits- und Lohngesetzen. Industrie- und Dienstleistungsbeschäftigte sind davon gleichermaßen betroffen. Der Anteil des informellen Sektors an der nationalen Wertschöpfung betrug 2006 in Venezuela annähernd 40%.

Chávistische Politik im informellen Sektor umfasst neben allgemeinen Sozialmaßnahmen wie der viel beachteten Gesundheitsreform und Bildungsreformen vor allem Maßnahmen, die -allgemein ausgedrückt- die Formalisierung informeller Strukturen zum Ziel haben. Dies entspricht einer weltweiten Tendenz seit den 80er Jahren , als Modernisierungstheorien angesichts eines weltweit wachsenden informellen Sektors und explodierenden Megastädten endgültig am Müllhaufen der Geschichte landeten.

In Venezuela lässt sich diesem Formalisierungsprozess die Landreform in den Städten, die Kooperativengesetzgebung, das Mikrokreditwesen, zum Teil der Mindestlohn, sowie auf politischer Ebene die Konstitution von Landkomitees und Kommunalräten zuordnen.

Die Landreform in den Städten

Das Konzept der Landreform in den Städten ist an die Theorien Hernando de Sotos, einem neoliberalem Ökonomen aus Peru, angelehnt. Mit seinen Theorien eines blühenden Marktes von unten durch die Vergabe von Eigentumstiteln in den Slums sicherte er sich einen fixen Platz in den Herzen von Weltbank und UNO, aber auch vieler NGOs. Kein Wunder, dass dieses Konzept in Venezuela erstmals 2000 von Primero Justicio, einer putschistischen Oppositionspartei, eingebracht wurde. Chávez selbst legte 2002 durch die Verabschiedung eines Präsidialdekrets die Grundlage für die Landreform in den Barrios. Konkret geht es dabei um die Privatisierung staatlichen Grundbesitzes in den Städten (analog zur allgemeinen Landreform), der etwa ein Drittel der besetzten, illegalen Barriogebiete ausmacht. Dieser Grund wird als Eigentum für ein selbstgebautes Haus pro Familie vergeben. Dieses Eigentum ermöglicht dann eine reguläre Kreditaufnahme. Dieser Kredit wiederum soll die Möglichkeit für eine allfällige Hausrenovierung oder aber für die Eröffnung eines Mikrounternehmens bieten. Auch wenn dieses Konzept nicht die neoliberalen Ziele de Sotos verfolgt, so wirft es doch eine Reihe von Problemen auf.

Was passiert mit den BarriobewohnerInnen, die nicht auf staatlichem Grund leben? Privatisierung staatlichen Besitzes erschwert eine egalitäre Stadtplanungsperspektive. Privatbesitz an Wohnraum öffnet Tür und Tor für einen kapitalistischen Immobilienmarkt. Die Infrastruktur in privatrechtlich organisiertem Wohnraum ist ebenfalls ungleich mehr von kapitalistischer Verwertung bedroht. Darüber hinaus bleiben natürlich alle Probleme bestehen, die mit der zumeist unabänderlich schlechten bis gefährlichen Boden- und Bausubstanz in den Barrios zusammenhängen. Der gravierende Unterschied zum Konzept de Sotos besteht in der Form der Umsetzung. Das Präsidialdekret sieht vor, dass je 100 bis 200 Familien ein Landkomitee (Comite de Tieras urbanas) gründen, um mit der Regierung die Vergabe der Eigentumstitel auszuverhandeln. Darüber hinaus bilden die Komitees Unterkommissionen, die für Fragen der Infrastruktur wie Wasser, Strom, Müllabfuhr und Ähnlichem zuständig sind. Hier knüpfen sie an den bereits seit Jahrzehnten bestehenden Stadtteilkomitees an und sind eine wichtige Basis für die Kommunalräte, die Consejos Comunales.

Mikrokredite und Kooperativen

Mikrokredite sind auch eines der neoliberalen Lieblingsrezepte für den informellen Sektor. So war 2005 das UN-Jahr der Mikrokredite. Die Weltbank favorisiert sie; ihr Erfinder Muhammed Yunus erhielt 2003 dafür sogar den Friedensnobelpreis. Für den informellen Sektor bedeuten Mikrokredite oft den erstmaligen Zugang zu einem gesetzlich geregelten Kreditwesen. Im Jahr 2000 ließ sich Chávez von Yunus selbst über eine optimale Umsetzung des Mikrokreditwesens beraten.

In Venezuela liegt die Vergabe von Mikrokrediten in Regierungshand. Die verschiedenen Entwicklungsbanken werden aus einem staatlichen Fonds zur Entwicklung des Mikrofinanzwesens finanziert, der seinerseits, wie nahezu sämtliche Sozialausgaben in Venezuela, aus Erdölgewinnen gespeist wird. Analog zum Konzept Yunus gibt es ein Netzwerk lokaler RepräsentantInnen, die die Kredite vor Ort an die Frau und den Mann bringen. Der grundlegende Unterschied liegt in der finanzökonomischen Bedeutung der Kredite. Während in neoliberalem Zusammenhang das Geschäft mit den Mikrokrediten selbst für große Banken - bei Zinssätzen von 20-40% und einer Rückzahlungsquote von 97% - inzwischen sehr lukrativ ist, sind Mikrokredite für venezolanische Banken bei Zinssätzen von 6 -12% jährlich bei einer Inflation von 22,5% (2007) ein Verlustgeschäft. So muss also in Venezuela bei Mikrokrediten eher von erweiterten Sozialausgaben gesprochen werden.

Kooperativen, die als wichtiges Instrument im Aufbau einer sozialen Ökonomie gelten, sind kollektiv geführte Unternehmen in Privateigentum. Für sie gibt es Einkommenssteuererlässe und staatliche Zuschüsse; sie finanzieren sich durch Mikrokredite. Für den informellen Sektor bedeuten Kooperativen die Formalisierung bis dahin zumeist illegaler Mikrounternehmen bzw. sie sind für die Regierung das wichtigste Instrument zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Aus gewerkschaftlicher Sicht gibt eine Reihe von Gründen, Kooperativen als Mittel zur Arbeitsplatzbeschaffung kritisch gegenüberzustehen: Die EigentümerInnen, d.h. die ArbeiterInnen tragen das volle Risiko für den Betrieb, für sie gilt kein Mindestlohn, keine Sozialversicherung und keine Arbeitszeitgesetz. Es ist inzwischen eine durchaus übliche Praxis, dass Unternehmen formelle Arbeitsplätze in Kooperativen auslagern, um so Kosten zu sparen.

Das gemeinsame Eigentum ändert auch nichts daran, dass Kollektive den Gesetzen des Marktes unterworfen bleiben und sich in Konkurrenz zueinander befinden. In den Barrios selbst kommt dieser Wettbewerb besonders zum Tragen. Da der überwiegende Teil der Dienstleistungen und der Produkte auch vor Ort vermarktet wird bedeutet eine steigende Zahl von Unternehmen bei gleich großem Markt verschärfte Wettbewerbsbedingungen mit wiederum zwangsläufig negativen Folgen für solidarische Beziehungen ihrer BewohnerInnen. Nachbarschaftshilfe und Tauschbeziehungen werden durch sich verallgemeinernde Warenbeziehungen gefährdet. Auch bei den konkreten Zahlen ist Skepsis über einen nachhaltigen Erfolg von Mikrokrediten bzw. Kooperativen angebracht: Der Prozentsatz uneinbringlicher Kredite bei Entwicklungsbanken machte bis zu 57% (Frauenbank 2003) aus. 2006 waren von knapp 173.000 eingetragenen Kooperativen nur 37.000 operativ tätig. Selbst wenn von einer großen Anzahl von `Karteileichen` ausgegangen werden kann, so bedeuten diese Zahlen doch, dass hunderttausende Menschen damit die Hoffnung auf ein Leben in sozialer und existenzieller Sicherheit verloren haben.

Frauen und der informelle Sektor

In Venezuela sind Frauen mit einem Anteil von 60 bis 70% von Armut betroffen. Aufgrund ihrer Verantwortung für die Familie und mangels qualifizierter formeller Jobs sind sie mehrheitlich zu informellen Beschäftigungen gezwungen. Die Vergabe von Mikrokrediten speziell für Frauen ist ein Schwerpunkt zur Linderung der Frauenarmut. Auch hier zeigt sich eine Ähnlichkeit zu Yunus Konzept, seine Grameen Bank vergibt über 90% seiner Kredite an Frauen.

2006 vergab die Banmujer (Frauenbank), die mit Abstand aktivste der Entwicklungsbanken, 60.000 Mikrokredite im Wert von 21 Mill. Euro für 12.450 Kooperativen. D.h. eine Kooperative besteht durchschnittlich aus fünf Frauen, denen ein gemeinsamer Kredit von 1730 Euro zur Verfügung steht. Nach Angaben der 2003 gegründeten Hausfrauengewerkschaft ist es Schwerpunkt dieser Mikrounternehmen, haushaltsnahe- bzw. Gemeindedienstleistungen zu erbringen. Dieses Konzept ist so nahe an traditionellen Mustern informeller Frauenarbeit gestaltet, dass ihm ökonomischer Erfolg oder gar ein emanzipatorischer Charakter schwerlich zuzugestehen ist. Frauenpolitik in den Barrios entspringt politisch dem Verfassungsartikel 88, der Männern und Frauen das Recht auf Arbeit zugesteht, Hausarbeit als Mehrwert schaffend bezeichnet und deshalb Hausfrauen ein Recht auf gesetzliche Sozialleistungen einräumt. Im Rahmen der Mission Madres del Barrio erhielten 2006 ca. 240.000 (!) Hausfrauen (von geschätzten 2,5 Mill.) 60-80% (!) des gesetzlichen Mindestlohns von rund 200 Euro, wobei sie sich zur Leistung von Sozialarbeit im Barrio verpflichten müssen.

Abgesehen von der Sichtbarmachung von Hausarbeit ist dieses Konzept eine frauen- und gewerkschaftspolitische Katastrophe. Dass bislang nur 10% der Hausfrauen nur ca. 2/3 des Mindestlohns erhalten, zeigt erstens, dass diese Maßnahme nur eine Art Almosen und kein Rechtsanspruch ist und zweitens, dass Hausfrauen offensichtlich nur 2/3 der Männer wert sind. Durch die Hintertür wird so obendrein ein Niedriglohnsektor im Sozialbereich etabliert. Geschlechtliche Arbeitsteilung ist die Quelle von Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen, deshalb muss eine Politik der Hausarbeit immer auch die Perspektive ihrer gerechten Verteilung zwischen den Geschlechtern, aber auch ihrer Vergesellschaftung verfolgen.

Kommunalräte

Die Etablierung von Kommunalräten, laut Chávez wichtigster Motor zur Herausbildung einer Volksmacht, bedeutet für den informellen Sektor das zentrale Instrument zur politischen Formalisierung der vielfältigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Initiativen der Selbstorganisation. Sie haben besonders seit der Wirtschaftskrise in den 80ern, zuerst für das Überleben in den Barrios, später zunehmend auch politisch große Bedeutung.

Grundlage für jeden Kommunalrat ist eine Versammlung, die aus 200 bis 400 Familien besteht; daraus werden Räte gewählt, die mit verschiedensten - ökonomischen, kulturellen, sozialen -Inhalten befasst sein können, je nach ihren Beschlüssen. Finanziert werden sie von Kommunalbanken, die analog zum Mikrokreditwesen aus einem Nationalfond gespeist werden. Eine vom Präsidenten bzw. der Regierung einberufene Kommission entscheidet über die Mittelvergabe für die von den Kommunalräten eingereichten Projekte. Organisatorisch ist bislang lediglich eine regionale Vernetzung der Consejos geplant, während es von oben bereits eine präsidiale Kommission zu ihrer Koordinierung mit Strukturen in allen 24 Bundesstaaten gibt. Es ist also ein enormes Spannungsfeld, in dem sich die Kommunalräte befinden. Erstens konkurrieren sie mit den lokalen bürgerlichen Verwaltungen um Kompetenzen, die ihrerseits oft von Korruption und Misswirtschaft geprägt sind. Zweitens sind sie sowohl finanziell als auch inhaltlich vollständig von der Regierung abhängig. Drittens steht einer bislang ungenügenden Vernetzung von unten eine recht straffe dem Präsidenten unterstehende Struktur gegenüber. Viertens schließlich ist die neu gegründete chavistische Einheitspartei PSUV ein nicht zu unterschätzender Faktor politischer Einflussnahme. Bei dieser Konstellation scheint der Weg der Kommunalräte, sich als echte Gegenmacht zu lokaler Bürokratie aber auch zur Regierung zu etablieren, als sehr unwahrscheinlich.

Werden nun die ökonomischen Reformen, die den Barrios eine nachhaltige ökonomische Entwicklung sichern sollen, den basisdemokratischen Konzepten ihrer Umsetzung gegenüber gestellt, so bietet sich schlichtweg ein Bild unvereinbarer Widersprüche: Konkurrenz ist nicht mit Kollektivität vereinbar, oder anders gesagt, Privateigentum nicht mit Sozialismus. Um nun zum Ausgang des Referendums zurückzukommen: Vielleicht sind die drei Millionen nicht nur wegen des langsamen Reformtempos oder der korrupten Bürokratie der Abstimmung ferngeblieben. Vielleicht war es vielmehr die zunehmend konkrete Erfahrung, dass der für den informellen Sektor zur Schau gestellte Marktoptimismus realistischerweise (in Venezuela genauso wenig wie in jedem anderen Winkel dieser Welt) nicht angebracht ist, dass kollektive Eigentumsformen chancenlos bleiben, wenn sie in einen von der Regierung unangetasteten Markt des Großkapitals eingebettet sind. Und schließlich die Erfahrung, dass das Verhältnis basisdemokratischer Kompetenz zu präsidialer Machtfülle immer nachteiliger für die Idee der direkten Demokratie wird.