Partei neuen Typs

Radikale Linke in Frankreich: von der LCR zum Nouveau Parti Anticapitaliste

Die Erfolge radikaler Linker bei den französischen Kommunalwahlen geben einem Projekt Auftrieb, das von der Mehrheitsfraktion der undogmatisch-trotzkistischen Ligue Communiste Révolutionnaire ...

... (LCR) schon länger betrieben wird: die Konstituierung einer breiter angelegten radikal linken Partei unter dem Arbeitstitel "Nouveau Parti Anticapitaliste" - Neue Antikapitalistische Partei. Was, wenn es gelingt, auch auf die Linke in anderen europäischen Ländern ausstrahlen dürfte. "Tritt der Revolutionär als idealer Schwiegersohn auf?" Diese Frage wird ihm oft mit leicht ironischem Unterton gestellt, wenn er etwa an Talkshows im französischen Fernsehen teilnimmt. Olivier Besancenot (34) wird von den französischen Medien durchaus geschätzt. Als gefährlichen Brandstifter oder Sektenführer können sie diesen Revolutionär kaum darstellen. Besancenot, dessen angebliches jugendliches Auftreten die Medien gern beschwören, ist inzwischen selbst Vater eines kleinen Kindes und seit elf Jahren berufstätig: Nachdem er Geschichte studiert hatte, wurde er 1997 als Briefträger eingestellt und ausgerechnet dem Pariser Millionärsvorort Neuilly-sur-Seine zugeteilt.

Zehn Prozent und mehr für LCR-Bündnislisten

Im Herbst 2001 entschied sich die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), der Besancenot seit 1991 angehört, für den damals 27-jährigen als Präsidentschaftskandidaten. Zwei Mal bekam er zwischen einer und anderthalb Millionen Stimmen (jeweils gut vier Prozent). Damit ist er zu einem der bekanntesten Gesichter der französischen radikalen Linken geworden. Die LCR ist im selben Zeitraum zur stärksten Kraft links von der Sozialdemokratie avanciert, wenn man sich nur auf die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen stützt, nachdem die französische KP dort schwer eingebrochen ist. An Mitgliederzahlen übertrifft die KP freilich Besancenots LCR, die rund 3.000 aktive Mitglieder zählt, nach wie vor um Längen. Allerdings leidet die weitaus etabliertere KP unter einem erheblichen Überalterungsproblem, während die LCR mit Besancenot eine Verjüngungskur erlebte und auch auf jugendliche GlobalisierungskritikerInnen und andere junge Leute erhebliche Ausstrahlungskraft hat. Bei den französischen Rathauswahlen, die in allen Kommunen des Landes am 9. und 16. März stattfanden, konnten Besancenot und seine Partei erneut von sich reden machen. Die LCR hat nicht genügend Personal, um flächendeckend anzutreten, stellte jedoch in 180 Städten eigene Listen (allein oder in Zusammenarbeit mit, meist kleineren, linken BündnispartnerInnen) auf und war in 36 von 37 Großstädten über 100.000 EinwohnerInnen bei den Rathauswahlen präsent. Für die Entwicklung der LCR ging es bei diesen Wahlen um einiges. Hat die 1969 - unmittelbar aus dem Schwung der Mai-Unruhen von 1968 heraus - entstandene Partei doch nach den Präsidentschaftswahlen 2007 angekündigt, zur Schaffung einer breiteren Partei beitragen und sich bei Erfolg in diese hinein auflösen zu wollen; das Projekt trägt den vorläufigen Titel Nouveau Parti Anticapitaliste ("Neue Antikapitalistischen Partei"), abgekürzt NPA. Bislang hatte die LCR ein ideologisches Profil, das sich als trotzkistisch, jedoch undogmatisch beschreiben lässt. Nun möchte sie auch all jenen Menschen, die die historischen Bezüge des Trotzkismus nicht teilen, aber für eine sowohl radikale als auch nicht-sektiererische Gesellschaftskritik eintreten, ein Angebot zur gemeinsamen Organisierung machen. Schon bei seiner ersten Präsidentschaftskandidatur 2002 hatte Besancenot Schritte in Richtung einer solchen Öffnung unternommen: In seinem damals publizierten Buch "Révolution" schrieb er, auch die "libertären Kommunisten" - die in Frankreich aus einer anarchistischen Strömung kommen und den positiven Bezug auf die Oktoberrevolution nicht teilen - hätten ihren Platz in der LCR. Nunmehr sind die Trotzkisten aber auch dazu bereit, ihre eigene Organisation aufs Spiel zu setzen und nur noch eine Strömung innerhalb einer breiter angelegten radikalen Partei zu bilden. Die Kommunalwahlergebnisse der LCR-Listen, auf denen auch viele bislang Unorganisierte oder BündnispartnerInnen kandidierten, stellen einen gelungenen Stimmungstest dar. So übersprang die LCR vielerorts deutlich die Fünf-Prozent-Hürde, die bei den französischen Kommunalwahlen über den Anspruch auf staatliche Wahlkampfkosten-Rückerstattung entscheidet. Von insgesamt knapp 200 Listen, die entweder in Gänze oder im Wesentlichen durch die LCR getragen oder aber zusammen mit anderen linken Kräften gebildet worden waren, erhielten insgesamt 114 über 5% der Stimmen; 34 davon erreichten mehr als 10%. In Sotteville-lès-Rouen, einer Eisenbahnerstadt mit 30.000 EinwohnerInnen und langen sozialen Kampftraditionen, erhielten zwei Listen aus der radikalen Linken zusammen gut 19% der Stimmen - 14,5% für die Liste der LCR und 4,5% für die Liste der eher traditionalistisch-trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière ("Arbeiterkampf"). In der westfranzösischen Hafenstadt Saint-Nazaire mit rund 70.000 EinwohnerInnen (170.000 im umliegenden Großraum) zog die LCR-Liste in die Stichwahl ein und holte dort 17,69% der Stimmen. Und in der größten Stadt der Region Auvergne, Clermont-Ferrand (140.000 EinwohnerInnen, 280.000 in der Ballungszone), erreichte die LCR in der Stichwahl 15,34%. Hingegen fielen die Wahlresultate der radikal linken Listen in den bürgerlich geprägten Kernstädten der Ballungsräume wie Paris oder Lyon schwächer aus. Ähnliches gilt auch in den Pariser Banlieues - wo die französische KP ihre historischen Bastionen verteidigen konnte, mit Ausnahme von Aubervilliers und Montreuil, die nunmehr erstmals an die Sozialdemokratie bzw. die grüne Partei fielen. Insgesamt schnitt die radikale Linke (links von der KP) in mittelgroßen Städten sowie Ballungszentren "der Provinz" besser ab als im Großraum Paris. Der Gründungsversuch scheint gute Chancen zu haben, bislang nicht in einer politischen Organisation aktive GewerkschafterInnen und AktivistInnen sozialer Bewegungen anzuziehen. Andere strukturierte Strömungen der Linken oder radikalen Linken stehen dem Angebot zu einer gemeinsamen Organisierung jedoch ablehnend gegenüber und sehen darin nur einen Versuch der LCR zu expandieren. In zahlreichen Städten, Gemeinden oder großstädtischen Bezirken haben sich inzwischen "Initiativkomitees für eine Neue Antikapitalistische Partei" gebildet, an denen Mitglieder der örtlichen Sektionen der LCR jeweils teilnehmen, aber nicht unter sich bleiben. Am 5. und 6. April trafen sich zunächst die "Jugend-Initiativkomitees" in Saint-Denis, das nördlich an Paris angrenzt, zu einer frankreichweiten Aktionskonferenz. Rund 200 Personen kamen; die Presse vermerkte einen sichtbaren Unterschied in Reden und Ausdruck zwischen oft studentischen Parteijugendlichen und den nicht organisierten jungen Leuten, von denen viele aus den Banlieues kamen. Am 28./29. Juni soll es nun in der Pariser Vorstadt Montreuil, wo sich der Parteisitz der LCR befindet, zu einer nationalen Konferenz auch der (generationsübergreifenden) Gründungskomitees kommen. Falls das Vorhaben dann Erfolg verspricht, ist an einen Gründungskongress bis zum Ende des Jahres 2008 gedacht. In diesem Falle soll die LCR über die Modalitäten ihrer Auflösung in eine neu zu gründende Partei, eventuell als innerhalb der neuen Organisation bestehende Strömung, sowie über die Unabhängigkeitsgarantien für die aus anderen politischen Traditionen kommenden Mitglieder beraten. Von der bürgerlichen Presse ist die LCR bisher eher gehätschelt, im schlimmsten Falle als Organisation "netter Utopisten" belächelt worden. Die seit kurzem in den Medien hochkochende Affäre um die angebliche "politische Entlassung eines Oppositionellen innerhalb der LCR" hat hier zu einer Verschärfung des Tons geführt.

Die KP lobt das Modell der deutschen Linkspartei

Was steckt hinter dieser Affäre? Bei der LCR, die seit ihrer Gründung 1969 das Recht auf freie Fraktionsbildung anerkennt, gibt es heute im Wesentlichen zwei große Strömungen. Ein Mehrheitsblock betreibt heute im Kern die Neuformierung einer (über bisherige ideologische Grenzen, aus der Ära von vor 1989, hinweg schreitenden) radikalen Linken in völliger Unabhängigkeit von der Sozialdemokratie. Als Chiffre dafür steht das politische Projekt der "Neuen Antikapitalistischen Partei", auch wenn innerhalb der LCR unterschiedliche Vorstellungen über deren künftiges Profil und Betätigungsformen bestehen dürften. Hingegen strebt eine Minderheitsfraktion ein sozusagen "rechts" davon zu verortendes Projekt an, nämlich den Zusammenschluss in einem gemeinsamen Bündnis (oder längerfristig unter einem gemeinsamen organisatorischen Dach) mit bisherigen Strömungen oder Parteistrukturen der etablierten Linken. Als Vorbild für letzteres Projekt könnte etwa die Partei Die Linke in der Bundesrepublik Deutschland dienen, die von manchen AnhängerInnen der Minderheitsströmung in der LCR auch als positives Vorbild zitiert wird. Insbesondere seit den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachen und Hamburg hat auch der Parteiapparat der französischen KP sein Interesse an einem solchen "neuartigen Bündnisprojekt" entdeckt. So veröffentlichte nach der Hamburgwahl vom 24. Februar die Pariser Abendzeitung Le Monde eine volle Seite mit Reaktionen aus unterschiedlichen Ecken der französischen Linken zu den Erfolgen der neuen Partei in Deutschland. Dabei äußerte auch ein hochrangiger Vertreter der KP, es könnte interessant sein, "eine ähnliche Partei auch in Frankreich unter Einschluss der KP, der Parteilinken bei den Sozialisten und eines Teils der LCR" (die er dabei praktischerweise, zumindest in Worten, gleich spaltet) herauszubilden. Die Minderheit in der LCR stellte 2006 noch rund 35% der Kongress-Delegierten. Nach dem Scheitern der von ihr nach Kräften betriebenen "anti-neoliberalen Präsidentschaftskandidatur" unterschiedlicher Linkskräfte repräsentiert sie heute nur noch 14% der Organisation. Dagegen votierten 83,5% der Delegierten für die Perspektive einer "Neuen Antikapitalistischen Partei", während der ein wenig "rechtere" Flügel weiter die Ausrichtung auf eine "anti-(neo)liberale Kraft" favorisiert. Nunmehr bot die Leitung der LCR, die insgesamt viereinhalb Hauptamtlichenstellen umfasst (entsprechend Vollzeitstellen, wobei sich oft mehrere Personen eine Stelle teilen), der Minderheitsfraktion eine Neuverhandlung über ihren Anteil an den materiellen Mitteln der Organisation an. Die Minderheit forderte die Fortführung einer festen Rubrik in der parteieigenen Wochenzeitung Rouge, die sie schon bisher inhaltlich voll selbst verantworten konnte, 12.000 Euro jährlich (oder 1.000 Euro pro Monat) an finanziellen Zuwendungen sowie anderthalb Vollzeitstellen. Ersteres wurde ihr vorbehaltlos gewährt. Die 12.000 Euro hingegen mochte die LCR-Leitung nur im Zusammenhang mit innerparteilichen Aktivitäten aufwenden - etwa für Reisen, um den eigenen Standpunkt in lokalen oder regionalen Gliederungen der Organisation darzustellen, oder zu Kongressen. Hingegen weigerte sich die Mehrheitsfraktion, dem Minderheitsblock auch Aktivitäten außerhalb der eigenen Organisation zu finanzieren - mit dem Argument, dass ein Teil der Minderheit ihren Schwerpunkt zunehmend außerhalb der bisher gemeinsamen Partei suche. Kurz zusammengefasst, ging es der Mehrheit darum, nicht den Aufbau einer Organisation neben der Organisation mit ihren eigenen Mitteln zu finanzieren.

Empörung über angebliche "Säuberungen" in der LCR

Am dritten Punkt kam es endgültig zum Streit: Die Minderheitsfraktion forderte, eine halbe Stelle für organisatorische Bedürfnisse der LCR insgesamt (etwa die Arbeit an der Wochenzeitung Rouge), aber eine volle Stelle für die eigene Fraktionstätigkeit zur Verfügung gestellt zu bekommen. Während die Leitung der erstgenannten halben Stelle zustimmte, lehnte sie das zweite Ansinnen des Minderheitsblocks ab. Damit entfiel die volle Stelle, die bis dahin Christian Piquet - seit 28 Jahren Hauptamtlicher, zuletzt Chefredakteur von Rouge - besetzt hatte. Ihm wurde die halbe nach dem Leitungsbeschluss verbleibende Stelle angeboten. Die Minderheitsfraktion verweigerte darauf die Annahme sämtlicher Mittel, die ihr laut dem Beschluss zugestanden hätten, und ging zwecks Denunziation einer behaupteten "politischen Repression innerhalb der LCR" an die Öffentlichkeit. Darüber berichtete erstmals die Nachrichtenagentur AFP in einer Meldung vom 27. März; einen Tag später folgte ein Artikel in Le Monde. Dieser erweckte den Eindruck, dass innerhalb der LCR eine quasi-stalinistische Säuberungswelle gegen "den bekanntesten innerparteilichen Oppositionellen" am Laufen sei. Seitdem sprangen einige bürgerliche Medien auf diesen Zug auf; das konservative Wochenmagazin L'Express berichtete ebenso über die angebliche Repression gegen einen Oppositionellen wie die KP-nahe Tageszeitung L'Humanité (8.4.). Endlich scheint ein Ansatzpunkt gefunden, um die LCR künftig zumindest teilweise als repressive Hardliner-Partei erscheinen zu lassen. Bernhard Schmid, Paris aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 527/18.4.2008