Der Lehrfall Nokia

Es zeigt sich sehr deutlich, dass eine Auswertung und Schlussfolgerungen aus Kämpfen um den Erhalt von Standorten in der IG Metall und den DGB-Gewerkschaften überfällig ist.

Zu Beginn dieses Jahres machte sich die FAZ Sorgen über einen „Linksrutsch der Gesellschaft“. Zwar handele es sich nur um einen „vermeintlichen“ und ihm läge auch nur ein „diffuses Bedürfnis nach mehr Gerechtigkeit“ zugrunde, ein „diffuses Unbehagen über die Funktionsunfähigkeit demokratischer und marktwirtschaftlicher Institutionen“. Es muss jedoch auch rationale Erkenntnis mitspielen, wenn „manchem erst jetzt bewußt (wird), wie sehr die Konkurrenz des Kommunismus, solange sie bestand, auch den Kapitalismus gebändigt hat“. Es sind also schon handfeste Erfahrungen mit dem jetzt ungezügelten Turbo-Kapitalismus, die dazu führen, dass sich in einem „Drittel der Bürger ... zunehmend Skepsis gegenüber Demokratie und Marktwirtschaft artikuliert“. Das sind die, die man bereits in Politikverdrossenheit und Wahlverweigerung verfallen sieht. Doch damit nicht genug: „Wer verhindern will, dass auch noch das zweite Drittel der Gesellschaft die Grundlagen unseres politischen und wirtschaftlichen Systems in Frage stellt“, tue gut daran, die Brisanz des Themas „soziale Gerechtigkeit“ ernst zu nehmen. „Wie viel Ungleichheit unserer Gesellschaft zuträglich ist, um ihre Vitalität zu erhalten“spitzt sich darauf zu: „Bevor andere die Systemfrage stellen, sollten es die Eliten tun“.1 Kaum dass diese Mahnung verlautet war, bahnte sich ein drastisches Beispiel dafür an, wie die Eliten des Kapitals die Systemfrage nicht nur stellen, sondern sie auf ihre Weise auch beantworten. Mitteilung der Betriebsratsvorsitzenden von Nokia-Bochum, Gisela Achenbach: „Wir hatten eine Aufsichtsratssitzung, ganz normale Tagesordnung. Wir kommen hin und in einem Vorgespräch, in fünf Minuten, haut man uns um die Ohren, dass das Werk geschlossen werden soll“.2

IG Metall auf dem Prüfstand

Seit Mitte Januar steht nun Nokia-Bochum für einen erneuten Lehrfall in politischer Ökonomie des Kapitalismus. Das diktatorische Vorgehen des Konzerns stellt insbesondere das Reagieren der Gewerkschaften auf den Prüfstand. Zunächst ließ sich die Auseinandersetzung hoffnungsvoll an. Bevor eine kapitalfromme Claque loslegen konnte, das Vorgehen der Nokia-Bosse zu rechtfertigen, kam es am 22. Januar in Bochum zu einem wuchtigen Protest gegen den Konzern. Eindrucksvoll erneuert wurde damit die hierzulande eher rare Erfahrung: Wenn die Gewerkschaften ernsthaft mobil machen, kann Entrüstung und Wut, die zunächst die Nokia-Belegschaft ergriffen hatte, in Widerstand übergehen, kommt gewerkschaftliches Bewusstsein und Solidarität zum Tragen. So auch bei der Menschenkette um das Werk am sonntäglichen 10. Februar und beim Solidaritätszelt vor dem Werk. Sah die FAZ dort abfällig nur „potentielle Hartz IV-Empfänger, die Tränen vergießen, nach sozialer Gerechtigkeit rufen“, stellt sie dennoch die Nokia-Affäre in den Zusammenhang mit der politischen Entwicklung im Land. Es stehe zu fürchten, „dass durch die Nokia-Wut, die sich nun ausbreitet, tatsächlich ein politisches Lager profitiert, das dem Sozialismus immer noch näher steht als dem Kapitalismus“ und wagt sogar die Frage, „ob die Wirtschaft zusehen will, wie ihr Tun und Lassen dazu beiträgt, dass die politische Kultur, die ihr am nächsten steht, an Chancen verliert, Wahlen zu gewinnen“.3 Solche Erwägungen nach diversen Wahlergebnissen stellen jedoch für „die Wirtschaft“ keine Veranlassung dar, mit profitorientierten Entscheidungen zurück zu halten. Nokia, das Plattmachen eines profitablen Werkes, ist ja kein abseitiger Einzelfall. Siemens, Allianz, Deutsche Bank u. v. a. m. verkünden in einem Atemzug Rekordgewinne und die Vernichtung tausender Arbeitsplätze. Dass dies nicht gefährlich werden kann, ist Sache „der Politik“; und Schäuble ist dafür der richtige Innenminister. Dem Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung, Hans D. Barbier, stieß sauer auf, dass sogar die Kanzlerin ein „Geraune über große Fragen an das Gesellschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft“ anstimmte. Als ob sie nicht wüsste, dass „Unternehmer und Manager, die ein besseres Steuersystem für den Standort Deutschland fordern, gleichzeitig keine Chance auslassen, Teile der Produktion an kostengünstigere Standorte auszulagern“, und dass dies „unter den politischen Gegebenheiten der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2008 keinen Gegensatz bedeutet“. 4

Protest rührt am System

Obgleich es nach dem Beschluss des Nokia-Aufsichtsrates, der das Diktat des Managements über die Schließung des Werkes Bochum sanktionierte, erst einmal ruhiger geworden und offen ist, wie es in diesem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit weitergeht, ist das Symptom nicht erloschen, wie heute schon das erste Aufbrechen sozialen Protestes an die „Systemfrage“ rührt. Als noch Systemkonkurrenz herrschte, galten gewerkschaftliche Kämpfe, weil sie vom Kapital mit Zugeständnissen pariert werden konnten, als Beweis für ein überlegenes westliches „Sozialstaats-Modell“. Heute, in Zeiten eines zügellosen „Neoliberalismus“ geraten sie sehr schnell zur Gefährdung des kapitalistischen Systems. Für den Vordenker der Ludwig-Erhard-Stiftung, für den im Fall Nokia nur „die simpelste Ökonomie aller Märkte“ passiert,5 ist es dennoch „offenkundig, dass die systemkritische Frage nach der ‚Aufgehobenheit breiter Schichten in der Globalisierung’ mit mehr Dringlichkeit und teilweise auch mit Aggressivität gestellt wird“, zum Leidwesen der „fast immer missverstandenen Sozialen Marktwirtschaft“.6 Den Vorsitzenden der IG Metall, Berthold Huber, kann er damit kaum gemeint haben. Dessen Ankündigung auf der Bochumer Kundgebung am 22. Januar: „Wir werden kämpfen, wenn der Konzern sich aus der Verantwortung stiehlt“, hat nicht lange vorgehalten. Nach vier Wochen hat der IG Metall-Vorstand seine Unterstützung für das Solidaritätszelt durch zwei Gewerkschaftsfunktionäre eingestellt, obwohl dort täglich Beweise von Solidarität aus anderen Betrieben, Verwaltungen, Parteien, Schulen, Kirchen usw. ankamen. Sie vertrauten der Ankündigung Hubers von Kampfmaßnahmen für den Fall, dass der Aufsichtsrat der Schließung des Werkes zustimmen sollte. Doch genau danach strich Huber die Segel.

Die Mär von der „sozialen Verantwortung“

Apropos: Verantwortung. In Tarifauseinandersetzungen oder bei drohendem Verlust von Arbeitsplätzen wird häufig an die „soziale Verantwortung der Arbeitgeber“ appelliert. Es ist verständlich, wenn Menschen, denen der Verlust des Arbeitsplatzes droht, an die Beteuerungen von „sozialer Verantwortung“ Hoffnungen knüpfen, zumal, wenn sie wie bei Nokia, glauben, sich auf einen vom Konzern kreierten „Wertekodex“ berufen zu können, der ihnen „Respekt vor dem Einzelnen“ ebenso verheißt wie die „Verpflichtung zur sozialen Verantwortung“. Diese Belegschaft, in der für viele bis dato das Bild von der „Nokia-Betriebs-Familie“ stimmte, muss jetzt die Erfahrung verarbeiten, was die vom Konzern behaupteten „gelebten Werte“ wert sind. Aber müsste nicht ein IG Metall-Vorsitzender längst aus der gewerkschaftlichen Praxis wissen, dass es für Kapital und Arbeit ein gemeinsames, moralisch fundiertes Verständnis von Verantwortung nicht geben kann? Der Vorstandsvorsitzende von Nokia, Olli-Peka Kallasvuo, macht keinen Schmus um unternehmerische Moral: „Es ist die Pflicht des Managements, dieWettbewerbsfähigkeit des Unternehmens klar und proaktiv zu sichern“.7 Als Appell an ihre Verantwortung können Manager nur die an sie gerichtete Erwartung der Aktionäre nach dem höchstmöglichen Gewinn verstehen. Darum plagt diese Macher von Shareholder Value kein Gewissen, wenn sie in Bochum ein profitables Werk schließen und die Handy-Produktion in Rumänien bereits weitaus profitabler haben anlaufen lassen. Durfte die Belegschaft erwarten, dass es die Konzernleitung für den Erhalt des Standorts Bochum einnimmt, wenn, wie es die Betriebsratsvorsitzende Gisela Achenbach schilderte, „wir als Betriebsrat seit vielen Jahren gemeinsam mit unserer Unternehmensleitung zusammen kooperativ an unseren Standortkosten gearbeitet haben“? Mit der Folge: „Keine außertariflichen Zuschläge mehr, kein Jubiläumsgeld mehr, Urlaubstage für Jubiläum – alles weg“. Und: „Wir haben in der Weihnachtswoche gearbeitet, Überstunden, bis Ende des Jahres Zusatzschichten gefahren bis zum Gehtnichtmehr. Schon um den Standort zu retten“8

Rendite vor allem

Geschäftsbewußt kassierte der Konzern den Beitrag, den die Bochumer Belegschaft dazu leistete, dass der Nettogewinn 2007 um 67 Prozent auf 7,2 Milliarden Euro stieg – und blieb bei der Schließung. Ihn beeindruckte es auch nicht, dass noch nach dem Bekanntwerden der Schließung in Bochum fleißig weiter Schichten gekloppt wurden, „um unsere Zuverlässigkeit zu beweisen“. Und schließlich war die Konzernleitung auch nicht von dem Angebot des Betriebsrates zu überzeugen, durch Modernisierung der Fertigungsanlagen die Produktion bei gleicher Belegschaftsstärke zu verdoppeln. Das war der letzte verzweifelte Versuch, die Konzernleitung umzustimmen, der sogar in Kauf nahm, in Konkurrenz zu den Belegschaften anderer Nokia-Standorte zu treten und Solidarität untereinander zu erschweren. Die Produktion in Bochum hat 2007 einen operativen Gewinn von 134 Millionen Euro eingefahren, 90 000 Euro von jedem Beschäftigten. Ziel des sich längst zum transnationalen Multi mit Produktionsstandorten in Ungarn, Brasilien, Mexico, China und nun auch in Rumänien gemauserten Konzerns ist es, die Kapital-Rendite von jetzt 15 auf 20 Prozent zu steigern. Dies ist eben mehr als die emotional richtig benannte „Gier nach Profit“ – es ist das dem Kapital immanente permanente Streben nach Maximalprofit, dem Bochum geopfert wird. Gewisse Äußerungen zu diesem Vorgang erweisen sich als blanke Spiegelfechtereien. „So geht man in Deutschland nicht miteinander um“, entrüstete sich der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Schauerte (CDU). Als ob deutscher Standort-Nationalismus eine Schutzgarantie abgebe und es noch nie Vernichtung von Arbeitsplätzen in deutschen Unternehmen gegeben habe. Und obendrein: So geht man in EU-Europa miteinander um, künftig „rechtsstaatlich“ sanktioniert, wenn erst der EU-Verfassungsvertrag in Kraft ist, der die neoliberale Wirtschaftsordnung institutionell festschreibt. Mit seinem „unverfälschten Wettbewerb“ jagt er die Staaten, die Kommunen, die Belegschaften in eine gnadenlose Konkurrenz um die günstigsten Bedingungen für das Kapital. Berthold Huber band seine Zusicherung: „Wir werden kämpfen“, an die Voraussetzung, „wenn dem Konzernvorstand die Profitinteressen der Aktionäre wichtiger sind, als die Zukunft der Beschäftigten“9 Das waren sie längst im konkreten Fall und sind sie immer, wo die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Das Verwunderliche daran ist nur, dass dem Vorsitzenden der IG Metall diese aus dem Profitprinzip resultierende Gegebenheit nur als eine Eventualität erscheint, möglicherweise abhängig von persönlichen Charaktereigenschaften der Akteure des Kapitals. Nur so kann man es verstehen, dass er seine Aufforderung, Nokia-Bochum nicht zu schließen, auf die Erwartung baute, die Bosse müssten so handeln, „wenn sie auch nur noch einen Funken Anstand besitzen.“ Natürlich ist es richtig, in Auseinandersetzungen mit „Riesensauereien“ wie bei Nokia die Akteure beim Namen zu nennen. Aber es verschleiert die wirklichen Zusammenhänge der kapitalistischen Besitz- und Machtverhältnisse, wenn deren Wirkungsweise vordergründig personalisiert und primär nach auf Personen bezogenen moralischen Kriterien bewertet wird.

Bosse von Marx entlastet?

Im Vorwort zur ersten Auflage von „Kapital“ Band I merkte Karl Marx 1872 zum „letzten Endzweck dieses Werkes, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ folgendes an: „Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigenthümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andre kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Proceß auffaßt, den Einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er social bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag“.10 Nur naive Gemüter können die Akteure des Sozialabbaus durch Marx entlastet sehen. Ihr angreifbares Verhalten als Personen lässt auf angreifbare Gesellschaftsverhältnisse schließen. In dem Marxschen Gedanken liegt die Konsequenz, den Klassenverhältnissen und Interessen auf den Grund zu gehen, deren Träger der Arbeiterklasse in sozialen Auseinandersetzungen, die nur als Klassenkampf zu verstehen sind, gegenübertreten. Gerade die Gewerkschaften brauchen keine oberflächliche, sondern fundierte Kritik der kapitalistischen Verhältnisse und eine radikal-aufklärerische Polemik mit den Positionen, die Vorgänge, wie die treffend als „menschenverachtend“ bezeichnete Arbeitsplatzvernichtung bei Nokia, verteidigen. Und von der Kapitalseite wurde wahrlich kein Blatt vor den Mund genommen.

Profit – der „Motor des Wohlstands“?

Die FAZ fragt: „Darf man Arbeitsplätze von einem zum anderen Ort verlagern, nur um den Profit zu steigern? Natürlich“. Und demagogisch werden da an möglichst hoher Rendite interessierte Investoren und Unternehmer und „der Verbraucher, der auf kollektiver Schnäppchenjagd seine persönliche Globalisierungsrendite einstreichen will“ zu gleichwertigen Nutznießern der Globalisierung verbandelt.11 Die „Süddeutsche Zeitung“ verurteilt die Kritik an Unternehmern und Managern, nur weil sie „die ökonomischen Gesetze für sich nutzen und sich weigern, um des guten Friedens willen Unternehmenspolitik als Sozialpolitik zu verstehen“.12 Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Mobilcom AG, Thorsten Grenz, erklärt: „Eine Politik, die Arbeitsplatzverluste geißelt, gleich ob sie Folge von Missmanagement oder vorausschauender, konsequenter Strategie sind, ist uninformiert und zynisch“; er lobt Nokia, weil der Konzern „auf Grund seiner guten wirtschaftlichen Lage strategisch wohlüberlegt entscheiden konnte“.13 Schließlich: „Nokia hat eine goldene Bilanz vorgelegt. Ein Gewinnsprung von 67 Prozent auf 7,2 Milliarden Euro... Doch es hilft niemandem – schon gar nicht den vor der Entlassung stehenden Beschäftigten in Bochum – das Streben nach Gewinn einäugig zu verteufeln.“ Denn dies sei „der wichtigste Motor für Fortschritt und Wohlstand“.14 Die Resonanz solcher Lobgesänge auf das Profitprinzip kann durchaus verschieden sein. Manche mag es im trügerischen Glauben an die „Vorzüge der Sozialen Marktwirtschaft“ bestärken – problematischer für die Gewerkschaften wie für Linke ist die vermeintliche Ohnmacht gegenüber diesem Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise, die Resignation, dass die Folgen als unausweichlich hingenommen werden müssen. Natürlich beeinträchtigt jede erkämpfte reale Lohn- und Gehaltserhöhung den Profit. Aber das Blatt wendet sich schon in den inzwischen nicht seltenen Fällen, wo Belegschaften glauben, drohenden Arbeitsplatzabbau durch Lohnverzicht abwenden zu können, in der Regel dazu von Betriebsräten bewogen, unwidersprochen von Gewerkschaften, entgegen der überwiegenden Erfahrung, dass Lohnverzicht Arbeitsplätze auf Dauer nicht sichert. Praktisch hat auch die Nokia-Belegschaft diese Erfahrung längst hinter sich und es stellte sich die Frage, wie nun die geforderte Erhaltung der Arbeitsplätze durchgesetzt werden kann. Doch auch dieses Ziel ist offenkundig aufgegeben und es wird weitergearbeitet und über den so genannten „Interessensausgleich“, über Sozialplan, Abfindungen, Transfergesellschaft verhandelt. Der Betriebsrat wertete es schon als Erfolg, dass sich Nokia dazu bereit erklärt habe. Die starken Worte von Seiten „der Politik“, vom „Arbeiterführer“ Rüttgers etwa, aber auch von Vertretern der IG Metall, für den Erhalt der Arbeitsplätze in Bochum einzustehen, haben sich in Schall und Rauch aufgelöst. Rüttgers interessiert sich nur noch für die 60 Millionen Euro, die Nokia an das Land NRW zurückzahlen soll. Berthold Huber hielt es bei der Kundgebung am 22. Januar noch „für unerträglich, um nicht zu sagen für einen Skandal, dass die Vernichtung von Arbeitsplätzen noch immer als Betriebsausgabe von der Steuer absetzbar ist. Ja wo leben wir denn?“ (15) In den Wind geredet; die Große Koalition, Finanzminister Steinbrück (stellvertretender SPD-Vorsitzender) können offenbar gut mit diesem Skandal leben.

Der „teuerste Sozialplan“?

Jetzt wird sich zeigen, was durch interne Verhandlungen für die Belegschaften des Werkes und der Zulieferbetriebe herauszuholen ist. Die Beschäftigten von AEG Nürnberg mussten 46 Tage nur für einen Sozialtarifvertrag streiken, um die Folgen des Arbeitsplatzverlustes abzumildern. Noch steht Berthold Huber im Wort: „Wenn am Ende des Prozesses Nokia nicht bereit ist, in die Zukunft des Werkes und der Arbeitsplätze zu investieren, dann wird das der teuerste Sozialplan, den das Land je gesehen hat“16 Der Fall Nokia hat die Debatte um Reformen belebt, die die Macht von Konzernen eingrenzen sollen. Sie sind wichtig, auch wenn die jetzt in Bochum Betroffenen an der Debatte kaum beteiligt sind. Es geht dabei um ein gesetzliches Verbot von Massenentlassungen, um mehr Mitbestimmung über Investitionen, um eine Regelung, dass Subventionen nur noch als Erwerb von staatlichen Beteiligungen geleistet werden dürfen, um die Übernahme einer Regelung im VW-Gesetz, dass für Betriebsverlagerungen im Aufsichtsrat eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist usw. Ohne Zweifel wären das nützliche Reformen, auch wenn manche damit schon den reformistischen Traum von „Wirtschaftsdemokratie“ in Erfüllung gehen sehen. Es wird sich erst noch zeigen, wie demokratisch sich „die Wirtschaft“ anstellt, wenn ein Stück mehr von der Grundgesetzbestimmung verwirklicht werden soll, dass „Eigentum .. dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ soll.

Nokia gehört enteignet

Die DKP hat die Forderung nach der Enteignung von Nokia in die Auseinandersetzung eingebracht. Sicher nicht in der Annahme, dafür jetzt die Nokia-Belegschaft im Rücken zu haben. Auch in den Stellungnahmen von Gewerkschaften und Linken war aktuell davon keine Rede. Dennoch ist es richtig, diese Konsequenz jetzt aufzuwerfen. Sie bezieht sich auf Artikel 15 GG – eine Bestimmung aus dem Grundrechtekatalog, die im Vergleich zu der häufig zitierten „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums regelrecht ein Schattendasein führt. Die FDP will sie sogar als „Gefährdung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ abschaffen. Dagegen ist es aktive Verteidigung des Grundgesetzes und in Anbetracht der sozialreaktionären Politik von Konzernen konsequente Reformpolitik, die Möglichkeit des GG- Artikels 15: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt; in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“, auf die Tagesordnung zu bringen, wenn von Seiten des Kapitals die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (GG, Artikel 14, Absatz 2) total ignoriert wird. Aus dem Grundgesetz folgt nicht, dass nur die Form des Privateigentums an Produktionsmitteln zulässig ist. Die Verfasstheit vergesellschafteten Eigentums ist eine Frage des Kampfes um demokratische Strukturen. Mit einer bloßen Verstaatlichung wird den Beschäftigten von Betrieben nicht gedient sein, wenn sie mit einer Vergesellschaftung die Fortführung der Produktion, also Erhaltung ihrer Arbeitsplätze erreichen wollen. Aber es gibt vorläufig kaum praktische Erfahrungen, wie eine Enteignung von Konzernkapital mit wirksamer Kontrolle durch die Belegschaften und Gewerkschaften verbunden werden kann. Wenn jedoch der Enteignung zigtausender Beschäftigter von ihren Arbeitsplätzen effektiv entgegen gewirkt werden soll, wird man um diese weitgehende Reform nicht herum kommen. Sie braucht eine gesetzliche Regelung, also parlamentarische Initiative. Der Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, Gregor Gysi, hat sich in jüngster Zeit mehrfach dahingehend geäußert, dass er Enteignungen im Bereiche der industriellen Produktion ablehnt. Also wird es darauf ankommen, ob man sich in den Gewerkschaften zu dieser Konsequenz durchringen, d. h. auch entsprechende außerparlamentarische Bewegung entfalten wird. Zu den Bedingungen für die Durchsetzung einer solchen Reform gehört, dass wie bei den Unternehmerverbänden sich auch in der Großen Koalition die Position verfestigt hat, jede radikale Kapitalismuskritik als „Staatsfeindlichkeit“ zu werten. Eine Lehrstunde darüber war die im Bundestag inszenierte Debatte über den „Fall“ der in den niedersächsischen Landtag gewählten Abgeordneten Christel Wegner (DKP). Für die CDU/CSU war das die Gelegenheit, mit gesellschaftsverändernden linken Vorstellungen abzurechnen und die kapitalistische Ordnung für sakrosankt zu erklären. Für die CDU-Abgeordnete Kristina Köhler geht es bei jedem Gedanken an eine „Demokratisierung der Wirtschaft“ um „einen Kern unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, nämlich um das Recht auf Eigentum. An dieses Eigentum will die Linke ran“. Dagegen zog sie mit den uralten antisozialistischen Klischees vom Leder, die die Kleinbürger erschrecken und das große Kapital tabuisieren sollen: „Die Sozialisten wollen die Enteignung der großen und kleinen Unternehmen von Maschinen und Grundeigentum. Sie fordern die Enteignung des kleinen Handwerkers von nebenan. Sie fordern volkseigene Betriebe.“17 Solch Erschröckliches hat die DKP nicht davon abgehalten, die Forderung nach Enteignung von Nokia in die Auseinandersetzung mit dem Konzern einzubringen. Gewiss in realistischer Einschätzung der Bedingungen für deren Verwirklichung. Doch ist es richtig, dafür zu wirken, dass die Schandtaten des Kapitals nicht länger nur mit Halbheiten beantwortet werden. Es wird nicht zu der von den Herrschenden befürchteten Infragestellung ihres „Systems“ kommen, wenn nicht noch im Rahmen der kapitalistischen Ordnung konsequente Reformen für nötig und möglich gehalten werden. Was die Entwicklung bei Nokia anbetrifft, muss befürchtet werden, dass ein weiterer Name zu der Kette der Fälle – AEG, Bosch, BenQ usw. – hinzukommt, wo das Kapital auf seine Kosten gekommen ist. Man muss die Meinung des BenQ-Betriebsrates Michael Gerber teilen: „Die Auseinandersetzung bei Nokia droht zu einer bitteren Niederlage der Gewerkschaft zu werden...Die Folgen haben nicht nur die Beschäftigten von Nokia zu tragen, sondern sie erschweren auch künftige Klassenkämpfe. Es zeigt sich sehr deutlich, dass eine Auswertung und Schlussfolgerungen aus Kämpfen um den Erhalt von Standorten in der IG Metall und den DGB-Gewerkschaften überfällig ist“.18 Anmerkungen 1 Frankfurter Allgemeine Zeitung, (FAZ) 2.1.2008 2 Unsere Zeit,(UZ) 1.2.2008 3 FAZ, 19.1.2008 4 FAZ, 7.3.2008 5 FAZ, 25.1.2008 6 FAZ, 29.2.2008 7 FAZ, 25.1.2008 8 UZ, 1.2.2008 9 UZ, 1.2.2008 10 Marx/Engels, Gesamtausgabe II/6, Seiten 67/68, Dietz-Verlag, Berlin, 1987 11 FAZ, 21.1.2008 12 Süddeutsche Zeitung, 21.1.2008 13 FAZ, 30.1.2008 14 FAZ, 30.1.2008 15 UZ, 1.2.2008 16 Tagesspiegel, 4.2.2008 17 Junge Welt, 23./24. 2. 2008 18 UZ, 22.2.2008

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