Krieger und Blondinen - das Steinzeitmodell im Liebesroman zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Im Liebesroman geht es um Kuss und Tod. Die Liebe überwindet Grenzen, sie ist stärker als die Todesangst. Sie beweist sich an Widerständen. Die Frau erwartet, dass der Mann immer wieder zu ihr zurückkehrt, der Mann erwartet, dass die Frau immer da ist, wenn er sie sucht. Der Trivialroman erzählt von der Liebe, die gelingt, die Literatur von der Liebe, die scheitert. Aber die Liebe ist nicht nur Gegenstand des Schreibens, sie wird auch instrumentalisiert; zum einen, um Poesie zu schaffen - Minnelieder, Gedichte, Bestseller -, zum andern, um gesellschaftliche Verhältnisse anzuprangern. Und zwar immer dann, wenn Gruppen - Nationen, Klassen, Kasten, Religionen - einander im Machtkampf gegenüberstehen. In diesem Fall stirbt einer, meist die Frau, oft auch beide wie in Shakespeares Romeo und Julia.
Das bürgerliche Trauerspiel spiegelt den Anspruch alter bürgerlicher Männer auf Macht und den junger Dichter auf Zukunft. Zur Rechtfertigung der Machtansprüche dient die Moral. Dabei wird die Liebe zur essenziellen Bedrohung für das sich aufstellende Bürgertum, denn sie entführt dem Patriarchen die Tochter. Der bürgerliche Verführungsroman disqualifiziert den Adel durch seine Unmoral und vernichtet zugleich die Töchter. Er tötet, wenn sie eigensinnig und eigensinnlich sind. Seit Samuel Richardsons Briefroman Clarissa or the History of a Young Lady (1748) bilden die Verhältnisse, die im Roman zur Katastrophe führen, immer wieder dasselbe Muster. Der Vater wählt der Tochter den Mann, schwächt seine Position aber durch Herrschsucht oder Abwesenheit, die Mutter liebäugelt mit dem sozialem Aufstieg, was in der Familie ein Törchen öffnet für den Vorstoß des Verführers, der, mit Attributen des französischen Libertins ausgestattet, die Tochter entführt, verführt oder vergewaltigt. Hat die junge Frau Sex außerhalb der Ehe, stirbt sie am Ende des Romans. Hat sie ihn nicht, dann stirbt sie nicht (vgl. Lehmann 1991). Die Protagonistinnen solcher Romane (z.B. Fontandes Effi Briest, Flauberts Emma Bovary) sind mit einem emanzipatorischen Keim ausgestattet; sie haben, mehr oder minder versteckt, Züge männlicher Wildheit, gern auch umgedeutet in kindliche Natürlichkeit - besonders auffällig bei Fontanes Effi Briest das Schaukelmotiv. Ihr rudimentärer Freiheitsdrang macht sie verführbar, was sie innerhalb der bürgerlichen Romanästhetik aus der Gesellschaft katapultiert, meist in den Romanheldinnentod. Das gilt auch für Protagonistinnen, die von Schriftstellerinnen entworfen wurden, z.B. Sophie La Roches Prinzessin von Cleves, George Sands Indiana, Ida Hahn-Hahns Gräfin Faustine oder Kate Chopins The Awakening. Im Bestreben des Bürgertums nach rational begründeter Macht hat Liebe keinen Platz. Seine Romanästhetik stellt Frauen unter den Generalverdacht, die Ordnung ins Wanken zu bringen, und zwar so grundlegend, dass dies undenkbar erscheint. Die Frau darf nicht sein wie der Mann, denn sonst wäre der Mann kein Mann mehr. Das ist bis heute undenkbar, es sei denn in der simplen Umkehr der Machtverhältnisse, wie es mit generell herrschaftskritischer Zielrichtung die norwegische Autorin Gerd Brantenberg in ihrem Roman Die Töchter Egalias (1977) versucht. Der Roman fiel vor allem deshalb auf, weil er die These der feministischen Linguistik aufgreift, dass westliche Sprachen und Sprechhaltungen vom männlichen Subjekt ausgehen (vgl. Pusch 1984), und konsequent die Sprache feminisiert: befrauscht euch statt beherrscht euch, Wibschen statt Menschen, dam statt man etc.

Liebe im Feminismus

Damit sind wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bei der Frage, ob eigentlich die männliche Definitionsmacht der Verhältnisse, in denen Liebe stattfindet, durch etwas anderes abgelöst wird. Schauen wir uns ein paar Romane von einigem Gesprächswert an. Gänzlich der Tradition moralisierender Gesellschaftskritik verpflichtet sind Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns (1963). Böll benutzt die Geschichte vom Scheitern der Liebe für eine Kritik am Nachkriegsdeutschland. Die Liebe scheitert, weil Marie "den Weg, den ich gehen muss", geht, der sie allerdings nicht in die Freiheit, sondern, so will es die Konstruktion des Romans, in eine andere Ehe führt. Der männliche Moralist zerbricht daran. Die Frau erscheint als Verräterin.
Aus Ingeborg Bachmanns Sicht wird sie Opfer eines Mordes. In ihrem Roman Malina (1971) verflüchtigt sich die namenlose Ich-Erzählerin aus der Wohnung, der Liebe und dem Text in eine Wandritze. "Es war Mord", heißt es dann. Die Väter (Nazis und Mörder) und die Liebhaber haben das Weibliche aus der von ihrer Sprache und ihren Normen beherrschten Welt gedrängt.
Zehn Jahre später löste Der Tod eines Märchenprinzen (1980) von Svende Merian Kopfschütteln und Gelächter aus. Der autobiografische Dokuroman beschreibt eine unerwiderte Liebe aus weiblicher Sicht. Arne hat zwar mit Svende geschlafen, ist aber an einer Beziehung nicht interessiert. Die Ich-Erzählerin muss sich im Rahmen einer Selbstfindung unter feministischer Klage vom Märchenprinzen als Eroberer verabschieden, ohne allerdings recht einsehen zu können, warum der Mann nicht die Rolle spielt, die sie von ihm wünscht. Da flackert der Wunsch, der Mann möge seine Brutalität und Machtbehauptung in den Dienst der Lebensabsicherung der Frau stellen. Dem Motiv des gezähmten Kriegers werden wir später wieder begegnen. - Zum andern spiegelt das Paradoxon, dass der Mann, den Svende liebt, nicht der ist, den sie sich wünscht, ein Problem, das schon das Bürgertum hatte. Die Darstellung von scheiternder Liebe ist nützlich zur Kritik an Machtverhältnissen. Doch die Liebe selbst untergräbt den politischen Kampf um Macht. In einem feministischen Roman kann Liebe nicht vorkommen. Denn die Liebe stellt keine Bedingungen an den Mann. Diesen Widerspruch von Kopf und Bauch thematisiert Benoite Groult 1988 in ihrem Bestseller Das Salz auf unserer Haut. Er erzählt, autobiografisch gefärbt, die Geschichte der Liebe einer Pariser Intellektuellen zu einem bretonischen Fischer, die sich über Jahre hinzieht, bis er stirbt. Beide haben ihre Familien in ihren jeweiligen Kreisen und treffen sich in Abständen an diversen Orten auf der Welt zum Beischlaf. Voller Verwunderung arbeiten sich Autorin und Protagonistin an der Frage ab: Wieso lieben vernünftige Frauen gut gebaute Machos [1]?
Die Frage führt über Selbstzweifel in Selbstverachtung und Verzweiflung. Elfriede Jelinek stellt uns Frauenfiguren vor, die auf beklemmende Weise Nutznießerinnen des Systems sind, das sie entwürdigt. Sie entwürdigen sich selbst. In ihrem Roman Lust (1992) beschreibt Jelinek die vollständige Entmenschlichung der Frau beim Sex und die Verbrüderung von Mann, Sohn und Liebhaber zu ihrer Vergewaltigung. Die ursprüngliche Absicht Jelineks, Pornografie aus weiblicher Sicht zu schreiben (vgl. Anz 2007), scheitert demonstrativ an der Übermacht der männlichen Sprache in der Verbalisierung des Sexualakts [2]. Der Frau stehen keine eigenen Bilder der Lust zur Verfügung, weibliche Lust existiert nicht. Entweder die Frau wird korrumpiert durch Liebe und fügt sich (mehr oder minder streitend) in männlich dominierte Verhältnisse, oder sie bleibt frigide.
In dieser Gefahr sind die Romanheldinnen bis heute. Wenn die Verhältnisse der Liebe nicht günstig sind, dann ist die Lösung Ausbruch aus der Zweierbeziehung. Diese selbst kann nicht anders definiert werden. Sie funktioniert entweder oder sie funktioniert nicht. Es mag kein Zufall sein, dass von Frauen geschriebene Romane über schwierige Liebesbeziehungen mehr oder minder starke autobiografische Züge tragen. Autorinnen vergleichen ihr Leben, Fühlen und Wünschen mit den Frauenbildern, welche die Literatur- und Geistesgeschichte ihnen liefert, und erkennen (oft ästhetisch scheiternd), dass sich die Ästhetik der fiktionalen Literatur mit ihren eindimensionalen Marien-Bildern à la Böll der Erzählbarkeit weiblicher Mehrdimensionalität verschließt.
Nur ein Genre setzt sich vordergründig darüber hinweg: der Unterhaltungsroman für Frauen der 1990er Jahre mit seiner prominenten Vertreterin Hera Lind, die mit ihrem Superweib (1994) begriffsbildend wurde. Superweiber sind selbstbewusst, selbstständig, kinderreich, hübsch und in Beruf und nach einigen Umwegen, mit denen sich der Roman befasst, auch in der Liebe erfolgreich. Kein Kunststück, sind diese Frauen doch super angepasst an sämtliche Leistungserwartungen der Gesellschaft. Diese Romane stehen in der langen Reihe leicht lesbarer Massenliteratur, die ganz allgemein behauptet, das persönliche Glück könne durch individuelle Tapferkeit und Gradlinigkeit errungen werden. Nur Gott ist da als höhere (und stets gute) Macht noch wirksam, gesellschaftliche Verhältnisse sind es nie.
Unter der Lawine der Unterhaltungsromane von Hera Lind, Amelie Fried, aber auch Rosamunde Pilcher (und meinen eigenen) erstickten zum Jahrtausendwechsel die anklagenden, beunruhigenden, erbitterten oder analytischen Versuche, für die Fiktion Verhältnisse zu erdenken, welche der Liebe weibliche Begriffe, Bilder und Ästhetik hätten geben können. Die Kritik an der Dominanz des Männlichen in Gesellschaft, Sprache und Regeln für das Intimleben, zieht sich zurück auf Hofnärrinnenspott und schlägt durch das Mitleid mit dem geprügelten Mann, der aus genetischen Gründen offenbar nicht anders sein kann, als er ist, auf uns zurück. Sein geknicktes Selbstbewusstsein muss nun wieder aufgerichtet werden, sonst versacken unsere Söhne auf der Suche nach alten Männlichkeitsbildern vom Krieger in Gewaltspielen am Computer und werden gefährlich. Diese Schiene gibt es auch im Kriminalroman: Die Geschichte von Serienmorden an Frauen und Kindern, begangen von einem Mann, an dessen neuronaler Polung im Zweifelsfall eine lieblose Mutter schuld oder mit schuld ist. Doris Lessing (The Golden Notebook, 1961 [3]) hielt 2001 in Edinburgh auf einem Festival einundachtzigjährig eine Rede, die von der britischen Tageszeitung The Guardian aufgegriffen wurde und unter Titeln wie "Männer wehrt euch gegen doofe Frauen!" in der dpa-Version anschließend ihren Niederschlag in zahlreichen deutschen Presseorganen fand. Da heißt es:
"Ich bin zunehmend schockiert über die gedankenlose Abwertung von Männern, die so sehr Teil unserer Kultur geworden ist, dass sie kaum noch wahrgenommen wird. [...] Die dümmsten, ungebildetsten und scheußlichsten Frauen können die herzlichsten, freundlichsten und intelligentesten Männer kritisieren und niemand sagt etwas dagegen. Die Männer scheinen so eingeschüchtert zu sein, dass sie sich nicht wehren. Aber sie sollten es tun." (dpa 14.08.2001)
Die Autorin beklage eine "denkfaule und heimtückische Kultur", die sich des Feminismus bemächtigt habe und darauf hinauslaufe, "auf Männer einzudreschen". Sie berichtete laut dpa über einen Besuch in einer Schule, in der die Lehrerin Beifall heischend erklärt habe, Kriege seien auf die angeborene Gewalttätigkeit von Männern zurückzuführen.
"Da saßen die kleinen Mädchen fett, selbstgefällig und eingebildet, während die kleinen Jungs zusammengesunken waren, sich für ihre Existenz entschuldigten und dachten, dass das so ihr ganzes Leben lang weitergehen würde. Das passiert überall in den Schulen und niemand sagt ein Wort." (ebd.)

Liebe im Gehirn

Neurologen haben in den letzten zehn Jahren eifrig dazu beigetragen, der Gleichmacherei der Gleichberechtigung entgegenzuarbeiten. Sie suchen und finden Unterschiede in Bauplan und Funktion von männlichem und weiblichem Gehirn, fasziniert vom Trugschluss, dass Männer und Frauen deshalb in Parallelwelten leben. Neurologisch ist der Mann demnach ein Jäger mit guter räumlicher Vorstellung und geringer Sozialkompetenz. Die Frau dagegen ist Sammlerin und besitzt die größere Sozialkompetenz. Emotional ist der Mann simpel strukturiert, die Frau dagegen kompliziert (vgl. Baron-Cohen 2006; Brizendine 2007; Brost u.a. 2006; Brost 2007). Forschungsergebnisse, die solche Thesen widerlegen, werden kaum wahrgenommen. So betont etwa die Freiburger Geschlechtsforscherin Sigrid Schmitz (2007), dass Unterschiede im Gehirn eher auf Training, denn auf Hormonen und genetischer Festlegung beruhen. Je häufiger beispielsweise Kinder im Freien spielen und zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, desto besser entwickelt sich ihre Orientierung. Aus Angst vor Übergriffen lassen Eltern aber gerade Mädchen weniger freizügig herumstrolchen.
Auch für die irrationalen Vorgänge der Liebe findet die Neurologie Begriffe, die darauf hinauslaufen, dass der genetisch festgelegte Paarungstrieb das Bewusstsein in seinen Dienst stellt. So bevorzugten etwa Männer blonde Frauen, weil helle Haare auf einen hohen Östrogenspiegel hindeuteten; Frauen könnten Sex und Liebe nicht trennen, weil sie Bindungshormone produzierten. Liebe sei, hirnchemisch gesehen, eine Suchtkrankheit, deren Glücksgefühle blind machten für die Nachteile und Mühen der Fortpflanzung. (Das hat schon Kate Chopin in ihrem Roman The Awakening 1899 festgestellt.) Verliebt man sich, schüttet das Gehirn den Botenstoff Dopamin aus. Zugleich sinkt der Serotoninspiegel auf das Niveau eines Neurotikers. Verliebte sind immun gegen Schmerzen, Hunger und Zweifel an der eigenen Entscheidung.
Dass Liebe sich der rationalen Kontrolle entzieht, ist also keine neue Erkenntnis der Neurologie. Die Neurologen wollen auch gar keine Abhilfe schaffen (bespielsweise durch Gabe von Serotonin und Dopaminhemmern). Wir sind uns vielmehr einig, dass Liebe mächtiger als unsere Vernunft sein soll, so Niklas Luhmann in Liebe als Passion (1982, 30).
Das Leitsymbol, das die Themenstruktur des Mediums Liebe organisiert, heißt zunächst Passion, und Passion drückt aus, dass man etwas erleidet, woran man nichts ändern und wofür man keine Rechenschaft geben kann. Andere Bilder mit zum Teil sehr alter Tradition haben den gleichen Symbolwert - so wenn man sagt, Liebe sei eine Art Krankheit; Liebe sei Wahnsinn, folie à deux; Liebe lege in Ketten. In weiteren Wendungen kann es heißen: Liebe sei ein Mysterium, ein Wunder, lasse sich nicht erklären und nicht begründen. All dies verweist auf ein Ausscheren aus der normalen sozialen Kontrolle, das aber von der Gesellschaft nach Art einer Krankheit toleriert und mit der Zuweisung einer Sonderrolle honoriert werden müsse.
Die neurologischen Bedingungen der Liebe werden in Liebesromanen so gut wie nie in Rechnung gestellt, würden sie doch die Bedingungslosigkeit der großen Liebe in Abrede stellen, das Rätsel ihrer Unvernunft lösen und das Wunder entzaubern. Hanns-Josef Ortheil lässt in seinem Roman Die große Liebe (2003) seinen rettungslos verliebten Erzähler den warnenden Brief eines Freundes ignorieren:
"mehrfach war von Neuropeptiden und emotionalem System die Rede, ich hätte wissen müssen, dass Liebe der Anbahnungszustand der arterhaltenden Partnerwahl war, nichts anders also als ein vorübergehender biologisch erfassbarer Zustand, eine Art Gemütsverschiebung, die die Welt ausblendete, um alles Interesse und alle Neigungen auf die eine Auserkorene zu richten, Verbundenheitsgefühle [...] waren nichts anderes als Ergebnisse eines Hormonüberschwangs. [...] das Ganze stand dort und las sich wie ein Krankheitsbild, sehr detailliert, ich konnte nicht einmal behaupten, dass es nicht stimmte. [...] Ja, sagte ich, [...] ist klar, schon gut, ist doch klar, wusste aber sofort, dass diese Erklärungen mich nicht erreichten." (130f)
Ortheils Roman endet vor Ablauf der anderthalb Jahre, an deren Ende der Liebesrausch nachlässt, weil das Gehirn sich an die Glücksdrogen gewöhnt hat. Anstelle des hormonellen Wahnsinns müsste jetzt eine andere Art von Liebe treten, die über die biologische Harmonie hinausgeht und das Projekt "gemeinsames Leben" gestaltet. Die dauerhafte Installation von Liebe zwischen zwei Menschen ist das eigentlich gesellschaftsrelevante Rätsel, mit dem sich die fiktionale Literatur jedoch entweder gar nicht oder aber negativ befasst, nämlich wenn es unlösbar geblieben ist. Lösungsvorschläge findet man nur in der Ratgeberliteratur oder bei Eheberatern. Der Liebesroman handelt stets vom Beginn einer Liebe, von der Bedingungslosigkeit und Unvernunft des sich Verliebens. Immer ist derjenige der wahrhaft Liebende, der keinen Grund für seine Liebe nennen kann. Wer aus guten Gründen liebt, verletzt die Reinheitsregel und entlarvt sich als kaltherzig - eine Rolle, die sehr oft der Frau zufällt.
In vier Romanen will ich mir nun die Verhältnisse anschauen, in welche die Liebe zu Anfang des 21. Jahrhunderts versetzt wird. Es handelt sich um Die große Liebe (2003) des angesehenen deutschen Autors Hanns-Josef Ortheil, geb. 1951, den Roman Lila, Lila (2004) des prämierten Schweizer Autors Martin Suter, Jahrgang 1945, den Weltbestseller Die Frau des Zeitreisenden (2003/2005) der US-Amerikanerin Audrey Niffenegger, Jahrgang 1963, und um den mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis der Jury ausgezeichneten Roman Die Endlichkeit des Lichts (2001) der Berliner Autorin Susanne Riedel, Jahrgang 1959.
Die Auswahl ist zufällig und zugleich einem strengen Kriterium unterworfen: Die Romane sollen sich zentral mit einer großen Liebe befassen und populär sein, entweder weil ihre Autoren im Literaturbetrieb anerkannt sind, oder weil das Buch ein Bestseller ist. Die Zufälligkeit der Auswahl erlaubt eine Verallgemeinerung, weil übereinstimmende Elemente dann nicht mehr zufällig sein können: Beispielsweise ist in den vier Romanen die Protagonistin blond, der Mann wird mit Merkmalen eines Kriegers ausgestattet, und drei von ihnen bedienen sich einer Ringkomposition: Gegen Ende wird der Romananfang zitiert, so als schriebe einer der Liebenden das vorliegende Buch. Die erzählte Liebe deutet sich selbst als zugleich romanhaft und wirklich.

Gezoomte Liebe

Mehrmals zoomt der Ich-Erzähler in Ortheils Roman mit der Kamera seine große Liebe heran. Die Nahsicht marginalisiert die Umgegend. In jeder Hinsicht muss die Welt, in der die beiden Protagonisten leben, beiseite geräumt und vergessen werden, damit die große Liebe sich bilden kann. Das Paar flüchtet in die Berge, in eine Badehütte, igelt sich ein, denkt sich auf einen anderen Planeten. An die Stelle der sozialen Realität tritt die poetische, in welcher der Ich-Erzähler seine Liebe verortet. "Wir befinden uns in einem Roman. Franca und ich - wir schreiben an einem Roman, es ist beinahe ein klassischer Liebesroman." ( 234)
Der Erzähler hat München und eine Frau verlassen und ist an die italienische Adriaküste gefahren: Meer, Fischer, ein kleiner Ort. Er recherchiert für einen Film über das Meer. Aus der sozialen Kontrolle gefallen wie jeder x-beliebige Tourist und mit einer Kamera ausgestattet, verbringt er seine Tage mit Schwimmen, Besichtigungen, Ausflügen ins Hinterland und mit jeder Menge kulinarischer Abenteuer. In der Mitte des Romans gibt er sich den Namen Giovanni (Deutsch: Johannes, kurz: Hans), typisch für die Sehnsucht des deutschen Touristen, im Ausland dazuzugehören. Glücklicherweise kann er Italienisch und trifft im Meeresmuseum auf die Dottoressa, die wiederum Deutsch spricht.
Die vom Erzähler Auserwählte ist keineswegs eine glutäugige Italienerin vom Typ Pizzakellnerin, welche die Liebe des Deutschen als triebgesteuerte Urlaubsverirrung abqualifiziert hätte. Der klassische Reisende aus der Mittelklasse tut es im Ausland nicht unter der Königin des Dorfs, in dem er wie ein König empfangen worden ist, typisch für den kolonialen Ansatz des Mitteleuropäers auf dem Weg in den Süden. Franca steht sozial und akademisch weit über ihm und ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich: "ungewöhnlich groß", dezent geschmückt und schlicht, aber elegant gekleidet, langhaarig und rotblond. Und ein weiteres Mal adelt sich der verliebte Tölpel selbst, wenn er ihren Verstand als von "weiblicher, umwegloser, scharfer Intelligenz" charakterisiert.
Für uns Leser ist es - wie in eigentlich jedem Liebesroman - Liebe auf den ersten Blick, auch wenn die Protagonisten davon noch nichts zu ahnen scheinen. In diesem Roman gibt es allerdings nur einen Blick: den des Ich-Erzählers mit seiner etwas unbeholfenen und zu sich selbst distanzierten Sprache, die klingt, als hätte der Roman eigentlich personal erzählt werden sollen und als wäre das "er" nachträglich durch das "ich" ersetzt worden. Ein Kunstgriff, der sichtbar macht, dass die andere Seite der Liebe, die Frau, nicht zu Wort kommen soll, ohne dass der Autor die Abwesenheit der weiblichen Perspektive als Mangel offenbaren müsste. So reduziert sich die Frau auf ein zweidimensionales Bild und seine Ikonographie, das der Voyeur nach Belieben heranzoomen und deuten kann: in Natura oder als Heilige Maria Magdalena auf einem Bild von Crivelli in einer Dorfkirche [4]. Damit sind wir beim Doppelbild Maria, die Heilige und die Hure. (Die Apostola Maria Magdalena wurde mit der Sünderin Maria von Bethanien gleichgesetzt, bis 1969 die katholische Kirche das offiziell für irrig erklärte.) Der Zoomende sieht die "geöffneten Lippen" der Heiligen locken, "in einer kaum merklichen Vorform des einverständigen Lächelns" (183) der Hure. Ihr Kleid trägt ein Vogelornament, das der Erzähler "sarazenisch" nennt und das etwas männlich Wildes heraufbeschwört, welches der verführten und zugleich verführenden Frau im Roman immer eigen ist, ein Freiheitssinn, der dem Mann beim Liebeswerben Erfolg verheißt, für die Frau aber, wenn er in der Ehe weiterbesteht, tödlich ist.
Südliches Licht, weites Meer und soziale Verlorenheit öffnen dem klassischen Italienreisenden die Sinne für erotische Abenteuer, die seine Welt reziprok verzaubern: "Der gesamte Raum um uns herum wird durch unsere Begegnung verändert, er erscheint aufgeladen [...] als strahlte unsere Verbindung auf ihn aus." (119) In der Fremde wird die nach Heimat suchende Seele infantil - "Vielleicht, dachte ich kurz, führt die Liebe einen in die besonders tröstlichen Momente der Kindheit zurück, in Augenblicke, in denen man sich vollkommen sicher und bewahrt fühlte" (191) - und wiegt sich in irrationaler Gewissheit: "Es ist Die große Liebe ohne Herzschmerz und Eifersucht, ohne Intrigen und Vorbehalte, ohne jeden Kummer und Rücksichten." (234) "Zwei Menschen erkennen, dass sie für einander geschaffen sind, das ist es, und es ist so gewaltig, dass es alles andere zum Schweigen bringt, es ist Die Liebe pur, deshalb nenne ich diesen Roman ja auch Die große Liebe." (235)
Dem liebenden Mann steht ohne Widerstände die gesamte Poetik zur Verfügung, wenn er über Liebe schreibt, der männliche Schriftsteller überhöht die Liebe zum poetischen Ereignis und kann dabei auf einen Fundus von Motiven, Bildern und Sentenzen zurückgreifen, die seine Liebe in "unwirklichen Verhältnissen" (262) als wirklich und echt rechtfertigen. Sie ist geschrieben, also existiert sie.
Nur unter Schwierigkeiten kann die schreibende Frau auf ein ähnliches Arsenal von Liebesbildern zurückgreifen. Poetik und Kunst stellen ihr kaum eingeführte historische Bilder zur Verfügung. Untauglich sind beispielsweise Naturmetaphern, mit Hilfe derer sie die Welt in den Dienst ihrer liebesverzauberten Perspektive auf den Mann stellen könnte. Denn die Natur steht für das Weibliche. Wenn beispielsweise Ortheils Erzähler ins Meer taucht, sich dessen Sinnlichkeit anvertraut und in seinen dunklen Tiefen versinkt, so nimmt er den Koitus vorweg. Der Fundus schreibender Frauen beschränkt sich dagegen auf Raubkatzen und klassische Akt-Plastiken (s.u.).
Die Szenen dieser Liebe, aus der Tragödie entnommen und in die Posse transponiert, geben außerdem Rollen vor, in denen die Frauen nur als Zauberinnen (negativ: Hexen) und die Männer als kämpfende Rivalen gedacht werden können. Dem Erzähler ist keine Frau beigeordnet, die um ihn streiten würde, so wie Francas Verlobter um sie kämpft. Auch wenn das Duell mit dem Rivalen am Esstisch bei Kutteln mit Weißwein verbal ausgetragen wird oder der Mordanschlag des Dorfs auf den fremden Frauenräuber zu einer Albernheit verkümmert, so sieht sich der anfangs blasse Erzähler beim Blick in den Spiegel schließlich als braun gebrannter, verwegener Krieger, der in der Fremde eine geheimnisvolle Schöne erobert und entführt. Zum literarisch überhöhten Strandtagtraum des Italientouristen passt, dass der Mann sich nicht anstrengen, nicht werben muss. Er wird von seiner Auserwählten verführt. Damit das möglich ist, ordnet er ihr Unweiblichkeit zu: "Ich stelle die Regeln einfach auf den Kopf, ich nehme den Männern das Heft aus der Hand" (300), durchaus ein Vorteil, der dem unbeholfenen Mann das Einigwerden mit der Begehrten erleichtert, solange sie in seinem Sinne entscheidet und nicht gegen ihn. Täte sie es nicht, würde der Autor sie als Hure zum Tod verurteilen.
Der liebende Mann definiert sich hier selbst als feinfühlig und inoffensiv, unterschlägt aber nicht, das er körperlich fit genug ist, um stundenlang ins Meer hinaus zu schwimmen, und dass er in seiner Heimat den Casanova gegeben und so mancher Frau außergewöhnliche sexuelle Freuden bereitet hat. Im Angesicht der großen Liebe aber streckt er die Waffen, nordet sich auf die eine Frau, überlässt sich ihrer Führung, liest ihr die Wünsche von den Augen ab und genießt das Glück, dass er eine einsame Entscheidung für sie beide treffen darf, ohne dass sie ihn hinterher unwirsch rüffelt. Die totale Harmonie enthebt ihn auch des sexuellen Leistungsbeweises.
Bleibt die Frage: Wie soll das enden? Es kann nur tragisch enden. Tut es aber nicht. Daraus ergibt sich die entscheidende Frage: Wo werden die beiden leben? Bei ihm oder bei ihr? Muss sie ihre Stellung als Museumsdirektorin aufgeben oder wird der Erzähler seinen Redakteursposten kündigen und Schriftsteller werden? Einen Moment lang sieht es so aus, als gegen Ende des Romans der Romananfang noch einmal zitiert wird, und der Erzähler sich dabei vorstellt, einen Roman zu schreiben. [5] Doch der Autor kneift. Denn ganz überraschend kann Franca kurzfristig einen Monat Urlaub nehmen und ihrem Geliebten nach München folgen. Jetzt verstehen wir auch, warum sie anfangs mal kurz Deutsch sprechen können musste, was beim Liebesgeflüster später keinerlei Rolle mehr spielt. Sonst wäre es eine platte Entführung in die Fremde gewesen. Im Herbst dann wird der Erzähler als Giovanni in ihrem Heimatort drehen. Doch was, wenn die anderthalb Jahre hormonellen Wahnsinns vorbei sind und Ernüchterung eintritt?

Reine Liebe

Bis zu dieser Ernüchterung gelangt Suter in seinem Roman Lila, Lila. Mit ihren Lebensverhältnissen hätten sie eigentlich gut zusammengepasst, der Kellner David und die Abendschülerin Marie. Doch sie gehört zu den schönen und blonden Frauen, die der große Bube mit seinen wechselnden Barttrachten sich nicht zutraut. David muss deshalb zu einer Lüge greifen. Er behauptet, er habe einen tragischen Liebesroman geschrieben. Er hat das Manuskript jedoch in einer alten Nachttischschublade gefunden, in den Computer gescannt und seinen Namen darunter gesetzt. Marie ist schwer beeindruckt, hält David für einen großen Autor, schläft mit ihm und reicht das Manuskript an einen Verlag weiter, der es druckt. Daraus wird ein Bestseller.
Das Nachtischmanuskript erzählt von der unglücklichen Liebe eines jungen Mannes in den "schrecklichen" fünfziger Jahren, als man "die Liebe noch verbieten konnte" (98). Er hat sich in eine höhere Tochter verliebt. Der Vater schickt sie ins Internat. Der junge Mann schreibt glühende Liebesbriefe. Doch als sie zurückkehrt, ist sie nicht mehr in ihn verliebt. Er besteigt sein Motorrad und bringt sich um. "Und dieser Peter Landwei - das war ich", beginnt Suters Roman. David nimmt Peters Geschichte von autobiographischem Gepränge zum Muster für seine eigene Liebesaffäre mit Marie, die er, nachdem Marie ihn verlassen hat, aufschreibt. Der Roman endet mit dem Satz: "Lieber Gott, lass sie nicht traurig enden."
Das Postulat, dass Liebesgeschichten Muster schaffen, denen Liebesgeschichten folgen, ist vertrackt. David wird es darauf anlegen, dass Marie seine Liebe verrät und ihn verlässt. Er muss es tun, weil der Autor ein böses Ende braucht. Denn Suter benutzt seine Liebesgeschichte, um den Literaturbetrieb anzuprangern. Wie in Bölls Ansichten eines Clowns wird die Liebe instrumentalisiert, um Verhältnisse zu kritisieren, die nur nebenbei die Eigenschaft haben, eine Liebe zu zerstören. Und wie bei Ortheil erscheint der liebende Mann inoffensiv und feinfühlig. Er liebt bedingungslos, irrational und unreflektiert.
Die Perspektive aufs Geschehen wird von der männlichen dominiert. Suter teilt Marie deutlich weniger Erzählpassagen zu als David, und die erste, die sie bekommt, ist die einer kaltsinnigen Trennung von einem Mann.
"Bei dem kleinsten Verdacht, es könnte möglich sein, ihn nicht vorbehaltlos zu lieben und zu bewundern, stand er den Tränen nahe. Das machte es für Marie nicht einfacher, ihm den Laufpass zu geben. Sie war in der Praxis weniger kühl als in der Theorie." (17)
Entsprechend dem bürgerlichen Verführungsroman, der traurig endet, ist Maries Familie defekt, der Vater abwesend, die Mutter sexuell aktiv. Und wie bei Böll heißt die treulose Frau Marie und hat damit das Doppelgesicht der Heiligen und Hure.
"Marie, Betonung auf der zweiten Silbe. Ein schöner Name, fand David. Einfach und schön. Wie alles an ihr." Mit dieser an Schwachsinn grenzenden Schlichtheit rechtfertigt der junge Mann sein Interesse an ausgerechnet dieser Frau. Name und Haarfarbe genügen, um sie zu seiner großen Liebe zu erklären. Mehr Eigenschaften muss die Auserwählte für den Paarungs- und Deckakt ja im Grunde auch nicht haben. Doch sowohl der Autor, als auch sein Protagonist tun so, als strebe David nach lebenslanger Partnerschaft mit genau dieser Frau ohne Eigenschaften. Dass ein junger Mann sexuelle Anziehung in alle Zukunft verlängert, überhöht und verewigt, können wir als typischen Irrtum hormongesteuerten Wahnsinns hinnehmen, allerdings reflektiert der Roman diesen Irrtum im Männerkopf nicht. Er schiebt der Frau den Schwarzen Peter zu. Eine Freundin denkt für Marie: "Du bist nicht mehr in ihn verliebt, betrachtest ihn dadurch etwas nüchterner, und schon nervt er dich. Das ist normal." (328)
Zugleich verwehrt die Konstruktion Marie die Möglichkeit, irrational zu lieben, denn ihre Liebe ist an eine Bedingung geknüpft, die der junge Mann selbst geschaffen hat. Um die Frau zu beeindrucken, schmückt er sich bei der Balz mit fremden Federn. Die Lüge ist, kaum hat er die Frau erworben, nicht mehr aufzulösen. "Sie würde ihm den Betrug nicht verzeihen. Er würde sie verlieren." (112). Außerdem, so seine These, betrachtet sie seinen Erfolg in der Welt als Liebesbeweis. Das Postulat, dass eine Frau einen beeindruckenden Mann haben möchte, macht sie zugleich verantwortlich für die Liebeslüge des Mannes. Da sich David ihr nicht als Person, sondern als Funktionsträger (Autor) präsentiert hat, scheitert sie bei der Ergründung seiner Person. Sie sucht in David den "empfindsam, unglücklich Liebenden" (252) aus dem Nachttischroman, findet ihn aber nicht. Liebe kommt erst auf, als sie ihn bewusstlos und wortlos vor sich liegen sieht, nämlich schlafend. "Sie liebte ihn. Sie hatte es David, im Gegensatz zu ihm, zwar noch nie gesagt. Aber sie war sich ziemlich sicher. Vor allem jetzt, wo er so da lag und schlief wie ein zufriedenes Kind." (169)
Die Suche nach Davids Persönlichkeit ist vergeblich, also beschränkt Marie sich auf die Zuneigung zu einem Kind ohne Eigenschaften. Das Konzept von Liebe, auf dem dieser Roman basiert, heißt: Ignoranz dem Individuum gegenüber. Es verdammt Marie dazu, den Krieger zu lieben, der ihr seinen Ruhm zu Füßen legt, und dabei erwartet, dass ihre Liebe keine weiteren Bedingungen stellt. Sie zeigt jedoch Eigensinn, prüft, ob der Mann als Partner von derselben Qualität ist wie die fremde Feder, mit der er sich geschmückt hat, und stellt fest, dass dies nicht der Fall ist. Er erweist sich im Umgang mit den Nutznießern seines Ruhms als Weichei. Auf ihre Wünsche kann er nicht eingehen, denn er wird erpresst. Der Betrug würde auffliegen.
Innerhalb der Postulate - sie liebt den Erfolgreichen, seine Liebe ist rein - kann sich zwischen beiden nichts entwickeln, was als Basis für das Geständnis eines Betrugs dienen könnte. Zwei Personen ohne Eigenschaften können einander keine Anhaltspunkte für Vertrauen geben. Außerdem behauptet David seine Liebe nur, kann sie aber nicht leben. Weder aufregenden Sex bringt er zustande, noch Zärtlichkeit, noch kann er eine alltagsfeste Bindung aufbauen. Wenn sie ihn verliert, verliert Marie nichts. Doch weil der Autor unsere Emphase auf den Protagonisten fokussiert, möchten wir Marie nicht so recht verstehen. So würde uns fast die Frechheit dieses Modells von reiner Liebe entgehen. Das vom Mann gerufene, "Ich liebe dich" fällt wie ein Todesurteil ohne vorausgegangene Verhandlung über eine Frau. Der unfreiwillig Erwählten bleiben nur zwei Möglichkeiten: entweder seine Liebe erwidern oder am jungen Mann schuldig werden, wenn sie seine Liebe nicht erwidert oder nach einer Prüfung verwirft. Daraufhin stirbt einer. [6] "Ein Buch über Liebe, Treue, Verrat und Tod", wird eine fiktive Rezension des Nachttischromans zitiert (162), wobei Tugend und Untugend eindeutig verteilt sind: Treu ist der Mann, Verrat übt die Frau.
Mit unreflektierter Leichtigkeit brandmarkt hier der erzählende Mann das Liebesscheitern eines männlichen Protagonisten am Eigensinn der Frau als Treulosigkeit und Verführbarkeit des weiblichen Geschlechts. Das kann mit umgekehrtem Vorzeichen auch in Erzählungen von Frauen passieren. Ergibt sich der Mann dem Liebesbegehren nicht, wird er als "typisch männlich" diffamiert. Erinnern wir uns an Merians Tod ihres Märchenprinzen. Es geschieht aber seltener, meist im Krimi, und wird noch seltener als Literatur anerkannt. Ich vermute, weil solche Frauenromane nicht auf die anerkannte Ästhetik zurückgreifen können und deshalb ungeschlacht wirken.

Totalitäre Liebe

Klar, dass Frauen die Liebe anders erzählen. Oder? "Eine der schönsten Liebesgeschichten des Jahrhunderts", schwärmt Die Welt. "Der großen Liebe begegnet man nur ein einziges Mal und dann immer wieder", postuliert der Verlag auf der Rückseite der deutschen Taschenbuchausgabe des Romans The Time TravelerÂ’s Wife von Audrey Niffenegger. Anders als die drei anderen ausgewählten Romane führt uns dieser weiter, nämlich bis ins Eheleben, und beschreibt eine Bedingung, unter der die Liebe gelingt.
Henry und Clare lieben sich seit Clares Kindheit, sie schlafen miteinander, als sie volljährig ist, sie heiraten und kriegen nach etlichen Fehlgeburten ein Kind. Er ist Bibliothekar, sie ist Künstlerin. Geld ist genug da. Die Tochter ist musikalisch hochbegabt. Henry fällt schließlich einem Jagdunfall zum Opfer. Was macht den sterilen amerikanischen Traum über 500 Seiten zur schönsten Liebesgeschichte des Jahrhunderts, die in zwanzig Sprachen übersetzt wurde und monatelange auf der Spiegel-Bestsellerliste stand? Die Liebe steht unter dem Stern eines Paradoxons. Als Clare Henry zum ersten Mal begegnet, ist sie 6 Jahre alt, und er ist 36. Er begegnet ihr jedoch zum ersten Mal mit 28. Da ist sie 20. Des Rätsels Lösung: Henry kann durch die Zeit reisen.
Diese Fähigkeit wird notdürftig mit einem Gendefekt und einer neurologischen Funktionsstörung erklärt und ebenso notdürftig psychologisch motiviert. Henry verschwindet stets mit ganzem Körper, lässt seine Kleider zurück und landet in der Ankunftszeit nackt. Weshalb sein größtes Problem die Kleiderbeschaffung ist. Er entwickelt sich zum Dieb und Kämpfer und kehrt von Mal zu Mal ramponierter von seinen Zeitreisen zurück, verletzt, verstümmelt, halb erfroren und schließlich durch einen Schuss tödlich verwundet.
Auch hier wird das liebende Paar isoliert. Gesellschaft oder gar Politik kommen nicht vor, die Nebenfiguren bleiben bedeutungslos und ohne Einfluss. Dafür wird die Perspektive aufs Liebesgeschehen verdoppelt: Es gibt zwei Ich-Erzähler. Sowohl die Frau als auch der Mann erzählen zum Teil dieselben Szenen. Zusammen mit Henry ruhen unsere Augen auf der schönen blonden Clare, dann schauen wir mit Clare zusammen den groß gewachsenen Henry mit dem Tigergang an. Immer wieder kringelt sich der Erzählstrang in Zeitlupe um Schlüsselszenen, wir spulen die emotionalen Momente zurück und genießen sie noch einmal.
Dies ist denn auch kein Roman über die verzwickte Logik des Zeitreisens. Der sonderbare Fluch, der auf dem Zeitreisenden liegt, nicht über Ort und Zeitpunkt seiner Präsenz verfügen zu können, dient viel mehr dazu, die Geschichte einer schnurgeraden Liebe und ihre Leserinnen mit reichlich Nebengefühlen zu versorgen: Angst, Rührung, Anspannung und Erleichterung, Amüsement und Trauer. In Gefahr ist die Liebe nicht etwa, weil eine der beiden Figuren nicht liebt oder an der Liebe der anderen zweifelt, sondern weil der Held immer wieder in den Krieg fortgerufen wird und seine Rückkehr ungewiss ist. Clare wartet zu Hause auf den tapferen Krieger und schafft sich notdürftig eine eigene soziale Identität durch künstlerisches Tun. [7]

Die Frage, inwiefern man die Zukunft beeinflussen kann, wenn man sie kennt, und inwiefern die veränderte Zukunft auf den Moment zurückwirken würde, da man beschließt, sie durch gegenwärtiges Verhalten zu verändern, wird im Roman nur angerissen und dann niedergeschlagen. Dass man im Lotto gewinnen kann, wenn man in die Zukunft reist, die Zahlen auswendig lernt und beim Rücksprung in die Gegenwart die richtigen Zahlen tippt, gestattet die Autorin ihren Protagonisten, damit Streitereien über Geld nicht die Liebe zermürben. Es ist Teil der Isolation der Liebe gegen realistische Verhältnisse.
Doch darf der Zeitreisende in die Vergangenheit nicht eingreifen. Henry verbietet es sich, Clare von ihrer Zukunft zu erzählen. Er verschweigt ihr den Todestermin ihrer Mutter, damit ihre Gefühle authentisch bleiben. Er verrät ihr nicht, wann und wo sie sich in seiner Gegenwart treffen werden, sonst könnte sie ja schon vor der Zeit dort auftauchen. In eigener Sache hält er sich weniger zurück. Er besucht sein kindliches Ich, um ihm Fertigkeiten beizubringen, die er als erwachsener Zeitreisender braucht, und er erzieht sich die kindliche Clare so, dass sie ihm eine verständnisvolle Ehefrau wird. Gefangen in seiner Omnipräsenz wartet Clare ihre ganze Jugend hindurch auf ihn, hebt sich für ihn auf, heiratet ihn und nimmt verbissen zahlreiche Fehlgeburten auf sich, um ihm eine Tochter zu schenken. Diese Tochter ist genetisch vollständig sein Kind, denn sie hat die Musikalität seiner Eltern und sein Zeitreise-Gen geerbt. Die Macht des Mannes über Ort, Zeit und Gefühle der Frau ist selbstherrlich und totalitär. Clares Protest dagegen ist schwach und keinesfalls grundsätzlich. Im Gegenteil: Das Konzept der großen Liebe aus Sicht der Frau heißt: nur einen einzigen Mann gekannt haben, kein Probieren, keine Irrtümer, keine Kompromisse.
Bereinigt man die Konstruktion um die Sperenzchen der Zeitreise, so fühlen wir uns in die puritanische Bilderwelt alter Hollywoodfilme versetzt. Im Garten einer Villa sitzt ein kleines Mädchen und träumt von dem Mann, den sie einmal heiraten will. Groß soll er sein, stark, bereit, sich für sie zu schlagen, Geld soll er haben und lieben soll er sie. Der zwanzig Jahre ältere Liebhaber, der sie entjungfert, damit sie dem jungen Casanova nicht jüngferlich prüde begegnet, ist zum Glück derselbe Mann.
Das Konzept totalitärer Liebe funktioniert nur, weil die Autorin Clare keinerlei intellektuelle Befähigung zuweist, ihre Lage zu beurteilen. "Ich finde es überaus rührend, wie fremd dir die verdrehte Logik der meisten Beziehungen ist", stellt Henry fest. (172) Clares seltene Reflexionen führen stets ins Unabänderliche: "Ich habe Henry nie gewählt, er hat mich nie gewählt. Wie könnte es also ein Fehler sein?" (161)
Ja, es ist eine Selbstverständlichkeit im Liebesroman: Liebe ist keiner Entscheidung unterworfen und kann deshalb nie ein Fehler sein. Sie ist aber auch nie Zufall. Als sie sich in beider Gegenwart zum ersten Mal treffen, erkennt Clare Henry als den, der sie in ihrer Kindheit als älterer Mann besucht hat. Nachdem er sie getroffen hat, geht er sie in ihrer Kindheit besuchen und bereitet sie auf genau diesen Moment des Treffens vor. Sonst hätte sie ihn womöglich nicht erkannt und sich wieder abgewandt. Damit stehen wir vor dem Motiv der Vorbestimmung. Im Liebesroman wählen sich Liebende nicht, sie treffen sich als alte Bekannte. In Ortheils enzyklopädischer Motivsammlung zur Großen Liebe finden wir auch diesen Satz: "Es ist Unsinn, ich weiß, aber es kommt mir wirklich so vor, als kennten wir uns schon sehr lange." (197)
Die Konstruktion von Niffeneggers Roman grenzt auf einverständige Weise die Macht des Schicksals noch weiter ein auf eine patriarchalische Allmacht: Es ist die Frau, die den Mann trifft, den sie schon kennt, und ihn zum Mann nimmt, weil er es so arrangiert hat. Der reife Mann hat die erwachende Sexualität des Mädchens auf sich selbst fokussiert, um sie als junger Mann heiraten zu können. Eine patriarchalische Pädophilie [8], die das Mädchen in die Rolle der Lolita zwingt:
"Trotz einiger ziemlich unerhörter Avancen ihrerseits bin ich immer standhaft geblieben und habe viele amüsante Stunden verbracht, in denen ich mit ihr über dieses und jenes geplaudert und dabei versucht habe, schmerzliche Ständer zu ignorieren. Heute aber ist Clare von Gesetzes wegen, wenn auch vielleicht nicht emotional, erwachsen, und ich kann ihr Leben bestimmt nicht allzu sehr verbiegen ... das heißt, allein durch die Tatsache, dass es mich in ihrer Kindheit gab, habe ich ihr schon ziemlich unheimliche Erlebnisse beschert. Wie viele Mädchen haben ihren späteren Mann in regelmäßigen Abständen splitternackt in Erscheinung treten sehen?" (427)
Die männlichen Omnipotenz mit seiner latenten Gewalt erotisiert den Mann als gezähmten Krieger, der allen, nur ihr, seiner Geliebten, nichts tut.
"Henry ist schön. Seine Haare sind schulterlang, zurückgekämmt, schwarz und glänzend. Er ist katzenhaft, dünn, sprüht vor Unruhe und Kraft. Er sieht aus, als könnte er zubeißen. [...] Er fasst meine Haare zusammen und schlingt sie ums Handgelenk. Einen kurzen Moment lang bin ich seine Gefangene, dann bewegt die Reihe sich vorwärts, und er lässt mich los." (166)
Die, die sich die glückliche Gefangenschaft ausgedacht hat, ist eine Frau. Und da ist er auch wieder, der Märchenprinz, der, schön und stark, seine Geliebte entführt und isoliert, auf den Svende Merian knapp dreißig Jahre zuvor bitterlich heulend nur ungern verzichten gelernt hat. In der Gestalt Henrys vereinigen sich gleich drei erotische Männertypen: der verständnisvolle ältere Liebhaber, der Held in der Welt draußen und die erste, verspielte Liebe von unbegrenzter sexueller Potenz.
Im Besitz des allmächtigen Mannes (sie in seinem oder er in ihrem) übersieht Clare mit unglaublicher Toleranz, dass ihr Mann ständig aus der Beziehung flieht und eine jüngere Frau vögelt (nämlich sie selbst). Ums Zeitreisen bereinigt, ist Henry im Grunde nichts weiter als ein Bibliothekar mit suchtartiger Neigung zum Tagtraum. Er wird von schizoider Unruhe gequält und fantasiert sich in eine andere Welt, in der er die Rolle des durchtrainierten Läufers, Schlägers, Diebs und Liebhabers eines jungen Mädchens spielt. Seine Tagträume entführen ihn aus dem unerträglichen Ehealltag, in dem seine Frau sich mit Fehlgeburten abquält und sein "Liebesleben in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem Kinderleichen verstreut liegen." (377) Würde er nicht körperlich verschwinden, müsste sie von seinen Tagtraumfluchten nichts erfahren. Und genauso verhält sich Clare. Sie löchert ihn nicht mit Fragen, warum er vor dem Alltag mit ihr flieht und warum er sich mit Jüngeren vergnügt, während sie eine Fehlgeburt nach der anderen hat, ob er sie noch liebe. Welch ein Traum für einen Mann!
Da steht man doch etwas erstaunt. Dass eine schreibende Frau sich zu einer solch umfassenden Vergebung für männliche Dominanz in Liebesbeziehungen hergibt, hätte man nicht gedacht. Ist es Resignation? Hat die Feministin lernen müssen, dass sie nur dann einen Mann bekommt, wenn sie ihm die Rolle des Steinzeitcharmeurs lässt und ihre Unterwerfungskunst verfeinert? Aber da wir nicht solche Frauen sind wie Clare, werden wir nie solche Männer haben wie Henry. Die erzählte totale Liebe hat mit unseren wirklichen Verhältnissen nur in sofern zu tun, als ihre Bilder Sehnsucht und Unzufriedenheit schaffen mögen, ohne ein erreichbares Ziel für unsre Verhandlungen mit dem Lebenspartner vorzugeben.

Die Liebesfalle

Jetzt aber Susanne Riedel! Die Autorin höherer Literatur [9] wirdÂ’s richten. "Ein einsiedlerischer Pilzspezialist und eine dichtende Quizmoderatorin verlieben sich ineinander - es beginnt eine Komödie aus Missverständnissen und höheren Wahrheiten. Ein grandioser Roman über Liebe, Fernsehen und Medienmächte und poetische Außenseiter", preist der Klappentext den Roman, Die Endlichkeit des Lichts. Er ist zwar kein Bestseller, besitzt aber die Weihen des Feuilletons und hat trotzdem ein Happy End.
Auch hier benötigt die Liebe Isolation. Der Roman beginnt in der Einsiedelei des Protagonisten Alakar Macody. Ihm fehlt infolge eines Unfalls ein Bein. Er lebt unter Pilzen auf einer Insel und stellt seine (Lebens-)Uhr nach der TV-Show Brainonia. Sein Blick hängt am Fernsehimage der schönen Verna Albrecht, die ihn zu lyrischen Ergüssen veranlasst. (Vgl. Suter: Die Unerreichbarkeit der Frau dient als literarischer Impuls.) Nach einem Ausflug in die Stadt und ins Fernsehen kehrt er auf die Insel zurück, zusammen mit Verna Albrecht. Natürlich ist Verna blond und langhaarig. Alakar hat sieben Weizentöne gezählt. Sie ist eine Karrierefrau, die mit jedem ins Bett geht und mit einem Bein in der Psychiatrie steht. Ihren Job als TV-Moderatorin muss sie verlieren und Dichterin werden, um mit Alakar auf die Insel reisen zu können, wo der lyrische Kuss glückt und sie mit dem Zitat des Romananfangs den Ring schließt (vgl Ortheils Ringkomposition als sexferne Harmonie).
Anders als im Durchschnittsliebesroman sind Riedels Protagonisten nicht sympathisch, sondern monströs. Sie begegnen sich auch erst auf Seite 130. Doch bei dieser Begegnung bedient Riedel sich plötzlich trivialer Elemente, vielleicht, damit wir endlich glauben, dass es tatsächlich diese beiden sind, die zueinander kommen müssen. Auch sie kennen sich bereits, weshalb sie sich erkennen, nicht erblicken.
"Aber im Umdrehen hatte Verna eine Erscheinung, und die Erscheinung lächelte nicht, sondern stand stocksteif und wie erschossen da. Sekundenlang dachte Verna, Izzy, der lebende Tote, wäre auferstanden. Beine, die immer aussahen, als wollten sie weglaufen. Aber der Mann war nicht Izzy. Nur ist er auch nicht Manasse. Er ist größer, und die Augen sind sonderbar blau. Dieser Mann, der in der Tür stand, starrte sie an, als würde er sie erkennen. Sein Gesicht hatte sich in ihr Gesicht gefressen und überlagerte es. Da, wo ihr Gesicht schon immer am dünnsten gewesen war." (132)
Auch Alakar steht gelähmt.
"Ich habe keinerlei Illusionen mehr über die Liebe, dachte Alakar Macody, als er Verna Albrecht erkannte, die neben einer aggressiven Frau in mittlerem Alter stand und schwankte. In Büchern hatte er über schwankende Menschen gelesen und sie als Metapher abgetan, die auf der überreizten Phantasie unsicherer Autoren beruhte. [...] Sie war kleiner, als er sie sich vorgestellt hatte, in gewisser Weise dimensionslos, und sie sah ängstlich aus wie ein Kind, obwohl ihr Gesicht doch im Fernsehen das Bild füllte. Ihr Kleid hatte die Farbe unreifer Limonen und ließ sie ungesund aussehen. [...] Wie Nebel hüllten ihn ihre Blicke ein, umschlossen Arme und Hände, bis er sich nicht mehr bewegen konnte." (132 f.)
Riedel räumt ihrem Helden bei dieser Begegnung übrigens vier Mal so viel Textraum ein wie ihrer Heldin [10]. Seine Reflexionen über Pilze und Lyrik ironisieren diese Basisszene des Liebesromans und ihre triefend trivialen Attribute: der große, stille, ernste Mann mit den sonderbar blauen Augen, scheu und schwer zu erringen; die Frau klein, kindlich, ängstlich, schwankend im glanzvollen Ballkleid, ein Bild (ohne dritte Dimension). Beide fühlen sich ergriffen und berührt, sie von seinem Gesicht, das ihres überlagert, er vom Nebel ihrer Blicke, der ihn lähmt. In der Verkürzung sind die Metaphern genauso schief und falsch, wie in einem schlecht geschriebenen Liebesroman. Während die Frau den Mann lediglich benebelt und lähmt, stülpt er ihr sein Gesicht über, bestimmt also ihre Perspektive auf sie selbst und auf ihn. Dabei kommt seinem Blick wie üblich eine gestaltende Kraft zu, den ihr Blick nicht hat.
"Eigentlich schien er harmlos wie Fredo, er trug sogar die richtige Kameramann-Lederjacke, teuer und verschlissen. [...] Aus dem Kragen sah er sie still an, und sie wurde mutig, als vervollständige sein Blick ein Mosaik, das lange in ihr verschüttet war." (156)
Und schwups, ist auch aus diesem Pilz- und Lyrikspezialisten ein Krieger geworden, in Leder gekleidet, mit den Narben seiner Kämpfe auf der zweiten Haut.
Anders als die Protagonisten, mit denen wir es bisher zu tun hatten, bringen beide ihre bisherigen Lebensverhältnisse massiv mit in die Geschichte. Sie kommen aus Liebesfallen. Verna verliebt sich immer wieder in denselben Männertyp, den Mann, der sie nicht liebt. Ihr Fluch ist Izzy, ein egozentrischer Esoteriker, der an einem verschluckten Hühnerknöchelchen gestorben ist. Für Verna sind Männer entweder Bettgesellen oder Gurus, zu deren Füßen sie sich setzt. Nichts anderes tut sie zum Schluss, wenn sie über einen von ihr geschriebenen Text vom Fachmann Alakar ein Urteil erwartet. Sie steckt erneut in ihrer Liebesfalle, nur dass wir diesmal nicht erfahren, ob sie darin glücklicher wird. Denn Alakar ist der Mann, der die Frauen nicht liebt, die ihn lieben. Er hat Doris Knöchel verlassen, weil sie nicht zusammenpassten; sie interessieren sich für unterschiedliche Dinge, er will seine Ruhe, sie Trubel. Und sie will ihn zurück.
Beide Protagonisten sind begehrenswert und gehen im Roman Beziehungen zu Dritten ein, bei denen es nur um Sex geht. Ihn treibt die Selbstverachtung ins Bett einer hässlichen Frau. Ironisch frei nach Freud sucht der Mann im Weib das ewig Mütterliche in seiner ausladenden und verschlingenden Form. Vollbusigkeit ist in Riedels Roman die Metapher für die Aggressivität der Frauen und den Schrecken, den sie deshalb für Männer darstellen. Geistesverwandtschaft, nämlich "Verschmelzung, all das" (262) gelingt aus von Riedel postulierter Sicht des Mannes unter den Bedingungen von Sex nicht. Sie entsteht beim Rezitieren von Gedichten und Reden über Literatur, also in der intellektuellen Begegnung, gemäß der besorgten Ermahnung bürgerlicher Mütter, auf die gemeinsamen Interessen komme es an, ein Vernunftkriterium, mit dem das Bürgertum die Irrationalität der Liebe zu entmachten sucht. Dass der Mann in jeder Frau seine Mutter vögelt und vor dem Weiblichen, das seinen Geist zu verschlingen droht, auf eine Insel flieht, und dass die Frau stets um die Männer buhlt, die sie nicht lieben (188), sind hier feministisch-fatalistische Zitate einer psychoanalytischen Enträtselung der irrationalen Liebe. Die berufstätige (praktisch komplett vermännlichte) Frau wird dabei zum sexualisierten Monster: immer zu haben, immer verächtlich.
"Vor einer Telefonzelle erwog Alakar, eines der halbsexuellen, zerstreuten Gespräche mit Doris Knöchel zu führen, die in ihrer Personalabteilung nach wie vor großem Erfolgsdruck und Existenzangst ausgesetzt war. Existenzangst, dozierte seine Mutter, führt zu Adrenalinausschüttung, und Adrenalinausschüttung führt zu vorübergehend gesteigerter sexueller Erregbarkeit." (114)
Er dagegen stilisiert sich als asexuell, auch wenn er handelt und auch wenn er Sex hat. Er ist ... "die Sache, die Frauen wie Doris Knöchel dringend brauchten. Den Einzelgänger und geschlechtslosen Autisten, jenen müden, entleerten Landstrich samt ein paar torkelnder Gedankenwesen darin. Ein Kolonialwarenladen, Selbstbedienung inbegriffen. Zu den Waffen, Mädchen, schultert das Gewehr." (78)
Die männliche Aufrüstung von Frauen, die der Mann begehrt, ist uns bereits gut vertraut. Wahrhaft undenkbar scheint, dass es einer Frau ohne männliche Waffen gelingen könnte, sich aus der bürgerlichen Asexualität zu befreien. Theoretisch wäre stattdessen ja auch eine metaphorische Anknüpfung an die aristokratischen Herrscherinnen oder an Bäuerinnen aus vorrevolutionärer Zeit möglich. Die bürgerliche Frau braucht männliche Attitüden, um verführbar zu sein oder - noch besser für den Mann - zu verführen, immer in Gefahr, dafür hingerichtet zu werden. Um nicht in die Falle männlicher Definitionen zu gehen, versucht Riedels Protagonistin ihre Weiblichkeit gänzlich abzustreiten:
""Sexuell interessieren Sie mich nicht, Verna. [...] Kann es sein, dass Frauen Männer dazu treiben, Patriarchen zu sein? Wollen Sie mich am Kopf des Tisches sitzen sehen und mit der Peitsche knallen hören? Glauben Sie, ich bin zu nett gewesen? Ist Härte das, was Sie wollen? Damit das Leben wieder seine Ordnung hat?"
"Weiß ich nicht, ich bin keine Frau."
"Was sind Sie dann?"
"Ein Monster."" (296)
Doch genau dieses (sexuelle) Monster muss sterben, bevor Verna in Alakars Haus aufgenommen werden kann. Er selbst sorgt dafür, dass sie ihren Job als Moderatorin verliert. Im Kommunikationsmodus von Sachlichkeit und Logik reißt er die Kontrolle über ihre Show an sich, nimmt ihr die Kontrolle auch über sich selbst und bringt sie vor der Kamera zum Weinen. Er gewinnt die Million, sie wird entlassen. Während sie ihren sozialen Halt und damit ihre Selbstsicherheit verliert, erobert das männliche Original das Fernsehen, das bislang der blonden Karrierefrau vorbehalten war. (Männliche Wahrhaftigkeit gegen weibliche Show und Lüge.) Zum Schluss kann er sich der debütierenden Dichterin als reicher Verleger anbieten.
Massiv spielt der Roman die Doppelgesichtigkeit der Frau aus. Verna hat praktisch nur Zwillingsschwestern, tote, hässliche, monströse. Der leiblichen Zwillingsschwester spaltete in der Kindheit ein Stiefelknecht den Schädel, als sie von der Mutter für eine Frechheit bestraft wurde. Die Schwestern pflegten mit ihrem Namen auch die Rollen zu wechseln: Mal war die eine die Freche, mal die andere. Die Freche musste sterben, Verna fühlt sich schuldig. Aufgewachsen ist sie ohne Vater, was Riedel Verna "matriarchale Inzucht" (264) nennen lässt. Nie gut! In den bürgerlichen Liebesromanen des 18. und 19. Jahrhunderts bedeutet die Entmachtung des Patriarchen stets Verführbarkeit und Tod der Heldin. Vernas uneheliche Geburt erzeugt einen weiteren Zwilling. Alakar entdeckt, dass Doris Knöchel ihre Halbschwester ist. "Verwundert betrachtete Alakar Doris Knöchels klassische Nase, die ein Zwilling von Verna Albrechts Nase war" (288) und geht danach noch einmal mit seiner Ex ins Bett und zeugt ein Kind. Und einen dritten Zwilling schwängert er, während er Verna noch zurückweist: die abgrundtief hässliche Bewunderin Vernas und Showkandidatin mit dem Namen Vera. Zu den Gegensatzpaaren brav und frech, schön und hässlich, gesellt sich - ohne Gegenpart der Heiligen - selbstverständlich auch die Hure. Verna hat sich für einen Abend mit Alakar vom Sender bezahlen lassen und kann im Schutz dieser Rolle einen sexuellen Angriff starten.
"Wie er nach Luft schnappte, gefiel ihr, ein Nichts, nicht anders als Vera Albrecht, die er gehauen und gestochen hatte. Nun erging Ordnung vor Recht, und jemand organisierte seine maßlose Selbsteinschätzung neu. [...] Sie sind der Typ, der Lolita liest. Sie mögen kleine Mädchen. Alle Männer, die kleine Pilze lieben, lieben auch kleine Mädchen." (159)
Für den schreibenden Mann mag die Doppelgesichtigkeit der Frau ein funktionierendes Erklärungsbild sein: Heilige, wenn sie ihn liebt, Hure, wenn sie sich einem anderen zuwendet. Denn ihre Kriterien für Liebe versteht er nicht. Wobei er seinem eigenen Geschlecht eine Treue zuschreibt - die reine Liebe ins Ewige verlängert -, die wiederum nicht mit unserer Lebenserfahrung vereinbar erscheint. Doch ist die Entlarvung des sich selbst als reinen Liebesheld stilisierenden Mannes nicht das Thema von Riedels Roman. Umtost von inkonsistenten Motiven eines nur noch selbstironisch nacherlebten feministischen Diskurses, wankt Riedels Protagonistin auf der Schwelle zur Psychiatrie wie ihre Referenzdichterin Anne Sexton. Sie spielt das böses Mädchen und das gute Mädchen mit der infantilen Sehnsucht, vom Vater geliebt zu werden, der aber gar nicht lieben kann. Doch kann man in diesem Spiel dem Romanhelden in Gestalt des stillen, blauäugigen Kriegers mit seiner Sehnsucht nach einer sexfreien Harmonie einfach nicht böse sein. So bleibt der erzählenden und erzählten Frau nur die Selbstverachtung. Sie geht einher mit der Ergründung der Bedingungen weiblicher Liebe. Und es ist der Mann, der die vorwurfsvolle Frage stellt: "›Weshalb wollten Sie mit mir ins Bett?‹, sagte Alakar. ›Wollten Sie so Ihren Freund loswerden, oder wollten Sie ihn sich wiederholen?‹" (256)
Auch hier bleiben die Rollenmuster traditionell, der Roman folgt der erprobten Ästhetik. Der Mann in seiner lyrischen Reinheit geht in der Seele der wankelmütigen Frau spazieren, analysiert und kontrolliert sie. Er legt fest, wie sich ihr Verhältnis entwickelt, weist sie solange zurück, bis sie sich ihm unsicher und geläutert nähert.

In der Liebe nichts Neues

Offensichtlich gestattet die Typographie Liebender in der Fiktion keine neuen Erkenntnisse. Vielleicht auch, weil wir in der Liebe das einfachste aller Verhältnisse suchen, die bedingungslose und unverbrüchliche Bindung, die sich namenlos gut anfühlt und den Rest der Welt bedeutungslos macht. Autoren fantasieren sich in eine einfache Kompatibilität der postulierten Parallelwelten Mann und Frau. In ihr sind die Männer stark und feinfühlig und konzentrieren sich gänzlich auf die Auserwählte; die Frauen sind schön, lassen sich aktiv erobern und sind bedingungslos treu. Sex vollzieht sich entweder reibungslos oder ist unwichtig. Und wenn eine Ehe funktioniert, dann unter der Totalität männlicher Lebensentwürfe. Das Nichtfunktionieren der Beziehung wird tendenziell der Frau zum Vorwurf gemacht, und zwar sowohl von schreibenden Männern als auch von schreibenden Frauen. Dass Männer Frauen denunzieren, die sie lieben, von denen sie aber nicht geliebt werden, können wir als männliche Egozentrik hinnehmen, die schon immer die Poetik bestimmt hat. Aber dass auch schreibende Frauen Frauen denunzieren ... und so unreflektiert!
In einer Zeit komplizierter und variantenreicher Lebens- und Liebesverhältnisse mag der Rückzug auf ein einfaches Modell von Krieger und Blondine unserer Sehnsucht nach Eindeutigkeit entsprechen, in der sich Liebe ereignet, statt dass an ihr oder mit gearbeitet werden müsste, um sie über Jahre im Alltag lebbar zu machen, wobei uns die Neurologie zu Hilfe eilt, um uns zu bestätigen, dass sexuell attraktiv nur die Archetypen von Frau und Mann sind. Wie erlöst fallen wir zurück in eine unreflektierte Idee von Liebeszauber außerhalb historischer Bedingungen oder kultureller Vereinbarungen, der sich die Poetik und Ästhetik widerstandslos ergibt. In der erzählten Liebe ist weibliche Emanzipation nicht möglich.

Literatur

Anz, Thomas, "Über die Lust und Unlust am Text. Zu Elfriede Jelineks ›Lust‹", in: Literaturkritik.de,http://www.literaturkritik.de/public/Anz-Jelinek-Lust.php, Februar 2007
Baron-Cohen, Simon, Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn, Düsseldorf-Zürich 2004
Brizendine, Louann, Das weibliche Gehirn. Warum Frauen anders sind als Männer, Hamburg 2007
Brost, Hauke, u. Marie Theres Kroetz-Relin, Wie Frauen ticken, München 2006
Brost, Hauke, Wie Männer ticken, München 2007
Lehmann, Christine, Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991. Eine Synopse online in: Wikipedia, Stichwort: Verführungsroman
Luhmann, Niklas: Liebe als Passion, Frankfurt/M 1982
Niffenegger, Audrey, Die Frau des Zeitreisenden, Frankfurt/M, 2005
Ortheil, Hanns-Josef, Die große Liebe, München 2005
Pusch, Luise, Das Deutsche als Männersprache, Frankfurt/M 1984
Riedel, Susanne, Die Endlichkeit des Lichts, Berlin 2001
Schmitz, Sigrid, Co-Leiterin des Kompetenzforum Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften. Stuttgart, SWR 1, 8.3.2007
Suter, Martin, Lila, Lila, Zürich 2004

Anmerkungen:

[1] Macho: Lehnwort, das im Spanischen nur "männlich" bedeutet. Wird seit den 1980er Jahre im Deutschen als Kampfwort gebraucht, um einen Mann zu disqualifizieren, der sich stark an den Bildern der traditionellen Geschlechterrolle orientiert.

[2] porno: πορνεία (porneía), abgeleitet von griechisch, πόρνη (pórnÄ“) (Hure) und πόρνος (pornos), Hurer/Freier, also Unzucht, Hurerei, außerehelicher Sex.

[3] Kein Liebesroman, sondern ein hochkomplexer, vielschichtiger Text über Politik, Rassismus, den weiblichen Körper, Fiktion, Autobiografie und Liebesbeziehungen. In den Verhältnissen ihrer Protagonistinnen zu meist verheirateten Männern kommt zum Vorschein, dass die Frauen Liebe und Sex nicht trennen können, die Männer aber sehr wohl.

[4] Maria Magdalena, in Montefiore dell‘Aso, Santa Lucia, von Carlo Crivelli, einem venezianischen Maler aus dem 15. Jahrhundert.

[5] Diese Ringkomposition, die übrigens auch in Suters Lila, Lila und Riedels Die Endlichkeit des Lichts vorkommt, mag, mehr als nur modische Marotte neuerer Literatur, für Liebesromane charakteristisch sein. In Martin Walsers Augenblick der Liebe (2006) kommt der Kunstgriff ebenfalls vor.

[6] Der Mann im Opfergestus oder die Frau als Verräterin, das lösen Autoren in den drei Jahrhunderten bürgerlicher Ästhetik im Roman, auf dem Theater oder in der Oper unterschiedlich.

[7] Es ist immer gut, wenn in einer Liebesgeschichte eine der beiden Figuren Künstler ist, gern die Frau, denn so umschifft man den Konflikt, dass beide in ihren Berufen an womöglich entfernten Orten ihre Karriere machen wollen und müssen. Eine von beiden muss immer ihren bisherigen Lebensort aufgeben.

[8] Schon Heinrich von Kleist hat in seiner Novelle Die Marquise von O... (1810) aus dem Vater den Liebhaber seiner Tochter gemacht, als der Vater "lange, heiße, lechzende Küsse [...] auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter."

[9] weil selbstreferenziell: Texte, die sich auf andere Texte beziehen, Motive, die Motive zitieren usw.

[10] Je höher der literarische Anspruch eines Romans, desto dominanter werden männliche Reflexionen, auch dann, wenn er personal erzählt wird, und selbst dann, wenn er vorgibt, sich für das weibliche Schicksal zu interessieren. (Vgl. Lehman 1991)

Aus: DAS ARGUMENT, Nr. 273: Liebes Verhältnisse, S. 127ff