Die Fantastischen Vier und die Großen Sieben

Mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken wird in den Zentren des globalen Kapitalismus der rasante ökonomische Aufstieg einiger Schwellenländer verfolgt. Die Ökonomie Chinas, der Werkbank der Welt, soll sich in den kommenden 15 Jahren verdreifachen, Indien, der globale Dienstleister, könnte Wachstumschampion werden – durch High-Tech-Forschung, die Produktion hochwertiger Güter (z.B. im Gesundheitsbereich) und ein großes Reservoir an gut ausgebildeten und englisch sprechenden SpezialistInnen. Dies nährt auch den Aufschwung in den großen rohstoffreichen Ländern und Agrarproduzenten, allen voran Russland, das als Zapfsäule der Welt in erster Linie die fossilen Brennstoffe, aber auch Metalle liefert, und Brasilien, das als Rohstofflager und Ernährer die Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften Asiens mit Eisenerz, Sojabohnen und Rindfleisch versorgt. BRIC – das Akronym, das Goldman Sachs 2001 für die aus ihrer Sicht vier vielversprechendsten Schwellenländer prägte, diente in den letzten Jahren immer wieder als Projektionsfolie sowohl für Markthoffnungen – mit Blick auf neue Absatzmärkte, Direktinvestitionen und Börsengewinne – als auch für Unsicherheiten über die möglichen Verschiebungen in der ökonomischen und politischen Weltordnung. Ob jedoch aus der Fingerübung für risikofreudige AnlegerInnen tatsächlich eine neue potente ökonomische und politische Konfiguration erwächst, ist bisher noch offen. 

 

Eine neue Handelsgeografie?

Ohne Zweifel ist die Verschiebung der Wachstumsdynamik beeindruckend. Zwischen 2000 und 2006 haben die BRIC-Länder mit rund 30 Prozent zum globalen Wachstum beigetragen und ihren Anteil am Welthandel verdoppelt. 2008 werden die Schwellen- und Entwicklungsländer laut IWF im Schnitt um 6,4 Prozent, die etablierten Ökonomien um 1,3 Prozent wachsen. Entscheidend aber für die Frage der Hegemonie ist nach Susan Strange, ob die neuen Akteure auch in der Lage sind, die trägeren, aber grundlegenderen Machtstrukturen – Produktion, Finanzen/Kreditfähigkeit, Wissen und Sicherheit – zu ihren Gunsten zu verändern.  Die globale Ökonomie wird maßgeblich durch die von Transnationalen Konzernen (TNK) getätigten Direktinvestitionen geprägt. 2007 flossen nach wie vor zwei Drittel aller Direktinvestitionen in die Industriestaaten. Doch konnten die BRIC bereits 16 Prozent auf sich vereinen – dreimal mehr als im Jahr 2000. Mehr noch: In den kommenden fünf Jahren wollen transnationale Konzerne laut der UNCTAD v.a. in die BRIC investieren, wobei China die USA zum ersten Mal als attraktivster Investitionsstandort abgelöst haben wird. Lange Zeit blieb unbeachtet, dass auch umgekehrt die Investitionsströme aus den Schwellenländern anzogen. 2006 entfielen rund neun Prozent der weltweit getätigten Direktinvestitionen auf die BRIC, ein zwar niedriger Wert, der sich seit Mitte der 80er Jahre jedoch fast verzwölffacht hat. Und im Unterschied zu 1990, als gerade einmal sechs Schwellen- und Entwicklungsländer einen größeren FDI-Stock als 5 Mrd. hatten, waren es 2005 bereits 25. Dies wirkt sich insbesondere auf die Direktinvestitionen in den Süd-Süd-Beziehungen aus, die von zwei Mrd. (1985) auf 65 Mrd. (2005) in die Höhe schossen und heute mehr als ein Viertel der Direktinvestitionen in diesen Ländern ausmachen.  Diese Entwicklung ist in erster Linie auf die wachsende Bedeutung von TNK aus den Schwellenländern zurückzuführen. Zwar haben es 2006 nur sieben Unternehmen aus diesen Ländern in die Top 100 der größten Unternehmen geschafft, in der Liste der „Fortune 500“ jedoch waren es bereits 47 gegenüber 19 in 1990. Auch der Anteil von Schwellen- und Entwicklungsländern an grenzüberschreitenden Mergers and Aquisitions stieg von 1987 fünf Prozent auf 17 Prozent in 2006. In den vergangenen Jahren waren allen voran riesige russische und chinesische Öl und Gasunternehmen sowie die indischen Stahlkonzerne an Übernahmen und Aufkäufen beteiligt, wobei der Aufkauf von Arcelor durch die Mittal Steel Group mit 32 Mrd. USD die größte MuA in 2006 war.

Aber auch Brasilien schickt mit Vale do Rio Doce (mittlerweile das weltweit größte Unternehmen in der Förderung von Metallen) und dem belgisch-brasilianischen Brauereikonzern ImBev (der mit seinem aktuellen 46 Mrd.-Dollar- Angebot für Anheuser-Busch zur größten Brauerei der Welt aufsteigen will) zwei Schwergewichte ins Rennen.

Die politische Abwehrschlacht und die wirtschaftsnationalistischen Reflexe, die auf die Milliardenofferte des chinesischen Energieunternehmens CNOOC für den kalifornischen Ölkonzern UNOCAL folgten, zeigen, dass einige TNK aus dem Süden mittlerweile dort angekommen sind, wo es den alten StatthalterInnen weh tut. In den letzten Jahren haben sich die Länder zudem finanzpolitisch deutlich konsolidiert und frühzeitig entschuldet. Selbst Brasilien, das lange Zeit als Synonym für die Verschuldung der Dritten Welt stand, wurde 2008 zum Gläubigerland. Zusammen verfügen die BRIC heute über 35 Prozent der weltweiten Devisenreserven.

China ist mit 1,5 Billionen der größte Dollarhorter überhaupt (1992: 19 Milliarden). Bisher hatte das Reich der Mitte den Großteil dessen, was es auf der hohen Kante hat, konservativ in US-Staatsanleihen angelegt. Das große Zähneklappern begann, als China seine Strategie diversifizierte – durch den Aufkauf anderer Währungen (mit möglichen Folgen für die Stabilität des Dollars) und einen 200 Mrd. schweren Staatsfonds, mit dem es – ähnlich wie Russland – auf Einkaufstour gehen möchte, um Anteile an europäischen und US-amerikanischen Unternehmen zu erwerben. Wesentlich schwächer sind bisher noch die Spuren, die BRIC in der Wissensstruktur hinterlassen: Zwar stammen immer noch fast 95 Prozent aller angemeldeten Patente aus den Industriestaaten, doch hatte China im Jahr 2005 33 Prozent mehr Anmeldungen zu verzeichnen, und in zwei Jahren, so eine Studie der EU, wird China Europa bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung überholt haben. Rund 700.000 Ingenieure bilden Indien und China zusammen pro Jahr aus – das sind zehn Mal so viele wie in den USA und Europa.  Noch sind die Entwicklungswege für verlässliche Prognosen allerdings zu fragil: China muss reich werden, bevor es alt wird, die sinkenden Wachstumsraten ab 2012 sind dem Rückgang der demografi schen Entwicklung geschuldet; Krisen in der Energieversorgung und die ökologischen Grenzen des Wachstums könnten in Indien und China die wirtschaftliche Dynamik empfi ndlich stören. In Russland führen die großen Gewinne aus den extraktiven Industrien dazu, dass der Aufbau einer diversifizierten Ökonomie vernachlässigt wird; alle vier haben zudem mit unbewältigten innerstaatlichen sozialen und politischen Transformationsprozessen zu kämpfen. Und schließlich wartet auch die globale Ökonomie mit einer Reihe von Unsicherheiten auf, wie z.B. die Ansteckungsgefahr durch eine Rezession in den USA oder ein stärkerer Protektionismus auf Seiten der entwickelten Länder.

Dennoch: Zwar bestimmen die Industrieländer nach wie vor die Grundstrukturen der globalen Ökonomie, doch der wachsende Einfluss von Ländern außerhalb der Triade USA-Japan-EU und die Verschiebungen (vor allem in der Finanzstruktur) machen Umbrüche in der globalen Ökonomie wahrscheinlich. China nimmt dabei in allen Belangen eine Sonderolle ein. Ob die BRIC auch auf der politischen Landkarte ihre Spuren hinterlassen, wird entscheidend davon abhängen, ob die Schwellenländer künftig mit einer eigenständigen Außenpolitik fortfahren, ob es ihnen gelingt, sich als Gruppe klarere politische Konturen zu geben und schließlich, wie sich das Verhältnis zum global top dog USA entwickelt. 

 

New Kids on the Block?

Der gemeinsame Gruppennamen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Länder zunächst mehr trennt als eint: Mit Blick auf ihre Ökonomien, ihre demografische Entwicklung, ihre militärischen Fähigkeiten und politischen Ressourcen sowie ihre Regierungsformen und Gesellschaftsmodelle sind sie sehr verschieden. Jedoch lässt sich bei allen vier Ländern eine stärkere Öffnung gegenüber außenpolitischen Fragen und eine zupackendere Außenpolitik erkennen. Während große Teile des Globus bis vor zwei Jahrzehnten noch weitgehend terra incognita für die chinesische Diplomatie waren, muss China sich heute – auf der Suche nach Absatzmärkten und Investoren, vor allem aber nach Rohstoffen und Energie – auch in Regionen behaupten, an denen sein strategisches Interesse traditionell gering war. Besonders im Mittleren Osten und Afrika pflegt es seinen Nimbus, für Souveränität und gegen „regime change“ einzutreten und präsentiert sich den oft isolierten Ländern als Handelspartner, Investor, Technologielieferant, Kreditgeber und Entwicklungshelfer. China transportiert zugleich neue Leitbilder, wie das der „souveränen Demokratie“, das im Namen lokaler Mentalitäten und ökonomischer Entwicklungsstrategien die Konzentration der Macht und die Einschränkung der Freiheitsrechte rechtfertigt.

Ähnliches gilt für Russland, der „gestrandeten Weltmacht“ (Dmitri Trenin), die nach Jahren des freien Falls mit einer ressourcenorientierten Außenpolitik wieder stärker in das Weltgeschehen eingreift. Auch scheinen die arriviste powers die regionale Ebene wieder als politische Spielwiese entdeckt zu haben, um den Anspruch auf globale Mitsprache zu legitimieren und um den Einfluss externer Akteure – in erster Linie der USA – zurückzudrängen. So blockierte Brasilien die Bildung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone, Peking hat seine Präsenz in den südostasiatischen Regionalforen verstärkt und versucht zusammen mit Moskau in der Shanghai Cooperation Organisation die zentralasiatische Region an sich zu binden.

Darüber hinaus lassen sich auch die ersten zarten Pflänzchen eines „Süd-Süd-Multilateralismus“ erkennen, dessen Ferment in erster Linie die ökonomische Kooperation bildet. Hierbei handelt es sich zwar eher um thematische Zusammenschlüsse als um stabile politische Blöcke. Im Rahmen der WTO-Verhandlungen führt jedoch an Brasilien und Indien und der von ihnen geführten G-20 kein Weg mehr vorbei. Auch bei IBSA, die mittlerweile institutionalisierte Kooperation zwischen Indien, Brasilien und Südafrika, stehen handels- und wirtschaftspolitische Fragen im Vordergrund – wie der Handel mit Generika oder der Ausbau des Luft- und Schiffsfrachtverkehrs. Diese werden jedoch zunehmend durch Technologiekooperationen (z.B. im Bereich der Agrotreibstoffe und der Weltraumforschung) ergänzt. Schließlich zeigte jüngst das erste Treffen der BRIC in Jekaterinburg, in dem es u.a. um Terrorismusbekämpfung, Rüstungs- und Energiefragen ging, dass das Akronym nun ein politisches Eigenleben zu führen beginnt.

Doch die Ausstrahlungskraft der verschiedenen Grüppchen wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sich das Verhältnis zu den USA entwickelt und wie integrations- und innovationsfreundlich sich die bisher von den etablierten Industrieländern dominierten Institutionen zeigen. Auch in den kommenden Jahren werden die USA die Entwicklungen in den internationalen Beziehungen bestimmen, nicht zuletzt über den mit Abstand stärksten Militärapparat, den trotz teilweiser massiver Rüstungsanstrengungen keines der Länder auch nur annähernd erreichen wird. Vom Wohl und Wehe der Zusammenarbeit mit der „unverzichtbaren Nation“ (Madeleine Albright) wird es auch abhängen, wie sich die BRIC in der internationalen Politik bewegen. Zumindest Russland und China gelten in den Clubs rund um den Capitol Hill nicht immer als like-minded-countries. Alle vier BRIC Länder eint die Unsicherheit über die Politik der Vereinigten Staaten: Indien war lange Zeit beunruhigt über Washingtons enge Zusammenarbeit mit Pakistan, Brasilien ist unsicher darüber, welche Rolle Lateinamerika zukünftig für die USA spielen wird, Russland sieht sich zunehmend ausgeschlossen von Entscheidungen, die seine elementaren Interessen betreffen, und China fragt sich, ob die aktuell guten Beziehungen nur dem „Kampf gegen den Terror“ geschuldet sind. Doch ein geschlossenes antiamerikanisches Bollwerk oder gar eine, wie von Huntington vorhergesagte „islamisch-konfuzianische“ Allianz ist nicht in Sicht. Die überragende strategische Bedeutung der sino-amerikanischen Beziehungen für Chinas ökonomische Entwicklung und seine sicherheitspolitische Situation führte Peking immer wieder an die Seite der USA. Indien ist über Militär-, Technologie- und Wirtschaftsabkommen fest an die USA gebunden, und Brasilien wird von den USA mit attraktiven Handelsvereinbarungen bedacht – und als wichtige Ausgleichmacht zu Venezuela gesehen.

Allein die Beziehungen zu Russland haben sich in den letzten Jahren wieder verschlechtert.

 

Während es den USA in den vergangenen Jahren auf bilateraler Ebene gelang, drei der vier BRIC Staaten zu umhegen, sind die bisher von Seiten der Industrieländer ausgesandten Signale, die rising powers besser in das globale Management einzubinden, schwach. Nach der gescheiterten Reform des UN-Sicherheitsrates und mit Blick auf die marginalen Anpassungen der Kapitalanteile im Internationalen Währungsfonds und den sehr verhaltenen Öffnungsprozess der G8 („Heiligendamm-Prozess“) deutet wenig darauf hin, dass die rising powers rasch und umfassend in das bestehende, westlich geprägte Institutionensystem integriert werden können.

 

Was bedeutet die Ankunft der Schwellenländer auf der politischen und ökonomischen Bühne für Deutschland? Der Handelsstaat Deutschland wird vom Aufschwung der BRIC eher profitieren. Jedoch wird das Entwicklungsdilemma, das in den vergangenen Jahren von den sicherheitspolitischen Auseinandersetzungen überlagert wurde, wieder an Bedeutung gewinnen. Und zwar in doppelter Weise: Denn während die fl at world (Thomas Friedman) Shanghai, Sao Paulo und Bangalore erreicht hat, dehnt sich zugleich auch der Planet of Slums (Mike Davis) aus. Die künftige Konstitution der Welt wird sich weniger zwischen den BRIC und den Industrieländern entscheiden, als vielmehr an der Frage der Verteilungsgerechtigkeit sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Gesellschaften. Zugleich kommt mit der nachholenden Entwicklung der Schwellenländer das Entwicklungsmodell der Industrieländer, z.B. durch ökologische Krisen und steigende Rohstoffkonkurrenz, noch weiter an seine Grenzen. Dies könnte die bisher trotz temporärer Klimadebatten nur latent vorhandene Ahnung, dass eine sozial gerechte und nachhaltige globale Entwicklung ohne ein neues Entwicklungsmodell nicht zu haben ist, verstärken. Ein Umdenken muss von den Industrieländern ausgehen. Deutschlands Politik der verflochtenen Interessen ist auf funktionsfähige multilaterale Institutionen angewiesen. Die neuen AkteurInnen verdeutlichen noch einmal die Notwendigkeit, den unter seinen alten Strukturen ächzenden Nachkriegsmultilateralismus zu reformieren.

Leichter wird diese Aufgabe mit den BRIC jedoch nicht zu bewältigen sein. Alle vier gehören der „modernen Staatenwelt“ (Robert Cooper) an, die durch Souveränität und Nichteinmischung gekennzeichnet ist und bis dato wenig Begeisterung für die transnationalen Politikexperimente der „postmodernen Zone“ EU gezeigt hat. Dies engt auch die Spielräume ein, die Länder als Bündnispartner für einen „wirksamen Multilateralismus“ gewinnen zu können. Hand in Hand mit der weiteren Marktdurchdringung durch die Schwellenländer könnte somit eine Renaissance des klassischen Regierens gehen, das – eher „Government without Governance“ – auf Coalitions of the Willing und einen allenfalls selektiven, zwischenstaatlichen Multilateralismus setzt. Gerade in Zeiten, in denen die Sehnsucht nach scheinbar trennscharfen Freund-Feind- Schemata wieder zunimmt, muss jedoch deutlich gemacht werden, dass wir nicht bereits am Ende der Geschichte, sondern erst am Anfang der Diskussion über effiziente und tragfähige globale Strukturen stehen, die helfen, über Vertrauen Unsicherheit und Komplexität abzubauen und neue Gestaltungsräume zu eröffnen. Auch in schwierigem Fahrwasser wird deshalb nicht die Selbstentbindung von globalen Regeln, sondern nur der beharrliche Ausbau der Global Governance auf der Grundlage starker Vereinter Nationen zum Ziel führen.   

 

Britta Joerißen ist Politikwissenschaftlerin. Jochen Steinhilber ist Politikwissenschaftler. Beide leiten das Büro Brasilien der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuvor begleiteten sie das FES-Projekt Kompass 2020. Weitere Informationen: www.fes.de\kompass2020  ˘