Aids im System

Vor achtzehn Jahren, im September 1990, betrat ein kleiner Mann unsere
damalige Redaktion und stellte sich mit den Worten vor: Ich bin
Günter Reimann aus New York, ich stamme aus Angermünde und war
einmal, 1925 bis 1930, Wirtschaftsredakteur der Roten Fahne. Mich interessiert,
was ihr hier treibt. Vielleicht können wir zusammenarbeiten.


Reimann hatte 1947 die in fünfzig Ländern tätige Agentur International
Reports on Finance and Currencies samt Wochenzeitschrift gegründet und
beides 1983 an die Financial Times verkauft; private Finanzprobleme waren
ihm ein Fremdwort. Im Jahr nach seinem ersten Besuch diktierte er
in unseren Räumen an mehreren Abenden und zwei Wochenenden einer
Sekretärin die zentralen Teile seines Buches Die Ohnmacht der Mächtigen.
Das Kapital und die Weltkrise – damals noch in eine Schreibmaschine;
Geschichten aus einer versunkenen Welt. Daneben schrieb er einiges
auch für unser damaliges Blatt.


Reimann kannte in der Finanzbranche alle, und alle kannten Reimann;
nur daß er einmal zur zweiten Riege der deutschen Kommunisten gehört
hatte, wußten die wenigsten. In seinem Buch, das Anfang 1993 bei Gustav
Kiepenheuer in Leipzig erschien, outete er sich jedoch nicht nur als
Sonderbeauftragter der Komintern im Jahre 1932 in Vorbereitung der geplanten
Ablösung Stalins durch Bucharin – wie bekannt schreckte Bucharin
jedoch zurück, und Tausende bezahlten das mit ihrem Leben, unterihnen er selbst –, sondern Reimann prognostizierte die heutige Krise:
»Das Gewicht der Systemkrise wird zunehmend von der Sphäre der Produktion
auf die der Zirkulation des Kapitals verlagert. Das ist eine Tendenz,
bei der die Zirkulationskrise auf die Produktionsverhältnisse zurückschlagen
wird. Deswegen beginnt eine neue Krise nicht mit der allgemeinen
Überproduktion von Waren oder der Marktüberfüllung (fehlende
Kaufkraft), sondern mit Mangel an Liquidität im industriellen Sektor,
obwohl Liquiditätsüberfluß im Geldmarktsektor besteht. Es gibt zuviel
Liquidität auf internationalen Geldmärkten und zuwenig Liquidität für
industrielle Unternehmer, die zumeist nicht genügend ›kreditwürdig‹ für
den Finanzsektor sind. Diese Erscheinung schlägt auf die internationalen
Währungsverhältnisse zurück. […] Das Damoklesschwert der internationalen
Geld- und Kapitalflüsse schwebt über Zentralbanken und
Währungsautoritäten aller Länder. Sie versuchen untereinander, eine
Art Alarmsystem einzurichten, um gemeinsam rechtzeitig den Folgen
übergroßer Geldflüsse von einer Währung in eine andere entgegentreten
zu können. Aber wie bei einem Feuer, das in einem Gebäude, gefüllt
mit Explosivstoffen, ausbricht, kann das Alarmsystem nur das Ausmaß
und die Folgen des Brandes beschränken, aber nicht das Unglück selber
verhindern.«


Als 1994 in Berlin und Leipzig anläßlich seines 90. Geburtstages ein
Doppelkolloquium ausgerichtet wurde, kam Reimann – der im französischen
Exil zwar mit der Komintern, aber nicht mit seinen Überzeugungen
gebrochen hatte, auf dieses Thema zurück und war noch optimistischer
als in seinem Buch aus dem Jahr zuvor, daß es den USA gelingen
werde, die in der Zirkulationssphäre sich überdehnende Blase anzustechen
und kontrolliert einfallen zu lassen. Selbst er, der wirklich an Marx
geschulte und über Jahrzehnte erfolgreiche Analytiker des Finanzwesens,
hatte (wie wir alle in unserer Naivität, was hier aber kaum erwähnt
werden braucht) die Rationalität und Selbstzügelung der »Eliten« in Finanz-
und Wirtschaftsfragen weit überschätzt. Die vergangenen anderthalb
Jahrzehnte haben uns gezeigt, daß durch den Kalten Krieg der Westen
zur Vernunft lediglich gezwungen, aber nicht gekommen war; der
Fall der Mauer war letzten Endes als eine ersehnte Befreiung von der
Vernunft gefeiert worden. Endlich durfte in den entfesselten Irrsinn zurückgestartet
werden: Kredite ohne alle Sicherheiten. Das ist in Zeiten
von Aids nur vergleichbar mit Promiskuität ohne Kondom.


Dieses Wirtschafts- und Finanzsystem hat ohne Zweifel Aids. Doch alle
heimliche Freude über den »großen Kladderadatsch«, an den Marx eine
Zeitlang, viele seiner Jünger aber immer noch glauben, ist Unsinn. Dieses
System bricht nicht zusammen – solange nicht Mehrheiten es bewußt
beseitigen wollen und vor allem wissen, was an seiner Stelle entstehen soll. Vorerst wird wohl Günter Reimann recht behalten: »Aus dem
Chaos der internationalen Währungsverhältnisse wird eine neue internationale
Goldwährung aufsteigen. Damit werden die strukturellen Krankheiten
des Systems nicht überwunden, aber die Überlebenskraft des Kapitalismus
zeitweise wieder hergestellt – für eine Generation.«