Der Sozialismus der Raubtiere

Die jüngste Finanzkrise in den Vereinigten Staaten hat es ans Licht gebracht: »Sozialist« und alle verwandten Bezeichnungen sind wirklich die schlimmsten Beleidigungen, die einen US-Politiker treffen können. Es sei denn, irgend etwas wird zum Vorteil solcher Leute »sozialisiert«, die ohnehin schon zuviel und die »Sozialisierung« gar nicht nötig haben. Und um gut, notwendig und im Staats- und Weltinteresse unausweichlich zu sein, muß die Sozialisierung zu Lasten des sprichwörtlichen »kleinen Mannes« gehen, der dadurch noch schlimmer ruiniert wird, als er infolge der Krise ohnehin schon zu befürchten hatte.

Den jetzt von den Washingtoner Politikern eilig organisierten Raub von nicht weniger als 700 Milliarden Dollar aus der Steuerkasse haben die Herren des großen Geldes in den letzten zehn Jahren penibel vorbereitet: Auf Teufel komm raus vergaben sie millionenfach Hypotheken an Leute, die sich die Belastungen gar nicht leisten konnten. Das wußten die Herren des großen Geldes und drehten trotzdem das große Rad: Erstens knöpften sie den Hypothekennehmern (solange die das Geld noch zusammenkratzen konnten) mächtig überhöhte Schuldzinsen und Gebühren ab, und zweitens verscherbelten die Geldmenschen einen Großteil ihrer ziemlich faulen Hypothekenforderungen wider besseres Wissen als »1A-Sicherheiten« an gutgläubige andere Menschen, die ihr sauer verdientes Geld krisensicher anlegen wollten.

Aber plötzlich ist der dreiste Griff in viele fremde Portemonnaies vorbei. Die Abnehmer der Hypothekenforderungen haben gemerkt, daß ihnen Schrottpapiere angedreht wurden, und kaufen sie deshalb nicht mehr. Dadurch bekommen die Banken kein frisches Geld mehr in die Kasse, mit dem sie weitere Geschäfte machen können. Vorhang auf für die ganz große Sozialisierung made in USA: Nach der Privatisierung der Milliardengewinne der Herren des großen Geldes werden die Verluste jetzt einfach sozialisiert: Der Finanzminister in Washington kauft ihnen die faulen Hypothekenforderungen ab. Für nicht weniger als 700 Milliarden Dollar.

Das muß sein, sagen die den Sozialismus, jegliche Sozialisierung und alle Sozialtaten normalerweise verteufelnden konservativen Politiker in Washington, um einen Zusammenbruch des Weltfinanzsystems und damit eine neue Weltwirtschaftskrise zu vermeiden. Denn mit dem frischen Geld aus der Steuerkasse könnten die Herren des großen Geldes wieder neue Kredite für wirtschaftsankurbelnde Investitionen vergeben. Ob das funktioniert, kann niemand mit Sicherheit sagen, aber Hoffnung versetzt ja manchmal Berge. Nur ganz leise sagt der Washingtoner Finanzminister, daß er die 700 Milliarden Dollar für die soziale Rettungstat gar nicht in der Kasse hat, sondern sich das viele Geld irgendwo besorgen muß. Er muß also neue Schulden machen, und davon hat der amerikanische Staat schon jede Menge, nämlich mehr als 10.000 Milliarden Dollar.

Das ist erstens eine Irrsinnssumme, die auch künftige US-Finanzminister mit einiger Sicherheit nie werden zurückzahlen können. Und zweitens wird die neue Schuldenaufnahme – neben anderen Folgen – tiefe Einschnitte ins soziale Netz der Vereinigten Staaten notwendig machen. Vom Verzicht auf längst überfällige Investitionen zur Rettung der maroden Infrastruktur des Landes ganz zu schweigen. Denn für das alles wird dem Finanzminister das Steuergeld fehlen; und obendrein muß er auch noch kräftig Zinsen für seine Sozialtat zugunsten der Herren des großen Geldes zahlen. Alles halb so schlimm, sagt der Minister. Denn die 700 Milliarden Dollar für die faulen Hypotheken will er sich ja wiederholen. Zum einen will der Staat nicht den vollen Preis für die Forderungen zahlen, und zum anderen will er die ursprünglichen Hypothekenschuldner in den kommenden Jahren zur Kasse bitten. Falls bei denen etwas zu holen ist – was sich nach Meinung der Experten in sehr vielen Fällen als Wunschtraum erweisen wird.

Da stellt sich am Ende die Frage, ob dies das amerikanische Ende der Verteufelung aller »sozial«-Wortverbindungen bedeuten wird. Und da ist ein klares »Nein« angesagt. Im Präsidentschaftswahlkampf geht der Republikaner John McCain schließlich mit dem Schlagwort vom »Nein zur Sozialisierung der Krankenversicherung« hausieren. Statt der Einführung einer staatlich regulierten Volkskrankenversicherung für alle US-Bürger (wie sie der Demokrat Barack Obama nach europäischen Vorbildern befürwortet) plädiert McCain für ein Modell, mit dem schon sein Parteifreund George W. Bush im Parlament gescheitert ist: weiterhin private Krankenvorsorge mit Geldanlage bei den Herren des großen Geldes. Damit dreht sich der soziale Irrsinn endlich im Kreis.

Vielleicht wäre es an der Zeit, die US-Praktiken ausnahmsweise einmal mit dem vom deutschen Altkanzler Helmut Schmidt schon vor Jahrzehnten geprägten Wort vom »Raubtierkapitalismus« zu belegen. McCain wie Obama könnten sich in stillen Stunden gelegentlich die Frage stellen, wieso sie in diesem Land mit diesen Verhältnissen eigentlich Präsident werden wollen.

 

Peter W. Schroeder ist Korrespondent mehrerer Tageszeitungen in Washington.