Über den Rubikon

Am 2. Oktober vermeldete die New York Times, die USA hätten soeben
ein neues Kapitel in der Kooperation mit Indien aufgeschlagen: Der Senat
habe einem Abkommen zugestimmt, das zivilen Nuklearhandel zwischen
beiden Ländern gestatte.


Dieser Schritt bildete den Abschluß einer Entwicklung, durch die Indien
– maßgeblich protegiert durch Washington – als erstem Staat der
Aufstieg aus der nuklearen Illegalität in die Liga der anerkannten Atommächte
gelungen ist. Damit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der das
Zeug hat, als Auslöser einer Zeitenwende in die Geschichte einzugehen:
Das fragile Regime des Atomwaffensperrvertrages könnte damit endgültig
ausgehebelt und die nukleare Büchse der Pandora, die seit dem Abschluß
dieses Vertrages zwar nie gänzlich, aber doch sehr weitgehend geschlossen
war, könnte global geöffnet werden.


Der Atomwaffensperrvertrag (auch Non-Proliferation Treaty, Nichtweiterverbreitungsvertrag
– NPT) wurde am 1. Juli 1968 von den USA,
der Sowjetunion und Frankreich unterzeichnet. Er trat 1970 in Kraft.
Zwischenzeitlich waren ihm 189 Staaten beigetreten, darunter – 1992 –
auch Frankreich und China, die bereits zum Zeitpunkt der Erstunterzeichnung
den Status von Atommächten hatten. Derzeit sind 188 Mitglieder
am Atomwaffensperrvertrag beteiligt, nachdem Nordkorea, dessen
nukleare Ambitionen seit längerem bekannt sind, im Jahre 2003 aus
dem Vertrag ausgetreten war. Zu den Nichtunterzeichnerstaaten gehören
die illegalen Atommächte Israel, Indien sowie Pakistan.


Ziel des Atomwaffensperrvertrages war und ist es, die Weiterverbreitung
nuklearer Waffentechnologien über den Kreis der zum Zeitpunkt
seines Abschlusses vorhandenen fünf »offiziellen« Nuklearmächte hinaus
zu verhindern. Das dem Vertrag innewohnende Element der Diskriminierung
– er verweigert allen anderen Staaten einen Status, den diese
fünf bereits haben – war dabei stets mit dem übergeordneten Ziel zu rechtfertigen, eine atomare Selbstvernichtung der Menschheit zu verhindern.
Überdies verpflichtet der Vertrag in Art. VI die Nuklearmächte ihrerseits
zur atomaren Abrüstung – sein Ziel ist eine kernwaffenfreie Welt.


Natürlich kann man die Frage, ob der Atomwaffensperrvertrag seine
Funktion nicht bereits verfehlt habe, mit Hinweis auf das nuklearen Ausscheiden Israels, Indiens und Pakistans bejahen. Allerdings gab es in den
vergangenen vierzig Jahren auch andere Schwellenländer an der Pforte
zur Atommacht – unter anderem Südafrika und Brasilien –, die sich
schließlich doch dem Vertragsregime angeschlossen und ihre entsprechenden
Entwicklungsprogramme eingestellt haben. Alles in allem hat
der NPT die Welt bisher vor einem Zustand nuklearer Anarchie mit einem
unkalkulierbar höheren Atomkriegsrisiko bewahrt.


Nachdem Indiens erster Atomtest 1974 gezeigt hatte, daß das Land offenbar
Materialien, die ihm von verschiedenen Staaten zur friedlichen
Nutzung der Kernenergie geliefert worden waren, militärisch mißbraucht
hatte, wurde eine weitere Sicherung im Vertragsregime geschaffen. Damals
entstand die sogenannte Nuclear Suppliers Group, ein Gremium
von Staaten, die zum Export nuklearer Technologien in der Lage sind.
Die Nuclear Suppliers Group, die heute 45 Mitglieder umfaßt, verhängte
seinerzeit über Indien ein Embargo, das auch die Lieferung jeglicher ziviler
Nukleartechnologie einbezog.


Ausgangspunkt der jetzigen Entwicklung war eine Umbewertung Indiens
in der globalen Strategie der Vereinigten Staaten, deren Anfänge
bis zur Jahrtausendwende zurückreichen. Nachdem die USA auf dem
indischen Subkontinent jahrzehntelang auf Pakistan als Hauptpartner
gesetzt hatten, dieses Land sich aber zunehmend zum unsicheren, innenpolitisch
instabilen und außenpolitisch illoyalen Kantonisten gewandelt
hatte, erschien Indien als potentieller Partner und nicht zuletzt als
Gegengewicht zu China in neuem Licht. Das manifestierte sich erstmals
2002 im Besuch des damaligen Präsidenten Bill Clinton in New Delhi und
führte bereits 2005 zum Abschluß jenes eingangs erwähnten Abkommens,
das nun im US-Senat die letzte Hürde genommen hat.


Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Zustimmung der Nuclear
Suppliers Group zur Aufhebung des Embargos gegen Indien, für die sich
die USA in den vergangenen Jahren stark gemacht hatten und die schließlich
Anfang September dieses Jahres einstimmig erfolgte – nach heftigem
Gerangel hinter den Kulissen. So wollten die Mitglieder Irland, Neuseeland,
Norwegen, Österreich und die Schweiz die Aufhebung des Embargos
an drei Bedingungen knüpfen: Indiens Atomreaktoren sollten der Kontrolle
der Internationalen Atomenergiebehörde unterworfen werden. Indien
sollten Technologien, die zur Urananreicherung zu militärischen
Zwecken geeignet sind, auch weiterhin verschlossen bleiben. Und schließlich sollte jeglicher Nuklearhandel nach einem erneuten Atomtest Indiens
sofort unterbunden werden. Die USA haben sich diese Forderungen nicht
zu eigen gemacht. So mußte Indien letztlich lediglich für 14 seiner 22 Nuklearreaktoren
eine Kontrolle durch die Internationalen Atomenergiebehörde
konzedieren. Die restlichen sind als militärisch ausgewiesen, und
zu solchen Anlagen hat die Behörde grundsätzlich keinen Zugang.


Um Chinas Zustimmung zur Aufhebung des Embargos sicherzustellen,
griff Präsident George W. Bush höchstselbst zum Telefon und sprach
direkt mit dem chinesischen Staatschef und KP-Generalsekretär Hu Jintao.
China stimmte letztlich ebenfalls zu. Welche Konzessionen Washington
im Gegenzug angeboten hat, ist nicht bekannt.


Natürlich hat Washington auch Erklärungsmuster für seine Abkehr
vom bisherigen Vertragsregime im Falle Indiens geliefert, die einerseits
die Kehrtwendung kaschieren und andererseits das Verbotene als gerechtfertigt
erscheinen lassen sollen. Indien, so heißt es, habe gezeigt,
daß es verantwortungsvoll mit Atomwaffen umgehe. Mit dieser Erhebung
des Ausscherens in den Adelsstand wird allerdings geflissentlich
übersehen, daß das Land mit seinem Test von 1974 Pakistan den Vorwand
lieferte nachzuziehen. Damit wurde die nukleare Rüstungsspirale
auf dem Subkontinent in Gang gesetzt. Und mindestens im indisch-pakistanischen
Krieg von 1999 haben beide Seiten wiederholt mit dem Atomwaffeneinsatz
gedroht. Soviel zum Attribut »verantwortungsvoll«.


Ein anderes Argument Washingtons aber ist noch abenteuerlicher:
Die jetzige neue Stufe der nuklearen Kooperation mit Indien könne das
Land langfristig an den Atomwaffensperrvertrag heranführen. Dazu erübrigt
sich ein Kommentar.


Bleibt als Fazit, daß potentielle nukleare Schwellenländer die Botschaft,
die in der jetzigen Entwicklung liegt, sehr wohl verstehen dürften: Auf
dem Weg zur Atommacht braucht es einen langen Atem – wer den aufbringt,
schafft es irgendwann. Sollte Indiens Beispiel Schule machen, dann
wäre der Rubikon zu einer Welt, die von nuklearen Krisen wie den aktuellen
um Iran und Nordkorea geprägt wird, wohl endgültig überschritten.