Europäische Sozialunion? Gerade jetzt!

Eine Reaktion auf Fritz Scharpfs Verdikt der Verweigerung

Europas Krise wird tagtäglich größer. Überkommen
geglaubte nationale Egoismen
offenbaren sich in Anbetracht der Finanzmarktkrise
und üben eine zunehmend zersetzende
Wirkung auf die Gemeinschaft aus. Die nach
langem Ringen zustande gekommene Reaktion
der 15 Eurostaaten stellt in Wirklichkeit nur ein
Abnicken national vorbereiteter Rettungspakete
dar, auf deren Gestaltung und Umfang die europäische
Ebene keinerlei Einfl uss hat. Die politische
Führung in Brüssel ist machtlos und hat sich durch
ihre einseitige, auf den Binnenmarkt ausgerichtete
Politik bei vielen Menschen ins Abseits manövriert.
Ihr Neoliberalismus hat viele sozialpolitische
Errungenschaften der europäischen Wohlfahrtsstaaten
auf niedrigem Niveau eingeebnet. Der
jüngste Versuch der Barroso-Kommission, eine
„erneuerte Sozialagenda“ für Europa zu entwerfen,
ist vor allem als eine taktische Maßnahme zu
verstehen, die eigenen Chancen kurz vor den Europawahlen
im nächsten Jahr zu verbessern. Ihre
Vorschläge geben keine Antworten auf die drängenden
sozialpolitischen Herausforderungen Euro
pas. Sie sind nicht viel mehr als eine Mikrokorrektur
der unterentwickelten Sozialstaatlichkeit.

 

Umso wichtiger ist vor diesem Hintergrund
das jüngste Verdikt von Fritz Scharpf. Mit
Blick auf die Markthörigkeit der EU-Politik
rief er in einem Interview zur Verweigerung der
Mitgliedstaaten gegenüber Rechtssprüchen des
Europäischen Gerichtshofes (EuGH) auf, die den
Markt gegen sozialpolitische Errungenschaften
ausspielen, wie in den Fällen Laval, Viking, Rüffert
und Luxemburg. In diesen jüngsten Urteilen wurde
Tarifautonomie durch Rechtssprüche des EuGH
ausgehebelt und der Dienstleistungsfreiheit Vorrang
gegeben. Scharpfs Verdienst sind die deutlichen
Worte, mit denen er das potenzielle Scheitern
der EU apostrophiert, sollte der momentane institutionelle
Stillstand weiterhin Bestand haben. Er
greift aber andererseits zu einer solch drastischen
Empfehlung, dass das Projekt einer Europäischen
Sozialunion Gefahr laufen könnte, vor dem Neoliberalismus
zu kapitulieren. Gerade jetzt, in Anbetracht
der „Großen Krise“, wäre das fatal.

 

Ebenen europäischer Sozialpolitik 

Das „Soziale Europa“ ist keinesfalls eine überoptimistische
Illusion für Europa, sondern ein
reelles Projekt progressiver Kräfte aus Politik und
Zivilgesellschaft, die den erhöhten Schwierigkeitsgrad
bei der Entwicklung von mehr Sozialstaatlichkeit
in Europa, aber eben gleichzeitig auch
Wege dorthin erkennen – wie steinig sie auch sein
mögen. Am Anfang dieses Projekts steht eine
nüchterne Bestandsaufnahme dessen, was es
bereits an Sozialstaatlichkeit der EU gibt. Der
zweite Schritt ist die Neuausrichtung bestimmter
Sozialpolitiken im komplexen Gefl echt der verschiedenen
europäischen Governance-Ebenen. Kurzfristiges
Ziel einer europäischen Sozialunion ist
die Beendigung des Spannungsverhältnisses zwischen
der EU-Gesetzgebung (insbesondere der
Europäischen Rechtsprechung) und nationalen
sozialpolitischen Institutionen. Das ist durch einen
Schutz der wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen
der Mitgliedstaaten sowie durch eine weitergehende
Kompetenzverlagerung auf die europäische
Ebene zu erreichen.

Dazu kann EU-Sozialpolitik bereits
heute auf drei Ebenen beitragen:

Zunächst analog zur Rolle des Nationalstaates:
In jedem Mitgliedstaat der EU sorgen soziale Sicherungssysteme
(steuer- bzw. beitragsfi nanziert) für
direkte materielle Leistungen an Bedürftige, etwa
Arbeitslosenversicherung oder Wohngeld. Die
Voraussetzung hierfür sind Eigenmittel bzw. solide
fi nanzierte Umlagesysteme. Auf europäischer
Ebene zählen hierzu momentan in erster Linie die
Mittel des Europäischen Sozialfonds zur Wiedereingliederung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in den Mitgliedstaaten. Die Förderung
beläuft sich auf insgesamt 75 Milliarden Euro in
der Haushaltsperiode 2007–2013. Dabei wird besonders
darauf geachtet, Mittel in diejenigen EURegionen
zu lenken, in denen die Arbeitslosigkeit
besonders hoch oder das durchschnittliche Einkommen
besonders niedrig ist. Als weiteres Beispiel
für materielle Leistungen der EU ist der Europäische Globalisierungsfonds gegen Härtefälle
bei Unternehmensverlagerungen zu nennen, der
abgesehen von seiner bescheidenen fi nanziellen
Ausstattung primär als ein völlig unzulängliches
side-payment für die einseitige Binnenmarktpolitik
der EU-Kommission zu betrachten ist. Alles
in allem gibt es bislang nur wenige Formen materieller
europäischer Sozialpolitik, die häufi g symbolpolitischen
Charakter haben.

Häufi ger fi ndet europäische Sozialpolitik
dagegen auf regulativer Ebene statt. Regulativ
bezieht sich dabei auf die europäische
Festlegung von Mindeststandards. Man findet
regulative Sozialpolitik in den Bereichen Gleichbehandlung
von Männern und Frauen in Beschäftigung
und Beruf, bei Aspekten der Anti-Diskriminie
rung, der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, dem
Gesundheitsschutz und der Sicherheit am Arbeitsplatz,
dem Arbeitsrecht sowie bei der Unterrichtung
und Anhörung von Arbeitnehmern vor. Damit
ist zunächst keine Umverteilung durch die EU verbunden,
sondern es wird lediglich ein Handlungsrahmen
vorgegeben, der soziale Sicherung in den
Mitgliedstaaten aufwerten, aber auch aushöhlen
kann. Letzteres ist vor allem dann der Fall, wenn –
wie bei den eingangs erwähnten Rechtssprüchen
– sozialstaatliche Einrichtungen mit dem Freizügigkeitsrecht
in der EU scheinbar nicht vereinbar sind
und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
den Binnenmarktfreiheiten Vorrang gibt. Die
regulative Ebene europäischer Sozialstaatlichkeit
gehört zum Bereich der „harten“ Gesetzgebung,
mit dem auch Sanktionsmöglichkeiten durch die
EU verbunden sein können.
Auf einer dritten Ebene fi ndet Koordination vorwiegend
im Bereich des so genannten Soft Law
statt. Merkmale des Soft Law sind gemeinsame
Zielsetzungen der Mitgliedstaaten. Diese Ziele sind
aber nicht verbindlich, sondern dienen lediglich als
Richtwerte für die Regierungen. Auf europäischer
Ebene kommt als zentrales politisches Steuerungselement
die „Offene Methode der Koordinierung
(OMK)“ zum Einsatz. Sie ist im Kern ein Vergleichsverfahren
für nationalstaatliche Politik und dabei ein nicht bindendes Instrument: Es fi ndet keine
formale Kompetenzverlagerung statt. Vielmehr
steht die Koordinierung von Politikzielen beispielsweise
bei Fragen des sozialen Schutzes, der Beschäftigung,
der Renten- oder Gesundheitspolitik im
Vordergrund. Die OMK ist gedacht als Antwort auf
das Problem, dass sich unterschiedliche Wohlfahrtssysteme
in der EU nicht harmonisieren lassen (wollen).
Der Mangel an zentraler Kompetenz der EU
im Bereich Sozialschutz soll durch ein Verfahren
des gegenseitigen Lernens unter den Mitgliedstaaten
aufgewogen werden. Allerdings verknüpfen
sich auch zahlreiche Schwierigkeiten mit der OMK.
Inhaltlich fi ndet zwar eine diskursive Aufwertung
der EU-Sozialpolitik statt, aber zumeist liegt der
Schwerpunkt dabei zurzeit auf wettbewerbsfördernder
und marktschaffender Sozialpolitik.

 

Ausbremsen des EuGH als nationale
Strategie?

In der konkreten Betrachtung der drei Ebenen
wird deutlich, dass der Status quo europäischer
Sozialstaatlichkeit vor allem in ihrer jetzigen Funktion
als neoliberales side payment unbefriedigend
ist und es weitgehend nicht vermag, Dumping-
Prozesse zu verhindern. Der Hauptgrund dafür ist
das strukturelle Ungleichgewicht zwischen wirtschaftlicher
und sozialer Integration. Der Schaffung
des Binnenmarktes und des gemeinsamen Währungsraums
folgten keine überzeugenden Schritte
in Richtung einer Stärkung der politischen Dimension.
Im Gegenteil verdrängten Wettbewerb und
Markt in den letzten Jahren jeglichen sozialpolitischen
Impuls und unterhöhlten die nationalen
Wohlfahrtsstaaten. Andererseits blieben die Nationalstaaten
– auf eigenen Wunsch – die zentralen
Arenen für Sozialpolitik, wenngleich stets im Spannungsverhältnis
zur wirtschaftlichen Integration
Europas. Die große Heterogenität der Wohlfahrtsstaatsmodelle
ist für Scharpf der Grund, weshalb
er die Schaffung eines Europäischen Sozialmodells
als erweiterten Handlungsrahmen der EU-Staaten
für eine Schimäre hält. So bleibt seiner Ansicht nach
neben der Beeinfl ussung der innerjuristischen Diskurse
einzig die Verweigerung des Rechtsgehorsams schlägt vor, dass ein Mitgliedstaat, der sich in
seiner Souveränität verletzt fühlt, zusätzlich zur
offi ziellen Nichtbefolgung des jeweiligen EuGHUrteils
den Ministerrat anruft. Nur einer politischen
Bestätigung des Urteils durch eine qualifi zierte
Mehrheit von Ländern sollte sich der betroffene
Mitgliedstaat beugen.

 

Ungeachtet der juristischen Problematik
dieser Strategie ist sie auch politisch prekär.
Nur im Einzelfall könnte sie zu einer Kompetenzklärung
beitragen, als dauerhafter Modus
Operandi würde die hiermit befeuerte Politisierung
der Auseinandersetzung zwischen Grundrechten
und Grundfreiheiten mit einer Entdemokratisierung
der EU einhergehen. Die rechtsprechende
Gewalt der EU wäre beschädigt, was im Falle der
radikalen Interpretation der schrankenlosen Ausdehnung
der Binnenmarktfreiheiten zwar zur Genugtuung
in den betroffenen Mitgliedstaaten
führen würde. An anderer Stelle jedoch, wo der
EuGH durch seine Rechtsprechung den primär
wirtschaftlichen Staatenverbund politisch stärken
könnte, würde seine Stimme in den Mitgliedstaaten
nicht mehr ernst genommen werden. Sobald
die Tür zur Neubefassung gesprochener EuGHUrteile
durch den Ministerrat geöffnet ist, wird sich
jeder Staat in Ermangelung einer Vetofunktion
offen halten, ihm nicht genehme Interpretationen
der Verträge erneut auf die politische Agenda zu
setzen. Das ist der direkte Weg zurück zum Nationalstaat
und widerspricht dem erklärten Ziel einer
weitergehenden Demokratisierung der Gemeinschaft.
Der Weg in die Zukunft sieht anders aus.

Weder zurück, noch Reparatur –
nach vorne geht der Weg!

Auf der anderen Seite können die – im Kontext
der eingangs erwähnten Fälle – nun vielfach diskutierten
Korrekturen der Entsenderichtlinie nur
als ungenügende Maßnahme empfunden werden.
Zwar könnte es gelingen, die Richtlinie rechtstechnisch
derart abzudichten, dass ihr Wortlaut künftig
die ursprünglich zugedachte Intention des Europäischen
Parlaments und der Mitgliedstaaten
widerspiegelt. Jedoch wird damit das grundsätzliche
Problem der ökonomischen Schlagseite der
EU als System von Wettbewerbsstaaten nicht angegan
gen, sondern vertagt. Weiterhin werden europä
isch hausgemachte Dumpingprozesse bei Löhnen,
Steuern und Sozialabgaben beobachtbar sein, und
der Konfl ikt zwischen Wettbewerbsprinzip und
sozialen Grundrechten könnte leicht an anderer
Stelle erneut ausbrechen.

Wenn weder das Zurückdrehen erreichter
Integrationsstufen, noch die Reparatur einzelner
Rechtsbestimmungen eine Lösung
der Krise ermöglichen, bleibt einzig der Weg nach
vorne. Es gilt, den Pessimismus all jener zu widerlegen,
die wie Scharpf eine politische Korrektur
der auftretenden Interferenzen durch die Schaffung
eines Europäischen Sozialmodells für unmöglich
halten. Der Paradigmenwechsel hin zu einer Radikalisierung
der Binnenmarktintegration auf dem
Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und der gestiegene innereuropäische Konkurrenzdruck
infolge der EU-Osterweiterung, der sich im
Wettbewerb um Produktionsstandorte und Kapitalinvestitionen
manifestiert, zeigen die Notwendigkeit
eines neuen Integrationsprojektes. Wann,
wenn nicht jetzt, ist die Zeit zur Verwirklichung
der sozialen Dimension Europas? In den vergangenen
drei Jahren hat sich die EU mühsam von der
Verfassungsvertrags- zur Lissabonkrise geschleppt,
ohne auch nur im Ansatz eine Diskussion um die
mangelnde Ergänzung der weit fortgeschrittenen
wirtschaftlichen Integration durch sozialpolitische
Komponenten zu führen. Die Sorgen und Nöte der
Bürger, die sich in den Referenden in Frankreich, den Niederlanden und zuletzt in Irland manifestierten,
wurden bislang durch die politische Klasse
vorwiegend ignoriert. Zudem erleben wir derzeit
eine Erschütterung der internationalen Finanzmarktarchitektur
in einer Größenordnung, wie sie
bislang unbekannt war. Auch hier sind Versäumnisse
der EU zu beklagen: So wenig wie es zu abgestimmten
Präventionsmaßnahmen vor einem
Überschwappen der Finanzkrise aus den USA kam,
so unzureichend ist heute die Fähigkeit zur gemeinsamen
Reaktion.

Zeit für unorthodoxe Maßnahmen

All diese Krisen und Verwerfungen erheben
schrei end Anklage gegen die Gutgläubigkeit an
die Selbstregulierungskraft der Märkte, gegen die
Mär, dass alles, was Arbeit schafft auch sozial sei,
gegen das selbstgerechte „Weiter so“ der politischen
Eliten. Jetzt ist es an der Zeit, für veränderte politische
Kräfteverhältnisse zu kämpfen und eine Europäische
Wirtschafts- und Sozialunion zu formen!
Die deutsche Sozialdemokratie fi ndet sich mit ihrem
Hamburger Grundsatzprogramm in einer Avantgardegruppe
weniger europäischer Schwesterparteien
wieder, deren verbindendes Element der
Wille zur Schaffung einer europäischen politischen
Union ist und die darauf pochen, das Wettbewerbsprinzip
durch die soziale Dimension gleichwertig
zu ergänzen. Doch die Vision allein genügt nicht.
Mit 27 Staaten ist eine stärkere Poli tisierung und
Demokratisierung der EU – wir hätten ansonsten
„Nizza“ längst hinter uns gelassen – nur schwerlich
voranzubringen. Noch unwahrscheinlicher – hier ist
Fritz Scharpf zuzustimmen – ist die Einigung der
27 auf Elemente eines einheitlichen Europäischen
Sozialmodells. Da die Opportunitäts kosten von „Non-
Social Europe“ jedoch weiter erheb lich steigen
werden und die bereits bröckelnde Zustimmung
der Bürgerinnen und Bürger zum Gemeinschaftsprojekt
erdrutschartig im Sinken begriffen ist (siehe
die letzten Bundestagswahlen in Österreich und
auf dem Vormarsch befi ndliche nationalistisch gesinnte
Parteien des rechten und linken Randes in
vielen europäischen Ländern), sollten endlich wieder
politisch unorthodoxe Vorschläge auf die Agenda.

Um die politische Handlungsfähigkeit in
der Union wieder zu gewinnen, müssen
die PolitikerInnen die Angst vor einer gestuften
Integration verlieren. Eine EU der variablen
Geschwindigkeiten ist mehr wert als eine Gemeinschaft,
die alle bei jedem Schritt mitnehmen
möchte und aufgrund ihrer Größe doch nur
auf der Stelle tritt beziehungsweise durch ihre
innere Heterogenität ihre eigene Existenz gefährdet.
Bereits heute befi nden sich die 15 Länder der
Euro zone auf einer höheren ökonomischen
Integrations stufe als die zwölf weiteren EU-Mitgliedstaaten.
In diesem Kreis der Wirtschafts- und
Währungsunion, der sich auszeichnet durch ein
hohes Maß gemeinsamer öffentlicher Güter, ist
die Europäische Sozialunion als wegweisendes
Zukunftsprojekt zu initiieren. Ihre Aufgabe zielt
auf die Ausbalancierung der bis dato erfolgten
„negativen Integration“ – des Abbaus von nationalen
Handels hemmnissen – durch den Aufbau
gemeinsamer makroökonomischer und sozialpolitischer
Regeln als „positive Integration“.
Die Weiterentwicklung europäischer Sozialstaatlichkeit
zielt jedoch nicht auf die Vereinheitlichung
nationaler sozialpolitischer Institutionen
ab. Vielmehr sind die verschiedenen nationalen
Wege auch eine Stärke der EU. In diesem Verständnis
von europäischer Sozialstaatlichkeit liegt der
zentrale Unterschied zu Scharpfs Argument. Nicht
Harmonisierung an sich, sondern Homogenisierung
sozialstaatlicher Wirkungen muss das Ziel
europäischer Sozialpolitik sein, woraus sich auch
die potenzielle Handlungsfähigkeit der Union
ableitet.
Vorstellbar ist ein Drei-Stufen-Plan zur Verwirkli
chung der Sozialunion mit folgenden Komponenten:

 

Stärkung der ArbeitnehmerInnenrechte.
Die Ein haltung landesspezifi scher Tarifvereinbarungen
und Sozialnormen muss
Vor rang haben vor der Durchsetzung der Marktfreiheiten.
Darüber hinaus ist die Etablierung
gemeinsamer Mindeststandards des Arbeitnehmer-
Innenschutzes vo ran zutreiben, wobei für günstigere
nationale Regelungen eine Bestandsgarantie
gilt. Leiharbeit nehmer sind arbeits- und sozialrechtlich
gleichzu stellen mit regulären Arbeitsverhältnissen.
In allen Ländern der Sozialunion sind Existenz
sichernde Löhne einzuführen, die mindestens
60% des natio nalen Durchschnittslohns betragen
müssen. Zusätzlich ist gemeinsam mit den Gewerkschaften
ein geeigneter Rahmen für ein effektives
europäi sches System der Lohnkoordinierung
zu schaffen.
Etablierung einer europäischen Wirtschaftspolitik.
Die makroökonomische Koordinierung der
Eurozone ist erheblich auszubauen, indem der
Europäischen Zentralbank eine gleichrangige Institution
für die Fiskalpolitik gegenüber gestellt
wird. Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der
Mitgliedstaaten sind dabei entsprechend der jeweiligen
konjunkturellen Lage aufeinander abzustimmen.
Neben der Einigung der Staatengruppe
auf eine einheitliche Bemessungsgrundlage sowie
Mindestsätze für die Unternehmens- und Kapitalertragssteuern
ist der Sozialunion eine eigene
ergänzende Steuerhoheit für ein zentrales Finanzbudget
zuzusprechen. 

Implementierung eines Sozialen Stabilitätspaktes.
Aufgrund der Unterschiedlichkeit
der Wohlfahrtsstaaten auch innerhalb
der Sozialunion bleibt die Einrichtung einheitlicher
sozialpolitischer Institutionen kaum umsetzbar.
Durchaus möglich ist jedoch die gemeinsame
Fixierung quantitativer und qualitativer Standards
und Normen für die einzelstaatlichen Sozialpolitiken.
Entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung
eines Landes müssen die Sozialausgaben auf
einer angemessenen, verbindlich vorgegebenen
Höhe verbleiben. Um die Renten-, Gesundheitsund
Arbeitslosenversicherungssysteme sowie die
Familien- und Armutsbekämpfungspolitiken auch
in qualitativer Hinsicht anzunähern, sind sektorale
Zielvorgaben zu vereinbaren, deren Umsetzung
innerhalb eines bestimmten Zeithorizonts verpfl
ichtend ist.

 

Avantgarde Eurostaaten

Die Verwirklichung einer Europäischen Sozialunion
als Integrationsprojekt ist nicht losgelöst
von einer notwendigen Demokratisierung der Ins titutionen
und politischen Verfahren zu betrachten.
Die Umsetzung einiger oben aufgeführter Politiken
ist ohne weiteres im Rahmen der verstärkten
Zusammenarbeit der heutigen Eurostaaten vorstellbar.
Dumpingprozesse bei Löhnen, Steuern
und Sozialstandards würden damit eingedämmt.
Der Status Quo der materiellen, regulativen und
soft law Sozialpolitik innerhalb der EU kann hierfür
eine gute Ausgangsbasis darstellen, wenn dies
politisch gewollt wird. Die angedeuteten weitergehenden
Kompetenztransfers zu einem neuen
gemeinsamen Zentrum innerhalb der bisherigen
EU sind jedoch nur legitim, wenn der Ausbau zur
politischen Union einhergeht mit der schrittweisen
Schaffung einer föderal ausgestalteten Europäischen
Republik. Die ökonomische Schlagseite
der EU wird langfristig nur durch neue politische
Strukturen, die sich näher bei den Bürgerinnen
und Bürgern befi nden, ausbalanciert werden können.
Dies ist die Konditionierung, über die Einigkeit
erzielt werden müsste, bevor der gezeichnete Weg
beschritten werden kann. Die Argumente dafür
sind heute so zahlreich, umfassend und drängend
wie nie zuvor.

 

Björn Hacker ist Politikwissenschaftler und promoviert in einem
Graduiertenkolleg der Hans-Böckler-Stiftung.
Dr. Christian Kellermann ist Projektleiter für europäische Wirtschafts-
und Sozialpolitik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

Literatur
Andrej Stuchlík & Christian Kellermann (2008): Europa auf dem
Weg zur Sozialen Union? Die Sozialagenda der EU im Kontext europäischer
Sozialstaatlichkeit, Download unter: http://www.fes.de/ipa/.
ó Interview mit Fritz Scharpf (2008): „Der einzige Weg ist, dem EuGH
nicht zu folgen“, in: Mitbestimmung 07/08, S. 18-23; Download unter
http://www.boeckler.de.
ó Stefan Collignon: (2008): Vorwärts mit Europa: Für eine demokratische
und progressive Reform der Lissabon-Strategie, Download
unter http://www.fes.de/ipa/.