Hoffnungslose Rückkehr

Am Tage steigt das Thermometer in der irakischen Wüste auch Mitte
Oktober noch auf über dreißig Grad. Nur nachts und am frühen Morgen
ist es kühl. Glaubt man den Berichten der US-Regierung und den deutschen
Medien, deren Kommentatoren in den heimatlichen Redaktionsstuben
oder bestenfalls in Kairo und Amman sitzen, hat sich auch die
Gewalt im Irak abgekühlt. Die Zahl der großen Anschläge ist in den vergangenen
Monaten tatsächlich spürbar zurückgegangen; furchtbar genug
sind sie immer noch. Die täglichen individuellen Morde sind der
Sensations- und Superlativgier der Zeitungen auch in der Vergangenheit
keine Meldung wert gewesen, obwohl sie schon immer das Gros der Gewalt
ausmachten. Sie halten fast unvermindert an. In Mossul richten sie
sich vor allem gegen die dort wohnende kurdische Minderheit, in Bagdad
oder in der Provinz Diyala soll die religiöse Säuberung und Trennung
vollendet werden. Noch immer werden Offiziere der alten Armee,
Intellektuelle und Funktionäre des Baath-Regimes regelrecht abgeschlachtet.
Ihre enthaupteten und geschändeten Leichen werden auf den
Straßen und in Flüssen gefunden. Im schiitischen Süden reagieren fundamentalistische
Milizen und Parteien auf ihren schwindenden Rückhalt
in der Bevölkerung mit verstärkten Drohungen gegen gemäßigte und säkulare
Persönlichkeiten, gezielten Tötungen und der Verwüstung von
Kultureinrichtungen. Daß der Süden in den Medien als stabilisiert gilt,
ist ohnehin der westlichen Ignoranz gegenüber der bedrückenden Situation
von Frauen und Mädchen und dem dort vorherrschenden ideologischen
Fundamentalismus geschuldet.


Es gibt keine Ruhe im Irak, und wo es stiller geworden ist, ist es nicht
selten eine Friedhofsruhe, die Stille geknebelter Menschen oder die Ruhe
einer Militär- und Besatzungsdiktatur. Auf den 350 Kilometern durch die
Wüstengebiete von Al Khalis, nordöstlich Bagdads, nach Erbil im kurdischen
Norden habe ich neunzehn Straßensperren von Polizei und Armee
gezählt, schwer bewaffnete Festungen. Die Schützenpanzer und Feuerstellungen der irakischen und US-Armee im Sand links und rechts der
Straße habe ich nicht mitgerechnet. Die religiösen und ethnischen Säuberungen,
die insbesondere zwischen 2004 und 2007 eines der Hauptziele
von grausamen Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten und
massenhaften einzelnen Morden waren, sind in den meisten Teilen und
Städten des Landes abgeschlossen. Die Zahlen der Toten sind umstritten,
bis zu 1,2 Millionen werden genannt. Mehr als zwei Millionen Iraker
sind nach Syrien, Jordanien oder nach Ägypten geflohen, eine gleiche
Anzahl innerhalb des Landes. In diesem Herbst sind es die letzten
verbliebenen Christen, die sich besonderer Drohungen und Gewalttaten
ausgesetzt sehen.


Keines der explosiven Konfliktpotentiale des Iraks ist entschärft oder
auch nur einer Entschärfung nähergekommen. Der Macht-, Erdöl- und
Territorialkonflikt zwischen Kurden und Arabern schwelt weiter. Die Entscheidung
über die Zugehörigkeit der Erdölregion Kirkuk sollte nach
der Verfassung durch einen Volksentscheid bis Ende 2007 erfolgen. Sie
wurde verschoben und wird, wenn sie denn stattfinden sollte, heftigste
innerirakische und internationale Auseinandersetzungen auslösen (die
Türkei und der Iran haben mit dem Einmarsch in Kurdistan gedroht, wenn
Kirkuk zur kurdischen Region kommen sollte).


Die von den USA und dem Iran initiierten religiösen Dominanzkämpfe
zwischen Schiiten und Sunniten können jederzeit und vor allem im Vorfeld
der baldigen Provinzwahlen und der zentralen Wahlen (2010) mit
blutiger Schärfe zunehmen.


Ministerpräsident Maliki ist in jüngster Zeit zwar auf Distanz zu reaktionären
islamistischen Kräften gegangen, sie stellen jedoch die stärkste
politische Macht in seiner Regierung dar und beherrschen große Teile
der Sicherheitskräfte, das Verteidigungs-, Innen- und Justizministerium.
Die besonders gewalttätigen Milizen des schiitischen Predigers Sadr sind
von Maliki mit Unterstützung des konkurrierenden SCIRI (Höchster Rat
der Islamischen Revolution im Irak) militärisch zurückgedrängt worden,
haben angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Not jedoch ihre Massenbasis
bewahrt. Der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Wiederaufbau
ist, mit Ausnahme der kurdischen Region, nicht in Gang gekommen.


Die Erdölstadt Kirkuk, nur fünfzig Kilometer von der boomenden kurdischen
Hauptstadt Erbil entfernt, macht einen erbarmungswürdigen,
verwahrlosten und bitterarmen Eindruck. Nur Geld für neue Moscheen
scheint überall vorhanden zu sein. Hunger, Arbeitslosigkeit, Bildungsnot,
fehlende Gesundheitsversorgung, Energiemangel und Kriminalität
prägen den Alltag der meisten Irakerinnen und Iraker. Dazu kommen eine
Regierung und eine Verwaltung, die schwach, gespalten, handlungsunfähig
und korrupt sind.Die USA planen, 2009 etwa zehn Prozent ihrer Truppen zurückzuziehen
(und nach Afghanistan zu schicken). Bis 2011 soll das Gros ihrer Kampftruppen
abgezogen werden. Spezialkräfte sollen offensichtlich im Land
bleiben und Operationen gegen Aufständische und Terrorgruppen fortsetzen.
Wie auch immer: Die USA haben den Irak mit ihrer Aggression
in das Chaos gestürzt und zu einer Rekrutierungsbasis des internationalen
Terrorismus gemacht. Ihre Kriegsziele waren verlogen oder wurden verfehlt,
die Profitziele einiger Rüstungs- und Baukonzerne ausgenommen.
Die Wirtschaft der USA und die Weltwirtschaft haben unermeßlichen
Schaden genommen. Den eigentlichen Preis, einen furchtbaren Preis,
haben jedoch die Irakerinnen und Iraker gezahlt und werden ihn weiter
zahlen müssen.


Es ist meine neunte Reise in den Irak seit 2003. Zu eigenen sicheren
Einschätzungen bin ich kaum in der Lage. Meine Gesprächspartner, Dutzende
sunnitische und schiitische, arabische und kurdische Stammesführer,
Vorsitzende von nationalen und regionalen Frauenorganisationen,
muslimische und christliche Geistliche, Vorsitzende kleinerer Parteien,
drei hochrangige, kritische und erstaunlich offene Regierungsmitarbeiter,
haben mich gebeten, Sprachrohr für sie zu sein. Das will ich gern, auch
wenn es nur ein Flüstern im Getöse sein wird.


Zurück fahre ich im gepanzerten Wagen einer privaten US-amerikanischen
Sicherheitsfirma. Auf der Ladefläche ist ein MG-Turm moniert.
Der Schütze winkt jeden LKW und jeden PKW, der vor uns fährt oder uns
entgegen kommt, von der Straße. Die stiernackigen, sonnenbebrillten
Mitesser der US-Aggression führen sich als die Herrenmenschen eines
Koloniallandes auf. Kein irakischer Fahrer, und es sind Hunderte in den
fünf Stunden, wagt es, ihnen nicht zu gehorchen. Obwohl mir andere Erfahrungen
Vorsicht bei diesem Superlativ gebieten: Ich bin in der schlechtesten,
peinlichsten Gesellschaft meines Lebens. Die Rückkehr aus diesem
Land fällt aber aus einem anderen Grund noch schwerer. Ich finde
keinen Grund, optimistisch zu sein.