Der Prozeß

Anfang Oktober begann vor dem Wojewodschaftsgericht in Warschau der
Prozeß gegen General Wojciech Jaruzelski. Er ist wegen des Ausnahmezustandes
angeklagt, den er als Ministerpräsident und Oberbefehlshaber
der Streitkräfte am 13. Dezember 1981 verhängt hatte. Zur Prozeßeröffnung
erklärte sich der Angeklagte als »nicht schuldig« und wies die Behauptung
des Vorsitzenden der PiS-Partei Jarosl⁄aw Kaczyn´ski, »GeneralJaruzelski und seine Genossen sind Volksverräter«, als ehrabschneidend
zurück. An den Anklagevertreter gewandt erklärte Jaruzelski: »Wenn der
Staatsanwalt die Ansicht vertritt, ich hätte eine organisierte Gruppe geleitet,
die verbrecherischen Charakters gewesen sei, so ist festzustellen,
daß die Handlungen durch Gesetz gedeckt waren und durch einen bedeutenden
Teil der Gesellschaft unterstützt worden sind.«


Die Anklageschrift entstand im Institut für Nationales Gedenken, einer
Einrichtung, in der Ermittlung, Anklage und Verurteilung aufs engste
miteinander verknüpft sind. In seiner vierstündigen Erwiderung erklärte Wojciech Jaruzelski unter
anderem, es habe zum Ausnahmezustand keine politische Alternative
gegeben. Deshalb, so der Angeklagte, sei die dramatische Entscheidung
für den Ausnahmezustand »zwar schlimm, aber das kleinere Übel«
gewesen. Die konfrontative Verwirklichung von Forderungen der Solidarnos
´c´ hätte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt, was den Einmarsch
von Truppen der Sowjetarmee, der NVA und der tschechoslowakischen
Volksarmee nach sich gezogen hätte.


Die Einmarschplanungen seien in der Bundesrepublik im Auftrag einer
Kommission des Bundestages Mitte der neunziger Jahre publiziert und
dem Sejm zur Kenntnis gebracht worden; die tschechischen Planungen
für den Einmarsch habe die Prager Zeitung Mlada Fronta Dnes im Dezember
2005 veröffentlicht. Unter anderem habe seit September 1981
der Staatssicherheitsdienst der C˘ SSR einige hundert Mitarbeiter mit polnischen
Sprachkenntnissen auf den Einsatz in Polen vorbereitet.


Besonders detailliert ging Jaruzelski auf die militärischen Absichten
der sowjetischen Führung ein. General Atschalow, vormals Stellvertreter
des Verteidigungsministers der UdSSR, zuvor Divisionskommandeur der
7. Garde-Luftlandedivision, habe 2006 bezeugt, 1980 den Befehl des damaligen
Generalstabschefs der Sowjetarmee, Marschall Nikolai Ogarkow,
sowie des Chefs der Luftlandetruppen der Sowjetarmee, Dimitrij Suchorukow,
erhalten zu haben, General Wojciech Jaruzelski im Falle eines
Einmarsches sowjetischer Truppen in Polen zu internieren. Weiterhin
hätte seine Division vor allem den Flughafen Oke˛ cie sowie den Sitz des
ZK der PVRP, den Sejm und die Nationalbank einzunehmen gehabt. Seine
Garde-Luftlandedivision habe sich im Laufe der großen Herbstmanöver
Zapad-81, die im September 1981 in Litauen und Belorußland stattfanden,
auf den Einsatz »im Hinterland des Gegners« vorbereitet; im September
2003 habe die litauische Zeitung Lietuvos Rytas das Manöver als
Generalprobe für den Einmarsch bezeichnet.


Das Operationsgebiet der Luftlande-Sturmbrigade unter Oberst Iwan
Katschugorny lag im Süden Polens: Deren Ziel war Krakau. Ende November/
Anfang Dezember war die Brigade kampfbereit. Das komplette Kartenmaterial für den Vorstoß auf Krakow lag bei den Stäben, auch Offiziere
mit Polnischkenntnissen waren der Brigade zugeteilt worden. Sie
sollte durch den Einmarsch des 237. Panzerregiments der 31. Panzerdivision
der Sowjetarmee unterstützt werden, die Anfang Dezember
1981, 25 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt gefechtsbereit war.
»Tou-ristengruppen« inspizierten laut Aussage des Stellvertretenden Regiments-
kommandeurs Wladimir Konowalow im Herbst 1981 systematisch
das künftige eventuelle Gefechtsfeld.


In der Nacht vom 1. zum 2. Dezember 1981 überschritt eine Gruppe
von Führungspanzern, auf einem von ihnen befand sich General Wladimir
Dudnik vom Militärbezirk Transkarpatien, die sowjetisch-polnische
Grenze mit dem Befehl, den grenznahen Raum aufzuklären. Der General
erklärte, an der abschließenden Ausfertigung der Einsatzbefehle für einen
Einmarsch der Verbände des Militärbezirks teilgenommen zu haben.
Der Vorstoß sollte unter dem Vorwand einer Übung, ähnlich wie 1968 gegen
die Tschechoslowakei, beginnen. Diese Aussage wurde von General
Viktor Dubynin, dem damaligen Chef der in Polen dislozierten Nordgruppe
der Sowjetarmee, bestätigt.


In Moskau fand vom 1. bis 4. Dezember 1981 eine Zusammenkunft der
Verteidigungsminister der Warschauer Paktstaaten statt. Sie kritisierten
scharf die Situation in Polen. Marschall Dimitri Ustinow, Verteidigungsminister
der UdSSR, erklärte dem polnischen Verteidigungsminister
Jaruzelski ungewöhnlich im Ton und unmißverständlich in der Aussage:
»Merken Sie sich, wir werden niemals zulassen, daß Volkspolen aus dem
Verteidigungssystem des Paktes herausgelöst wird, auch dessen Schwächung
werden wir nicht erlauben […]. Vergessen Sie nicht, daß wir unter
keinen Umständen eine Verletzung der Lebensinteressen unserer
Gemeinschaft zulassen werden.«


Mit ähnlicher Sorgfalt behandelte der Angeklagte die damalige innenpolitische
und die wirtschaftliche Lage Polens. Ein radikalisierter Teil der
Solidarnos´c´ habe vorgehabt, durch einen Generalstreik die Machtverhältnisse
grundlegend zu ändern. So habe beispielsweise die Solidarnos´c´ im
Raum Masowien am 8. Dezember erklärt, der angestrebte Generalstreik
ziele darauf ab, die politische Führung des Landes abzulösen. Zbigniew
Bujak hatte als Vorgehensweise vorgegeben: »Zur Verwirklichung der
Ziele ist ein mehrtägiger Generalstreik erforderlich. Nach dessen Beendigung
könnten beispielsweise die Rüstungsbetriebe weiterhin bestreikt
werden.« Zuvor hatten verantwortungsbewußtere Oppositionsführer wie
der spätere Sejmmarschall Wiesl⁄aw Chrzanowski und Jan Olszewski, einer
der engsten Berater von Lech Wal⁄e˛sa, vor den Konsequenzen dieser
konfrontativen Politik gewarnt, weil sie zum Bürgerkrieg und zum Einmarsch
sowjetischer Truppen führen werde. Auch Kardinal Stefan Wyszyn´ski warnte: »Ich erlaube mir zu behaupten, daß die Intervention fremder
Truppen – sowjetischer Panzer – möglich ist […] Auch in der jetzigen
Situation, in der sich das Volk befindet, muß alles vermieden werden,
was uns zu blutigen Auseinandersetzungen im inneren und zu einer Intervention
von außen führt.«


Eine Mitte Januar 1982 durch das, auch heute noch anerkannte Warschauer
Meinungsforschungsinstitut OBOP durchgeführte repräsentative
Umfrage ergab: 51 Prozent der Polen hielt die Entscheidung des Generals
für gerechtfertigt, 37 Prozent war dagegen. Wie immer auch in den
kommenden Monaten vor dem Wojewodschaftsgericht verhandelt werden
wird, das Urteil über den Ausnahmezustand und die zu ihm führenden
Gründe ist bereits seit langem von der Geschichte gefällt worden.