Wie sozialdokumentarische Fotografie lukrativ und schön scheitert

in (24.11.2008)
Der Begriff des Dokumentarischen impliziert, so er als ein selbst auferlegter Anspruch bei der Produktion visueller Artefakte in Erscheinung tritt, ein ethisches Moment. Er beinhaltet, wenn wir uns nicht in den Niederungen sogenannten Doku-Soaps bewegen wollen, die Forderung nach Einhaltung bestimmter Kriterien bei der Erarbeitung bildlicher Repräsentationen, die sich an Kategorien der Wahrhaftigkeit, der Genauigkeit, der Wirklichkeitsnähe, der Objektivität ausrichten. In jenen Bereichen, da die Dokumentation ausdrücklich auf gesellschaftliche Gruppen abzielt, tritt der ethischen Komponente ein dezidiert politisches Moment zur Seite, da hier das ausgewählte Material nicht nur zwangsläufig generalisierende Aussagen zu Individuen trifft, sondern ebenso das Medium selbst an der Konstruktion bestimmter Bevölkerungssegmente und deren öffentlichen Bild und damit auch an der gängigen, gesellschaftlich wirksamen Bewertung teilnimmt, dokumentarische Analyse und konstituierende Qualifizierung gleichsam Hand in Hand gehen.
Die sich aus diesen knappen Überlegungen ableitende Problematisierung des Dokumentierens eröffnet ein weites Fragenspektrum zur Legitimation, das sich im Bereich der sozialdokumentarischen Fotografie seit gut einem Jahrhundert um kritische Aspekte wie etwa Sozialvoyeurismus, Instrumentalisierung, Propaganda, Stigmatisierung, Denunzierung, Alibifunktion etc. formieren. Neben dem traditionellen ethisch-politischen Komplex werfen in letzter Zeit zudem verstärkt medientheoretische Konzeptionen die Frage nach Machbarkeit und Legitimität des Genres auf. Die auf Grund technischer Entwicklung zur Perfektion gelangte Manipulierbarkeit bildlicher Darstellung nagt ebenso am Fundament sozialdokumentarischer Bemühungen, wie deren Arbeiten in der Übersättigung des öffentlichen wie auch privaten Raumes mit bildlichen Botschaften und in der vielstimmigen, ubiquitären Geschwätzigkeit der Medienlandschaften unterzugehen drohen.
Nicht zuletzt führt der im Zuge von Neoliberalisierung und Ökonomisierung des Sozialen heute aktuelle gesellschaftspolitische Diskurs mit den ideologiegesättigten Schlagworten Selbstbestimmung, Risikobereitschaft, Eigenverantwortung, individuelle Leistung und Kreativitätspotential dazu, dass Darstellungen aus dem Unterklassenmilieu die Dargestellten tendenziell unter den Verdacht von Unflexibilität, Faulheit oder Querulanz stellen, mithin als gescheiterte Existenzen brandmarken. „Wer es an Initiative, Anpassungsfähigkeit, Dynamik, Mobilität und Flexibilität fehlen lässt, zeigt objektiv seine oder ihre Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein.“ (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 30)
Wo die Einzelnen primär nicht mehr als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen gesehen werden, eines sozialen Gebildes, dessen Ausgestaltung sich normativen Vorgaben der Solidarität, des Ausgleichs, der Gegenseitigkeit etc. verpflichtet fühlt, sondern die sich im Prozess des allgemein herrschenden Wettbewerbs herauskristallisierenden Verhältnisse als statistisch zu erfassende Norm den Einzelnen ihren vermeintlich objektiven Platz zuordnen, verliert die bildliche Dokumentation der „Gescheiterten“ jegliches auf Veränderung abzielendes Moment.
Was nunmehr im neoliberalen Kontext dokumentiert wird, ist dann das offensichtlich nicht zur „Selbstverwirklichung“ befähigte Individuum, dem es entsprechend an Wettbewerbsfähigkeit mangelt, womit Dokumentation im Sinne eines Beweismaterials nolens volens in Anklage und Schuldzuweisung umzuschlagen droht.
Die sich in Starkult und Medienrummel manifestierende Heroisierung des Individuums verfestigt auf ihrer Kehrseite eine Konzeption, wonach die ökonomisch prekäre Situation als je eigenes existenzielles Scheitern und nicht mehr als Resultat sozialer Verhältnisse anzusehen sei. Nicht mehr die gesellschaftlichen Strukturen gelten also als Ausgangspunkt von Verarmung und Verelendung, sondern die Unfähigkeit der Einzelnen zum „freien“ Unternehmertum. Unternehmerische Kompetenz wird zunehmend als neues Leitbild in die Neustrukturierung der Sozialsysteme integriert, firmiert dort etwa als sogenannte „Ich-AG“ und führt dazu, dass Ausmaß und Art der Sozialleistungen nicht mehr von der Grundfrage bestimmt ist: „Welche Versorgungsleistungen sollen als Garant einer humanen und würdigen Existenz und Teilhabe von einer solidarischen Gesellschaft für alle Mitglieder bereitgestellt werden?“ sondern von ökonomischen Parametern, die danach fragen, „was wir uns leisten können.
Indem politisch Verantwortliche aller couleur im Schulterschluss mit den Unternehmerverbänden, parallel zum Abbau der sozialen Sicherungssysteme, das Bild des auf umfassende Selbstverantwortlichkeit, aktive Zukunftssicherung und eigenständiges Risikomanagement verpflichteten Akteurs forcieren, etablieren sie ein gesellschaftliches Klima permanenter Verunsicherung. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder rief etwa in der Neujahrsansprache zum Jahre 2000 die Bürger und Bürgerinnen ganz im Sinne Margaret Thatchers dazu auf, „an der Schwelle zum 21. Jahrhundert die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen und mehr Verantwortung zu tragen.“[1]
Neu sich eröffnende Märkte werden von der anwachsenden „Risikoindustrie“ (Versicherungen, Überwachungstechnologien, Sicherheitsdienste, Vorsorgeverpflichtung) nicht nur profitabel bedient, es liegt geradezu im Interesse solcher politisch-wirtschaftlicher Komplexe, das Gefühl der umfassenden Bedrohung wach zu halten. Wenn Tony Blair angesichts vermeintlicher „terroristischer“ Gefahren Panzerfahrzeuge am Flughafen Heathrow auffahren lässt, so dient dies keineswegs der Gefahrenabwehr – wie sollte diese konkret aussehen? –, sondern hat strategisch die Schaffung eines gesellschaftlichen Klimas der Angst im Visier, in dem sich eine restriktive Politik umso leichter durchsetzen lässt. In solchem politischen Kontext, da das Schüren existenzieller Verunsicherung zum Motor gesellschaftlicher Entwicklung gerät, droht die Dokumentation der „Gescheiterten“ nicht mehr als Motivation für Veränderung zu agieren, sondern sowohl als Anklage, wie auch im Sinne eines warnenden Beispiels, den falschen Interessen in die Hände zu spielen. Und solche Bedeutungsverschiebung der bildlichen Artefakte von der Anklage sozialer Verhältnisse zur Dokumentation individuellen Versagens – und damit zum Instrument sozialer Differenzierung – geht einher mit jener, schon bei Walker Evans oder Richard Avedon zu erkennenden Transformierung sozialer Repräsentation in ein von rein ästhetischen Kriterien dominiertes Feld und damit (heute um so mehr) in einen ökonomisch bedeutsamen Medien-Kontext. (Vgl. Leicht 2006)
Zwei Beispiele fotografischer Serien mögen zeigen, wie die intendierte Dokumentation im Verwertungszusammenhang umschlägt in einträgliche Entblößung und Entlastung. Wenn in neuerer Zeit der Fotograf Boris Mikhailov seine drastischen Szenen aus dem russischen Obdachlosenmilieu bei Saatchi in London ausstellt, bedeutet dies keinesfalls, dass die Vernissage-Schickeria nunmehr ihr Herz für AlkoholikerInnen, Straßenkinder oder sonstige, dem Elend ausgesetzte Gruppen der Gesellschaft entdeckt hätte. Dies ist ebenso abwegig wie die Annahme, Benettons Werbekampagne mit Bildern des Leids erwüchsen einem humanitären Impuls.
Die fotografierten, jeglicher Scham entkleideten Protagonisten des Elends versorgen das trendige und finanziell potente Publikum bei Saatchi vielmehr mit dem nötigen Kick für die anschließenden Dinnerparties. Bekundungen der Betroffenheit über die verwahrlosten Gestalten, die der Zusammenbruch sozialer Sicherungssysteme mit der Einführung des kapitalistischen Systems an den Rand der Gesellschaft führte, sind billige Beigaben angesichts der obszönen Szenerie. Das Obszöne liegt jedoch nicht etwa in der Präsenz der entblößten Körper und Seelen, sondern in der skrupellosen und zynischen Vermarktung der Repräsentation von Elend und Verwahrlosung als provokantem Nervenkitzel und nicht zuletzt als Wertanlage.
Jenseits dieses Momentes der Ausbeutung von Darstellungen extremer existenzieller Situationen bedienen die Bilder Mikhailovs zudem genau jene Konzeption, nach der die sozial Gescheiterten als nicht integrationsfähige, da sich den Normen der Gesellschaft gänzlich verweigernde Individuen anzusehen seien. Indem die Fotos keine stille Beobachtung von elenden Lebenssituationen anbieten, sondern die gezeigten Personen sich zur Kamera hin offensiv verhalten, sich ostentativ entblößen, agieren sie als selbstständig handelnde, sich bewusst in diese Situation begebende, sich dem Verhaltenskodex und den allgemeinen Forderungen der Gemeinschaft dezidiert entziehende Individuen. Nicht Opfer eines politischen Wandels treten uns hier entgegen. Vielmehr inszenieren die Bilder den Typus provokanter Außenseiter, die eben nicht der Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber der Gesellschaft nachkommen.
Wie lässt sich, um ein zweites Beispiel heranzuziehen, Peter Gransers Vorgehen bei seinen Fotografien von an Alzheimer erkrankten Menschen einordnen? Der im Titel anklingenden dokumentarischen Intention stehen Aufnahmen mit einer hoch-artifiziellen Ästhetik gegenüber, welche ein nicht zu übersehendes professionelles Repertoire an gestalterischen Eingriffen aufweisen.
Die Bilder lassen sich grob in zwei Gruppen aufteilen, Nahaufnahmen einzelner Personen sowie Aufnahmen, welche die Protagonisten stärker in ein räumliches Ambiente einbinden. Bei ersteren, den Porträts, lässt die Bildregie systematisch die Bereiche ums Gesicht farblich ausbleichen. Die Konturen verwischen und gleichen sich dem milchigen Hintergrund an. Die Gesichter sind fein modelliert, die Schattierungen dezent, die Bilder erscheinen in ihrer Gesamtheit fast wie Pastelle. In der zweiten Kategorie sind die Abgebildeten in einen räumlichen Kontext gestellt, dessen zentrales Moment das gekonnte graphische Inbeziehungsetzen von farblich homogenen Flächen darstellt, aus denen sich markant Objekte bzw. Menschen hervorheben.
Gransers Eingriffe in die Bildgestaltung sind offensichtlich und tendieren zu einer Harmonisierung der Gegensätze und zu einer Reduzierung bildinterner Spannungen, hin zu einer formal delikaten und inhaltlich moderaten Bildaussage. Zwar lässt das Verschwinden des Hintergrunds und der direkten Umgebung das Gesicht uneingeschränkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten – man spricht dabei im beigegebenen Text von „atemberaubender Unmittelbarkeit“ und verwechselt räumliche Nähe mit inhaltlicher Brisanz –, was der Fotograf jedoch mittels dämpfender Licht- und Farbregie anbietet, ist nicht die Dramatik eines Antlitzes, die sich mit diesem Schritt der Fokussierung anzudeuten scheint, sondern die Verwirklichung eines visuellen Konzeptes der feinen und dezenten Künstlichkeit, die Granser auch in seinen früheren Amerika-Bildern praktiziert. Worauf wir in den Alzheimer-Fotografien schauen, ist nicht, wie uns die enthusiastischen Texte der Publikation im Einklang mit dem Tenor der Rezeption vermitteln wollen, eine jeweils sich entfaltende Lebensgeschichte, sondern eine sich im Artifiziellen verwirklichende, ästhetische Konzeption.
Betrachten wir jene Fotografien Gransers, welche stärker den räumlichen Kontext der an Alzheimer Erkrankten betonen, so tritt ein Aspekt hervor, der hier, intensiver noch als in den Porträts, ein Grundelement des gezeigten Milieus wie auch der medialen Vermittlung ausmacht: die Reinheit. Gepaart mit der sympathischen Helligkeit und Farbigkeit der Aufnahmen vermitteln die alles beherrschende Sauberkeit des Raumes, die frisch gestrichenen Wände, die penibel gereinigten Böden wie auch im Formalen das gekonnte Ausbalancieren der graphischen Strukturen eine meist positive Grundstimmung, welche die Bilder bisweilen zur Illustrierung von Werbe- und Informationsbroschüren prädestiniert. Das bedeutet, dass sie zumindest technisch perfekt sind, aber auch, dass sie formal wie auch inhaltlich einem Interesse zuarbeiten, welches sicher nicht mit der Forderung etwa nach einer realistischen Repräsentation der Lebensumstände oder einer lebenswirklichen Dokumentation kompatibel ist.
Peter Gransers Bilder der Alzheimer-PatientInnen scheitern als Dokumentation daran, dass sie ihr Sujet auf eine ihnen nicht gemäße Art ästhetisieren. Sie scheitern daran, dass gerade nicht die spezifische, wohl auch nach eigenem Selbstverständnis als desolat empfundene Situation der Protagonisten im Vordergrund steht, sondern das ästhetische Konzept des Fotografen. Die Bilder selbst sagen uns nichts zur Wirklichkeit einer Alzheimer-Erkrankung, es sind einfach Bilder älterer Menschen. Erst die plakative Hervorhebung des Begriffes im Titel versieht die Darstellungen mit jenem sensationsheischenden Moment existenzieller Brisanz, das Aufmerksamkeit erregt.
Die Bilder Gransers stehen nicht für das Leid der gezeigten Personen, sondern für das gestalterische Vermögen des Bildproduzenten. Die Gezeigten sind Material, nicht Thema. Auf was wir schauen, sind nicht, wie die Texte suggerieren wollen, Lebensgeschichten, sondern graphische Delikatessen. Die harte, leidvolle Realität des einzelnen Individuums ist keineswegs mit den Mitteln ästhetischer Verfeinerung zu fassen. Die überschwänglich lobende Kritik scheint mir eher ein Indiz dafür, dass die schönen und vor allem sauberen, von Kot und Schweiß gereinigten Bilder, eine umfassende Entlastung des Publikums anbieten.


Michael Leicht lebt und arbeitet als Maler und freier Autor in Freiburg i. B.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Winter 2008/2009, "Die Macht des Faktischen".


Literatur:
Ulrich Bröckling/ Susanne Krasmann/ Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2000 (Suhrkamp Verlag).

Peter Granser: Alzheimer, Heidelberg 2005 (Kehrer Verlag).

Michael Leicht: Wie Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte, Bielefeld 2006 (transcript Verlag)




[1] www.spiegel.de/politik/deutschland Schröder hat diesen neoliberalen Kernsatz bereits während seiner Kanzlerschaft, mit gutem Beispiel vorausgehend, tatkräftig umgesetzt, indem er als Lobbyist Putins den Boden für seine spätere einträgliche eigene Altersversorgung bei Gazprom bereitete.